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Wolfgang Meins: WISSENSCHAFT VS. IDEOLOGIE – EIN BEISPIEL AUS DER GENETIK

Wie das Deutsche Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) auf Grundlage einer repräsentativen Befragung mitteilte, vertritt fast die Hälfte (49%) der hiesigen Bevölkerung die Ansicht, dass es menschliche „Rassen“ gibt – was das DeZIM als eine „rassistische Vorstellung“ geißelt. Die Forscher sind offensichtlich dermaßen fest von der Richtigkeit ihrer Position – menschliche Rassen existieren nicht – überzeugt, dass sich in dem immerhin gut 100 Seiten umfassenden Forschungsbericht nicht eine Literaturstelle zur Untermauerung oder Begründung der eigenen Position findet. Das Thema scheint demnach wissenschaftlich eindeutig zu sein. Aber trifft das tatsächlich zu?



Rätsel Mensch: Abtasten im Biologieunterricht der Blindenstudienanstalt Marburg/Lahn 1953. Bundesarchiv, B 145 Bild-F000487-0025 / CC-BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons



„Rasse“ ist zweifellos ein hässliches Wort, das nicht nur hart und schneidend klingt, sondern vor allem auch mit viel Leid und Unrecht verknüpft ist. „Race“, der korrespondierende US-amerikanische Begriff, klingt dagegen nicht nur sanfter, sondern hat auch eine deutlich andere Konnotation. Es geht mehr um die Selbst-Definition der Zugehörigkeit zu einer bestimmten „Race“, wie sie etwa im US-amerikanischen Zensus vorgegeben ist, z. B. White, Black, American Indian/Alaska Native, Chinese. Dass eine solche Selbstdefinition recht eng mit den typischen äußerlich erkennbaren Kennzeichen von z. B. Afroamerikanern oder US-Bürgern chinesischer Abstammung korreliert, sei hier nur am Rande angemerkt.


Ein Harvard-Professor in der Rolle des Advocatus Diaboli


Im Folgenden soll es um die wissenschaftlichen Kernargumente gehen, die für oder gegen die Annahme der Existenz von (genetisch unterscheidbaren) menschlichen „Rassen“ in Anspruch genommen werden. Die Rolle des Advocatus Diaboli in diesem Disput hat bereits vor einigen Jahren freiwillig David Reich, eine internationale Koryphäe auf dem Gebiet der Genetik und Professor an der Harvard Medical School, übernommen. Ohne Not, nur aus selbst auferlegter wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Verantwortung, hat er sich in dieses Minenfeld begeben und für die ja ebenfalls nicht für rassistische Umtriebe bekannte New York Times 2018 einen Meinungsbeitrag verfasst.


Dieser Artikel, der von seiner Aktualität nichts verloren hat, stieß seinerzeit überwiegend auf Zustimmung im Feuilleton von FAZ und NZZ, auf Ablehnung dagegen bei einem Autorenkollektiv der Uni Freiburg, das seine etwas diffuse Sicht der Dinge in der SZ ausbreitete. Dort kam die überwiegend aus Sozialwissenschaftlern bestehende Gruppe zu dem – angesichts der Argumentation von David Reich – doch etwas überraschenden Resümee: „Die Kommunikation über dieses Thema ist (…) nicht mit einem Dogma oder gar Tabu belegt“. Allerdings, und das wiederum sieht der Autor dieser Zeilen ganz ähnlich, sind „verständigungsorientierte Gespräche zum Thema gesellschaftliche Vielfalt und Genetik besonders schwierig zu führen“.


Die Jenaer Erklärung


Keine Erwähnung fanden die Überlegungen des Harvard-Wissenschaftlers dagegen in der ausgesprochen dezidierten „Anti-Rasse-Resolution“, die 2019 im Rahmen der Jahrestagung der Deutschen Zoologischen Gesellschaft als Jenaer Erklärung“ unter folgendem programmatischen Titel veröffentlicht wurde: „Das Konzept der Rasse ist das Ergebnis von Rassismus und nicht dessen Voraussetzung.“ Eingangs weisen die Autoren zu Recht auf die problematische Verknüpfung „der Idee der Existenz von Menschenrassen“ mit einer „Bewertung dieser vermeintlichen Rassen“ hin und der damit einhergehenden „Vorstellung der unterschiedlichen Wertigkeit“. Das ist und bleibt in der Tat ein bedeutsames und schwieriges Problem bei diesem Thema.


Die Einteilung der Menschen in Rassen, so heißt es in der Resolution weiter, habe dazu gedient, „offenen und latenten Rassismus mit angeblich natürlichen Gegebenheiten zu begründen und damit eine moralische Rechtfertigung zu schaffen“. So gäbe es beispielsweise auch „keinen wissenschaftlich nachgewiesenen Zusammenhang zwischen Intelligenz und geographischer Herkunft, aber einen deutlichen mit sozialer Herkunft“ – was allerdings allenfalls einer Halbwahrheit entspricht, dazu unten mehr. Der Begriff „Rasse“, so die abschließende Forderung, sollte bei Menschen nicht mehr verwendet werden.


Diese ganz überwiegend moralisch oder auch ethisch basierten Argumente werden biologisch im Wesentlichen folgendermaßen begründet: „Beim Menschen besteht der mit Abstand größte Teil der genetischen Unterschiede nicht zwischen geographischen Populationen, sondern innerhalb solcher Gruppen.“ Und: „Es gibt im menschlichen Genom (Anm.: Gesamtheit der Erbanlagen) unter den 3,2 Milliarden Basenpaaren keinen einzigen fixierten Unterschied, der zum Beispiel Afrikaner von Nicht-Afrikanern trennt. Somit gäbe es weder ein einziges Gen noch auch nur ein Basenpaar, welches „rassische“ Unterschiede begründe.


Überwiegend Zustimmung, vereinzelt Kritik


Diese Resolution kommentierten die allermeisten Medien seinerzeit äußerst wohlwollend, obwohl die beiden angeführten biologisch-genetischen Argumente für sich genommen zwar nicht ganz unzutreffend sind, aber in ihrer Bedeutung für die hier interessierende Frage massiv überdehnt werden. So wies einer der wenigen Kritiker seinerzeit auf eine bereits 2002 in Science publizierte Studie hin, in der 52 geographische Populationen untersucht wurden und in der Tat nur 3-5 Prozent der gesamten genetischen Vielfalt zwischen diesen auftraten. Aber das ist nur ein Teil der Ergebnisse.


Des Weiteren zeigte sich, dass an insgesamt 377 verschiedenen Gen-Orten innerhalb von Populationen gleicher Herkunft genetische Gemeinsamkeiten, sog. Cluster, auftraten, die sich deutlich von den DNA-Sequenzen an diesen Gen-Orten bei Menschen aus anderen Weltgegenden unterschieden. Schlussendlich konnte auf Grundlage dieser Ergebnisse für fünf Weltregionen jeweils ein typisches Cluster bestimmt werden, das mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit eine Zuordnung bzw. Trennung ermöglichte. Anders formuliert: Menschliche Populationen aus verschiedenen geographischen Regionen unterscheiden sich nicht durch ein Gen oder ein DNA-Basenpaar, sondern durch eine Vielzahl von miteinander korrelierenden DNA-Sequenzen, sog. Clustern, die insgesamt tatsächlich nur einen sehr kleinen Anteil der Gesamtheit des Erbguts ausmachen.


Von Kerzen und Kronleuchtern


Darauf, aber nicht nur darauf, verweist auch David Reich in seinem oben erwähnten New York Times-Beitrag mit dem Titel: „How Genetics Is Changing Our Understanding of Race“. Zur besseren Einordnung sei angemerkt, dass sich die wissenschaftliche Strahlkraft von Reich im Vergleich zu den eben gewürdigten Jenaer Zoologen ungefähr so verhält wie ein Kronleuchter zu einer Kerze. Wenn es in den letzten Jahren z. B. irgendwo auf dieser Erde darum ging, die Erbanlagen von ausgegrabenen Skeletten aus der frühen Zeit von Homo sapiens zu analysieren, um etwa geografische Herkunft und Wanderungsbewegungen zu rekonstruieren, war seine Arbeitsgruppe so gut wie immer wesentlich beteiligt. Darüber hinaus gelang es ihm auch, die genetische Ursache für die bei afroamerikanischen Männern 1,7fach höhere Häufigkeit des Prostatakarzinoms zu entdecken.


Reich verortet den Beginn des Verständnisses (in den USA) von Rasse als soziales Konzept ohne genetische Basis mit dem Erscheinen eines Buches des bekannten Anthropologen A. Montagu im Jahr 1942. Dreißig Jahre später seien dann genetische Forschungsergebnisse, namentlich von R. Lewontin, mit dieser Argumentation verknüpft worden, dass nämlich 85% der genetischen Variation innerhalb von Populationen oder „Rassen“ anzutreffen ist, aber nur 15% zwischen diesen. Also das Argument, das auch die Jenaer Zoologen bemühen, wenn sie auf die vergleichsweise geringen genetischen Unterschiede zwischen geographischen Populationen hinweisen.


Verkommen zur Orthodoxie


Allerdings, so Reich, habe diese Theorie sich mittlerweile zu einer Orthodoxie entwickelt, die nicht mehr mit neueren Forschungsergebnissen in Einklang zu bringen sei. Zumal zu dieser Orthodoxie mittlerweile auch die Angst gehöre, überhaupt noch nach irgendwelchen genetischen Unterschieden zwischen geografischen Populationen zu forschen, denn das könnte ja Wasser auf die Mühlen der Rassisten sein. Auch wenn er diese besorgte Zurückhaltung durchaus nachvollziehen könne, müsse er als Genetiker dennoch feststellen, dass es nicht länger möglich sei, die durchschnittlichen genetischen Unterschiede zwischen „races“ zu ignorieren.


Dank bahnbrechender Fortschritte des Faches sei es in den letzten beiden Jahrzehnten gelungen, nicht nur die genetische Grundlage von so etwas Simplem wie der Hautfarbe zu bestimmen, sondern auch von komplexeren Eigenschaften, wie etwa der unterschiedlichen Anfälligkeit für bestimmte Erkrankungen. So lange es um Krankheiten gehe, seien genetische Unterschiede zwischen geographischen Populationen für Viele kein grundsätzliches Problem – gerne würden sie hier eine rote Linie ziehen. In der Forschungspraxis allerdings sei diese Linie längst überschritten.


Zwei Beispiele


Reich führt dafür zwei Beispiele als Beleg an. Zunächst eine Studie an über 400.000 ganz überwiegend aus Europa stammenden Personen: „Die Forscher identifizierten 74 genetische Variationen, die in denjenigen Genen überrepräsentiert sind, von denen man weiß, dass sie für die neurologische Entwicklung wichtig sind. Jede von ihnen ist unbestreitbar häufiger bei Europäern mit mehr Bildungsjahren als bei Europäern mit weniger Bildungsjahren.“ In einer weiteren Studie sei es gelungen, mehr als 20 Gene zu identifizieren, die das Abschneiden in Intelligenztests oder die Anzahl der Schuljahre vorhersagen können.


Auch wenn soziale Faktoren ebenfalls eine Rolle spielten, so Reich weiter, sei es aus wissenschaftlicher Sicht so gut wie sicher, dass der genetische Einfluss auf solche und andere psychologische Eigenschaften für verschiedene geographische Populationen jeweils unterschiedlich ausfalle. Denn bei allen genetisch beeinflussten menschlichen Eigenschaften sei zu erwarten, dass dieser Einfluss von Population zu Population differiere, weil die Gen-Varianten in verschiedenen Populationen nur selten exakt identisch ausfallen würden. Hinzu komme, dass die Vorfahren der Ostasiaten, Europäer, Westafrikaner und Australier bis vor wenigen hundert Jahren für einen Zeitraum von mindestens 40.000 Jahren voneinander komplett isoliert waren. Ein Zeitraum, der – entgegen anderslautender Behauptungen – mehr als ausreichend dafür sei, dass die Kräfte der Evolution zum Tragen kommen.


Die Motive von David Reich


Personen, die die Möglichkeit von substantiellen biologischen Unterschieden zwischen verschiedenen menschlichen Populationen verneinen, würden sich gegenüber dem Fortschritt der Wissenschaft in eine letztlich nicht mehr verteidigungsfähige Position bringen. Was wäre nun eine angemessene Reaktion auf diese zu erwartende Entwicklung? David Reich schlägt eine durchaus naheliegende, aber – in Zeiten der Geschlechtervielfalt – doch eher problematisch erscheinende Lösung vor: Man solle die biologischen Unterschiede zwischen Mann und Frau zum Vorbild zu nehmen. Also die genetischen Unterschiede zwischen beiden Geschlechtern anerkennen und ungeachtet dieser Unterschiede beiden die selben Freiheiten und Möglichkeiten gewähren.


Was Reich vielleicht nicht ausreichend thematisiert und was seit 2018 noch einmal an Bedeutung zugelegt hat ist die einseitige Politisierung der Wissenschaften, ihrer Institutionen und Publikationsorgane. Dezidierte genetische Studien zu Intelligenz- oder Persönlichkeitsunterschieden zwischen bestimmten geografischen Populationen würden es derzeit extrem schwer haben, überhaupt finanziert und, falls doch, in einer wissenschaftlichen Zeitschrift veröffentlicht zu werden – von Problemen mit dem Arbeitgeber ganz zu schweigen. Auf der anderen Seite, bei den „Wohlmeinenden“ und Ideologen, wird zu beobachten sein, wie sie sich bei der hier interessierenden Frage mit immer höheren Mauern gegen eine zunehmende Bedrohung ihrer Deutungshoheit umgeben. Die eingangs erwähnte DeZIM-Studie und die „Jenaer Erklärung“ zeigen eindrücklich, wie solche Mauern aussehen.











Über den Autor: Wolfgang Meins, geb. 1950, studierte Psychologie und Medizin in Hamburg. Weiterbildung zum Arzt für Psychiatrie und Neurologie. Habilitation und Professor (apl.) an der Universität Hamburg. Nach leitender Tätigkeit in der Geriatrie Niederlassung in spezialisierter Privatpraxis. In den letzten Jahren, langsam ausklingend, ausschließlich als psychiatrischer Gutachter im Bereich des Zivilrechts tätig.


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