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Áron Czopf: DAS KARSAMSTAGSKIND. ZUM TOD VON PAPST BENEDIKT XVI.

Am Karsamstag 1927 geboren und am nächsten Morgen mit dem Wasser getauft, das gerade geweiht worden war: So gingen die ersten Lebenstage des kürzlich verstorbenen Papstes Benedikt XVI., der nicht nur als Kirchenoberhaupt, sondern auch als Theologe und Denker eine Epoche prägte. Sein Geburtstag ist geradezu die Initiale seines Lebens und Denkens, denn der Karsamstag ist die Morgendämmerung der Auferstehung. Er enthält noch den Schmerz des Karfreitags, aber die Auferstehung ist bereits nah. Die Stille des Karsamstags ist die Stille des angehaltenen Atems. Sie ist zugleich „schon“ und „noch nicht“, die eschatologische Spannung selbst. In seinen Memoiren schreibt Ratzinger, dass er beim Nachdenken über diesen Tag zu dem Schluss kam, dass dieser Zwischenzeit eine grundlegende Bedeutung zukomme. Sie bedeute, „dem Wesen unseres menschlichen Lebens gemäß zu sein, das noch auf Ostern wartet, noch nicht im vollen Licht steht, aber doch vertrauensvoll darauf zugeht.“


Leben in der Hoffnung


Joseph Ratzinger war mehr als alles andere ein Theologe des „schon“ und des „noch nicht“. Selbst als Papst war er eine typisch karsamstägliche Figur, so still und zurückhaltend wie die Apostel in den Tagen, als nur sie von der Kreuzigung Jesu wussten. Aber selbst dieser Tag strahlte für ihn eine evangelische Gelassenheit aus. Ratzinger verkörperte ein geduldiges Warten, eine gespannte Aufmerksamkeit und eine Erinnerung daran, dass es etwas zu beachten gab, dass man auf jemanden warten musste. „Wer Hoffnung hat, lebt anders“, schrieb er in seiner Enzyklika Spe Salvi. Es war vielleicht der karsamstäglichste Satz, den er je zu Papier brachte. In seinen Worten kommt weder ein Positivismus zum Ausdruck, der Fakten beansprucht und inventarisiert, noch ein Vertrauen in die Vorsehung oder ein Gefühl für das eigene Ideal. Hoffnung ist etwas ganz anderes als Stolz. Die Hoffnung kommt dort ins Spiel, wo Fachwissen und individuelle Handlungsfähigkeit nicht mehr weiterhelfen. Sie entspringt Quellen, über die wir nie verfügt haben.


Die einsame Last der Vernunft


Vor diesem Hintergrund lohnt es sich die Frage zu stellen: Wer hat im 21. Jahrhundert noch Hoffnung? Bei der Antwort ist Vorsicht geboten, denn in der Frage geht es um Hoffnung, nicht um Hoffnungen – jeder kann Hoffnung haben, die in der Unbedeutsamkeit eines vagen Plurals wächst. Aber die wirkliche Hoffnung, „die“ einzigartige und grundlegende Hoffnung, die die Glühbirne der Existenz in ihre Fassung schraubt, hat nicht jeder. Diese Hoffnung kann nicht künstlich erzeugt werden. Am Ende des letzten Jahrhunderts waren alle großen Ideologien gescheitert und alle weltlichen Prinzipien der Hoffnung verpufft. So ist es verständlich, dass in der berühmten Habermas-Ratzinger-Debatte bereits die möglichen Lehren eines postsäkularen Zeitalters diskutiert wurden und sich die Anhänger des ungläubigen Lagers als überraschend entgegenkommend erwiesen. Die letzte große säkulare Erlösungstheorie, der Marxismus, ist längst ausgestorben. Blochs gottloser Exodus blieb in der Wüste stecken. Adorno schrieb, dass echte Gerechtigkeit ohne die Auferstehung des Körpers nicht möglich sei. Nach Sartre ist die Ideologie stehengeblieben, von da an müssen wir ohne sie weitergehen, wobei jeder von uns individuell die einsame Last der Vernunft trägt.


Einheit von Form und Geist


Joseph Ratzinger war also ein Zeitgenosse der Hoffnungslosen. Er war der Denker einer Epoche, die ihre „großen Erzählungen“ nacheinander in Frage stellte und in den aufeinanderfolgenden Versuchen einer liberalen Konsolidierung die „Diktatur des Relativismus“ installierte. Ratzinger sah Anzeichen dafür sowohl innerhalb als auch außerhalb der Kirche. Als Präfekt der Glaubenskongregation bemerkte er, wie der Relativismus sowohl inhaltlich als auch formal an Boden gewann. In dem Wissen, dass Kulturen scheitern, wenn sie Geist und Materie voneinander trennen, hat Ratzinger Europa einen großen Dienst erwiesen, indem er sich gegen die Entkörperlichung des Denkens aussprach und die Würde des Körpers hervorhob. Die christliche Hoffnung bedeutet auch, dass die Materie keine zweitrangige Realität ist, dass durch die Menschwerdung Christi, die Erlösung und die Auferstehung nach dem Tod auch der Körper in unmittelbarem Bezug zur Ewigkeit steht. Indem er dies betonte, war Ratzinger einer der eindringlichsten Verfechter der Einheit von Form und Geist, Leib und Seele in unserer Zeit.


Mitarbeiter der Wahrheit


Sein Glaube an die Einheit von Form und Inhalt veranlasste ihn auch als Papst zur Veröffentlichung seines apostolischen Schreibens Summorum Pontificum, das nach den Worten von Papst Pius X. darauf abzielte, dem Gebäude der Liturgie seine Integrität und Schönheit zurückzugeben. Von Jahrhundert zu Jahrhundert hat sich das Christentum gegen die Abstraktion des Glaubens und die Häresie der Formlosigkeit gewehrt, welche die Religion nicht nur ihrer Form, sondern auch ihres Inhalts beraubte. Das Volk des Logos ist keine bloße Diskursgemeinschaft, sonst würde es schnell das Schicksal der hoffnungslosen narrativen Atrophie ereilen. Der Logos, die fleischgewordene Wahrheit, ist kein gewöhnlicher Bestandteil der Sprache, der irgendwo im Überbau einen Platz einnehmen kann. Deshalb rief uns Papst Benedikt in seinem Leitwort auf, im praktischen Sinne Mitarbeiter der Wahrheit – cooperatores veritatis – zu werden. Im gleichen Sinne schrieb er in Bezug auf den menschgewordenen Logos in seinem Buch Der Geist der Liturgie, dass der Leib für die Auferstehung vorbereitet werden muss.


Festhalten an der Nummer Eins


Die Teilnahme am Werk der Wahrheit ist sowohl eine körperliche als auch eine geistige Verpflichtung. Diese Überzeugung hat das Leben des Theologen Joseph Ratzinger und des Kirchenoberhaupts Benedikt XVI. geprägt, der in seinem geistlichen Testament mit der Stimme des Sabbatkindes zu der Welt spricht: „[Ich] habe mit den wechselnden Generationen unerschütterlich scheinende Thesen zusammenbrechen sehen: die liberale Generation, die existenzialistische Generation und die marxistische Generation. Ich habe gesehen und sehe, wie aus dem Wirrwarr der Hypothesen immer wieder die Vernunft des Glaubens hervorgetreten ist und hervortritt". Dies ist die Botschaft des am 31. Dezember 2022 verstorbenen Papstes: Haltet fest an der Nummer Eins der Hoffnung und der Wahrheit: „Steht fest im Glauben!“


Über den Autor: Áron Czopf ist Ideenhistoriker, Politikwissenschaftler und Redakteur der ungarischsprachigen konservativen Zeitschrift Kommentár.


Titelbild von Rvin88, CC BY 3.0 via Wikimedia Commons


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