Je ausgetretener die Pfade und je starrer die Korsette der Berufs- und Alltagssprache scheinen, desto schillernder und unüberschaubarer lockt die Fülle an möglichen Bedeutungsverschiebungen, an bisher verschüttetem Sinngehalt und an phonetischem Erkundungspotential den Leser zur Lyrik. Über das Lesen und Schreiben von Gedichten - mithin über die Entführung und Wiederbelebung von Vokabeln aus dem Leichenschauhaus des Wörterbuchs - sinniert für TUMULT der Berliner Verleger Ulrich Puritz.
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„Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“, lässt uns Ludwig Wittgenstein wissen. (1) Nun, die Sprache eines Philosophen ist eine besondere. Sie (be-)deutet die Welt auf sehr eigene Weise. Im Alltag und in sonstigen Berufen bewegen sich Sprachgebrauch und ein damit einhergehendes Denken für die meisten von uns auf eingeschränkten Bahnen: Aussagen zu diesem und jenem – Arbeitsanleitungen – Verlaufsprotokolle – Kalkulationen – eine Prüfung – ein Referat – der Projektantrag – Jahres-, Wochen- und Stundenplan – E-Mails beantworten – eine SMS schreiben ... Beim Verfassen von solchen und vergleichbaren Texten geht es um klare und unmissverständliche Formulierungen. Gesellschaftlich verabredete Bedeutungen, wie sie das Wörterbuch festhält, haben ‚das Sagen’, eine rigorose Grammatik organisiert das Gefüge. Sprache und Denken laufen in definierten Mustern und Strukturen den Ereignissen voraus, diktieren das Geschehen, begleiten und kontrollieren es und werten im Nachhinein aus.
Es reicht nicht, den Stift intuitiv gleiten zu lassen und Farben ‚einfach so’ nach Gefühl zu verteilen. Schon ‚Kindergarten- und Grundschulkünstler’ sind gehalten, über nonverbales Tun sprachlich Auskunft zu geben („Was malst Du da?“) und Erklärungen dafür ‚aufzusagen’. „Meine Kunst ist klüger als ich“, einen solchen Satz können sich nur ganz große Künstler erlauben, ein Gerhard Richter beispielsweise. Würde ein Kunststudent im Examen es bei diesem Satz bewenden lassen, die Prüfer würden ihm das sehr verübeln. Kein Politiker, kein Techniker, kein Pädagoge, kein Beruf nirgendwo, der nicht zuvor wird festlegen müssen, was bei der Haushaltsplanung, was als Kosten, was bei den nächsten Arbeitsschritten oder bei einer Unterrichtsstunde herauskommen soll – um sich hernach an den selbstgesetzen Vorgaben messen zu lassen.
Eine instrumentelle Sprachpraxis ist zu einem allumfassenden Macht- und Kontrollfaktor geworden. Alles und Jedes hat sich ihrer Regie zu fügen. Nonverbale Praktiken können schnell verbale Bevormundung erfahren. Oftmals tun sich hierbei Sprach- und Sachwalter hervor, die derlei Praktiken lediglich aus Beobachtungen kennen und sich diesbezügliches Wissen angelesen haben. Die Globalisierung erhöht den Druck auf normative Entwicklungen. Verständlichkeit und Übersetzbarkeit stehen im Vordergrund, befördert durch den Wunsch nach Expansion von ökonomischen und politischen Interessen. Nicht zuletzt dienen künstliche Intelligenz und Sprachprogramme dieser Entwicklung. Hohlräume, Schlupflöcher und Untiefen, welche Sprachen in Bewegung halten und mit denen sie über sich selbst Auskunft geben, geraten ins Hintertreffen. Sie drohen unter die Betondecke weltweit vorangetriebener Sprach- und Denkautobahnen zu geraten.
Die Sprache selbst hält ein Gegenmittelt zu dieser Tendenz bereit: das Gedichtelesen und das Gedichteschreiben. „Hierbei wandelt sich Sprache zum Tast- und Suchinstrument. Bauteile und phonetische Qualitäten jeden Wortes werden ausgelotet. Verschüttete Assoziationshorizonte treten hervor. Spielerisch und experimentell werden Worte zu Klanggestalten verbunden. Verse und Strophen erfahren rhythmische Gliederungen. Diese ergänzen sich, treiben einander an und bilden Spannungsfelder. In diesen kann das Unsagbare wortlos ‚zur Sprache’ kommen.“ (2)
Wer sich – die Verlangsamung inneren Sprechens beim Schreiben nutzend – darauf einlässt, dem Klang eines Wortes nachzugehen, der kann für sich untergründige Wirkkräfte und Sinnmuster entdecken, mit denen ein Lyriker würde arbeiten können und die einem Leser neue Einsichten verschaffen. So hat sich beispielsweise das Verb ‚entfernen’ für mich aufgetan: Die Stimme versieht den Atem mit einem Grundklang rund um den Vokal e und lässt ihn in drei Wellen den Mundraum passieren: ent | fer | nen. Mit der letzten Silbe verklingen Stimme und Atem – ähnlich einer Welle, die am flachen Strand ausläuft und versiegt. Man kann gewissermaßen hören und körperlich fühlen, wie sich etwas entfernt und verschwindet.
Das Klanggeschehen bestätigt die Wortbedeutung. Zugleich treten Irritationen auf: Was beudetet Ferne? Was bedeutet es, sich oder etwas zu ent-fernen? Wie schafft es die Silbe ‚ent’ – sie steht dafür, etwas aufzulösen oder in sein Gegenteil zu verkehren –, einer ‚Ferne’ ein wie auch immer geartetes Ende zu bereiten? Wie lässt sich das Auflösen einer Ferne verstehen? Vielleicht so: Die Ferne, das ist jener Raum, der sich übersehen lässt und der schließlich eine Begrenzung findet – durch den Horizont z. B. Ent-fernen könnte bedeuten, dass dieser Raum überschritten wird, so dass derjenige oder dasjenige, was sich entfernen oder entfernt werden soll, den Wahrnehmungsraum mit der Bezeichnung ‚Ferne’ verlässt und sich – da nicht mehr zu sehen – schließlich ent-fernt hat.
Im Wörterbuch ist unweit dieses Verbs eines mit Ähnlichkeiten zu finden, dass mich – wie viele andere auch – auf sich aufmerksam gemacht hat: entfremden. Auch von ihm lässt sich mit Karl Kraus sagen: „Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück.“ Ein Geschehen, das sehr aufschlussreich sein kann. Wiederum handelt es sich um ein Wort mit Dreiertakt: ent | frem | den. Doch in der zweiten Silbe holpert der Atem bereits kurz nach dem hingefauchten und hingehauchten f über das r. Und kurz nachdem Atem und Stimme das ausklingende e über das m hinwegtragen konnten, stellt sich das d in den Weg und nötigt dazu, einen anders gearteten Ausklang zu nehmen.
Und wieder stellt sich die Frage: Wie schafft es die Vorsilbe ‚ent’, durch die Auflösung von Fremdheit den Vorgang des sich Entfremdens und eines Fremdwerdens zu charakterisieren? Eine Erklärung wäre: Entfremdung ist Folge einer zu großen Nähe. Es bedarf der Distanz, eines gewissen Maßes an Fremdheit, um bei sich zu sein und zu sich selbst zu finden. Wird das zur Selbstreflexion nötige Maß an Fremdheit unterschritten, stellt sich Ent-Fremdung ein. Vor diesem Hintergrund gewinnt auch der Brechtsche Verfremdungseffekt an Plausibilität. Die Steigerung von Fremdheit, das Heraustreten aus ‚eingefleischten’ Sichtweisen, die einen Über-Blick verstellen, ermöglicht Distanz als Voraussetzung, um sich unter den gegebenen Verhältnissen zu einem eigenständig urteilenden Wesen zu entwickeln und als solches tragfähige Beziehung einzugehen.
So oder ähnliche betreten Wörter durch aufmerksames Sprechen und Schreiben den Laufsteg einer Zeile, zeigen sich von allen Seiten und offenbaren Klang-, Bild- und Bedeutungsqualitäten. Der Autor Takasaki formuliert deshalb in einem seiner Haiku: „Wenn wir sprechen | in der Stille, im Dunkeln, sind | es nicht wir, es sind | die Worte, und wir hören zu.“ (3) Eine der Zuhörerinnen wurde so dazu angeregt, mit Gedichten aus ihrem Pädagogenalltag herauszutreten, um „Von | Traurigen Träumen | Wilden Wünschen | Alten Abgründen | Zarten Zaubereien ] Vagen Wegen | Taumelnden Taten“ zu berichten und auf diese Weise für sich und andere „Trampelpfade | ins | Ungereimte“ zu „zaubern“. (4)
Während der berufliche und alltägliche Umgang mit Sprache von festen, unmissverständlichen Bedeutungen getragen wird, werden in der poetischen Praxis eben diese ‚harten’ Bedeutungen aufgeweicht und aufgebrochen. Worte treten aus dem „Leichenschauhaus“ (5) des Wörterbuches heraus und werden lebendig. „Versucht das Gedicht, nicht in Bedeutungen zu sprechen, sondern in Ähnlichkeiten, in Echos und Gleichungen?“ (6) Kehrt so „das in den Bedeutungen Konzentrierte, das Eingesperrte, zurück, das Flüchtige?“, so lauten rhetorische Fragen des Autors Peter Waterhouse in der Auseinandersetzung mit Gedichten von Friederike Mayröcker. (7) „Bedeutungen [...] könnten wieder unbedeutend sein, nichts Feststehendes oder Festgehendes, Marschierendes sein, könnten anfänglich sein; nicht Bedeutungen, sondern Anfänge von Bedeutungen, Entstehungen; Entstehungen, wo die Bedeutungen vernichtend waren.“ (8)
Wäre all das nicht Grund genug, es selbst mit Gedichtelesen und Gedichtsschreiben zu versuchen und ebenso andere dazu anzuregen? Gerade weil – wie sich eine Buchhändlerin ausdrückte – „Gedichte nicht gehen“? Mit ihnen würde das geläufige Denken Umwege machen, Wagnisse eingehen, es hätte Irritationen zu meistern. Der Hochgeschwindigkeitsbetrieb auf den Denk- und Sprachautobahnen würde auf produktive Weise behindert werden. „Zum Wagnis des Denkens gehört der Verlust des Bodens, auf dem es sich bewegt.“ (9) So äußert sich der Philosoph Marcus Steinweg. Er plädiert für ein „Kritzeln und Krakeln“. Es geht ihm dabei „ums Zerreißen der vertrauten Sprache und um ihre Rekonstruktion. [...] Das kritzelnde Denken ist [...| ein Hervorbringen des Unbekannten im Akt des Schreibens.“ (10) Poetik in Wort, Bild, Klang und Bewegung hat in Zeiten der Globalisation, in der Ellbogenmentalität und Geschwindigkeit das Geschehen bestimmen, besondere Aufgaben: Sie verlangsamt das Denken und Sprechen und lotet darin verborgene Kraftfelder aus. Sie erforscht das Unbekannte, stellt dem Unvordenklichen Fallen und erprobt Möglichkeiten des Miteinanders all dessen, was seinem Wesen und Werden nach höchst Unterschiedlich ist.
(1) Anthony Kenny: The Wittgenstein Reader, Oxford 1994; deutsche Ausgabe: Ludwig Wittgenstein. Ein Reader, Ditzingen 1996, S. 36
(2) Ulrich Puritz, Marion Kußmaul, Leo Leupoldt und Christine Schmerse: „Die Zuhörerin zaubert Trampelpfade ins Ungereimt“, in Leo Leuploldt, Marion Kußmaul (Hg.): Sibylle Recke, Ohrenmuschelgewölbe, Berlin 2018, S. 49
(3) Takasaki: der blick der biss, Berlin 2016, S. 5
(4) Leo Leuploldt, Marion Kußmaul (Hg.): Sibylle Recke, Ohrenmuschelgewölbe, a. a. O., S. 10
(5) Peter Waterhouse: Der Fink. Einführung in das Federlesen, Berlin 2016, S. 67
(6) Peter Waterhouse: ebenda, S. 85
(7) Peter Waterhouse: ebenda, S. 74
(8) Peter Waterhouse: ebenda, S. 86
(9) Marcus Steinweg: Profexionen, Berlin 2019, Covertext hinten
(10) Marcus Steinweg: ebenda, S. 11
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