Ein Virus breitet sich in Europa aus. Es geht nicht um Covid-19: Das ist schon lange aus den Medien verschwunden. Nein, das Virus, das die braven Europäer heimsucht, ist eher der »Fanatismus«: In einer grotesken Horrorgalerie haben wir Fans der Ukraine, Fans von Russland, Fans der NATO, Fans des Westens, Fans von Putin usw. usf. Nach zwei Jahren von Pandemie und Gesundheitsterror haben alle verlernt, komplex zu denken. Jeder will nur die eigene Mannschaft anfeuern. Das kostet gar nichts: schnell und einfach, Prêt-à-porter im großen Supermarkt der westlichen Wertegemeinschaft.
Das war vorauszusehen. Seit fast achtzig Jahren sind die Europäer nicht mehr mit der Wirklichkeit und dem Ernst der Geschichte vertraut. Der Ernstfall, der Krieg, ist die Quintessenz der Geschichte. Der Titel der neuen Time-Ausgabe lautet plakativ: The Return of History.[1] Nach den Schlappen in Afghanistan und im Irak haben die US-Amerikaner anscheinend Francis Fukuyamas Traum vom Ende der Geschichte aufgegeben. Sind wir bereit, uns der Rückkehr der Geschichte zu stellen? Nach dem Verhalten der EU und der europäischen öffentlichen Meinung zu urteilen, kann die Antwort nur nein sein.
Der »großen Politik« entwöhnt, verfügen die Europäer nicht mehr über die richtigen Mittel, um die Wirklichkeit verstehen zu können. Das ist unvermeidlich, wenn dem politischen Realismus des Thukydides und seinem unsentimentalen Melierdialog die Predigten von Greta Thunberg und Oprah Winfrey vorgezogen werden. Den hilflosen, aber moralisch aufgerüsteten Europäern in ihrem dem Lebensernst entrückten Zonen bleibt nur dramatische Entrüstung: »Putin ist ein Diktator«, »ein Schurke«, die Ukrainer hingegen kämpfen für »unsere« Werte, für »den Frieden« und »für die Demokratie« (wenn man sie gerade nicht beschuldigt, »von Neonazis infiltriert« zu sein). Diese pathetischen Redensarten veranschaulichen eindringlich, dass wir die erste Lektion der Geschichte vergessen haben: Machtpolitik richtet sich nicht nach Werten und »Wünschbarkeiten«, wie Jacob Burckhardt sagte. Sie folgt der ragion di Stato, der Staatsräson. Die aufgeregten Phrasen sind propagandistische Rechtfertigungen für die Ahnungslosen, für das über Fernsehgeräte zuschauende Publikum.
Darüber wird aus den Augen verloren, dass beide kriegführende Staaten aus ihrer Sicht des Konfliktes berechtigte Gründe und Ansprüche geltend machen können. Die Ukraine behauptet, in ihrer Unabhängigkeit und Freiheit bedroht zu sein, während Russland eine Gefahr für seine Sicherheit und Souveränität in der Osterweiterung der NATO und in der Aufstellung von Raketen in unmittelbarer Nähe seiner Grenzen erkennt. Die unterschiedlichen Deutungen des Geschehens sind nicht weiter verwunderlich. Geopolitisch bzw. strategisch zu denken, bedeutet, sich um das Eigene zu kümmern.
Die Brüsseler Union hatte ebenfalls versucht, die Interessen der Europäer wahrzunehmen. Deutschland und Frankreich hatten der Ukraine abgeraten, der NATO beizutreten, und die US-Amerikaner gebeten, die harschen Sanktionen gegen Moskau ein wenig abzumildern – Sanktionen, die zunächst und vor allem Europa schaden. Darauf haben sich die USA nicht eingelassen. Sobald aber Washington die Stirn runzelt, müssen Berlin, Paris und Rom gehorchen. So geht es immer.
Die Vereinigten Staaten haben ihre Ziele schon erreicht. Sie haben Europa und Russland für lange Zeit voneinander getrennt und die Energieversorgung des Alten Kontinents zu ihrem Vorteil geregelt. Europa hat schon verloren. Seine Bürger werden eine beispiellose Wirtschaftskrise bewältigen müssen, und jede schüchterne Ambition auf Unabhängigkeit, wie sie etwa Macron hegte, wurde prompt im Keim erstickt. Bei ihrer Amtseinsetzung als EU-Kommissionspräsidentin hat Ursula von der Leyen pompös erklärt: »Europa muss die Sprache der Macht lernen.«[2] Macht schließt den Willen ein, opferbereit Entbehrungen auf sich zu nehmen, sogar den Tod für das Vaterland. Die Sprache der Macht wollen die von einer ökonomistischen Weltanschauung betäubten Europäer indes nicht mehr hören. Die Geschichte aber ist kein Gastmahl unter Freunden. Die Europäer sprechen nicht von sich. Sie beschwören »den Westen«, die atlantische Gemeinschaft als Stimme ihres Herrn. Europa ist im Wortsinn zum Abendland geworden. Zum Land des Untergangs, des ewigen Abends.
Ich möchte mich nicht mit einem so pessimistischen Bild beim Leser verabschieden. Auch in der tiefsten Nacht gibt es Anzeichen der Morgenröte. Sie ergeben sich nicht aus dem Kreislauf der Natur. In der Menschenwelt, in der vom Menschen gemachten Welt als Geschichte, kommt es auf Mut und den Willen an, auf virtù, wie Machiavelli gesagt hat. Wenn Europa frei und souverän als geschichtlicher Akteur handeln bzw. die Sprache der Macht lernen will, muss es sich als selbstbewusste Macht erweisen. Pessimismus der Vernunft, Optimismus des Willens: Das wäre ein guter (neuer) Anfang.
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VALERIO BENEDETTI, geb. 1986, studierte Altertumswissenschaften (Roma Tre) und wurde in Alter Geschichte (Frankfurt/Main und Innsbruck) mit Civilitas: Entstehung und Entwicklung eines politischen Begriffs promoviert. Er ist stellvertretender Chefredaktor der italienischen Online-Zeitung und Monatszeitschrift Il Primato Nazionale. Letzte Buchveröffentlichung: Sovranismo. La grande sfida del nostro tempo. Rom 2021.
[1] https://twitter.com/TIME/status/1497010566581346307 [2] https://www.tagesschau.de/ausland/von-der-leyen-rede-101.html
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