Der Nationalökonom Walter Eucken starb am 20. März 1950. Eine notwendige Erinnerung an klassische Ordnungspolitik zum 75. Todestag
Der Name des Ökonomen Walter Eucken (1891-1950) scheint heute außerhalb von Fachkreisen nur noch wenigen wirklich etwas zu sagen. Eucken gehört jedoch zu den wichtigsten Vertretern einer freiheitlichen und ordnungspolitischen Form der Wirtschaft, des Ordoliberalismus. Als in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg die Wirtschaft am Boden lag, setzte sich Eucken als Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Wirtschaftsverwaltung in der sogenannten Bizone (die amerikanisch und britisch besetzt war) entschieden für eine Währungsreform ein. Denn nur so war es möglich, „wieder richtige Preisrelationen“ zu bekommen. Mit solchen Preisen auf der Basis einer funktionierenden Währung könne dann auf die zentrale Lenkung der Wirtschaft verzichtet werden. Diese Position war nicht selbstverständlich, da auch die Besatzungsmächte keineswegs auf planwirtschaftliche Lenkung verzichten wollten und einer freien Wirtschaftspolitik widerstrebten – zumal die sogenannten „Berater“ auf allen Seiten die Preisfreigabe für einen großen Fehler hielten.

Walter Eucken studierte schon als Gymnasiast Adam Smiths klassisches Buch über den Reichtum der Nationen; seine Habilitationsschrift war methodisch noch der historischen Schule der Nationalökonomie verpflichtet und beschäftigte sich mit der Stickstoffversorgung der Welt. Aber Eucken sollte bald neue Wege beschreiten und die Nationalökonomie als Wissenschaft theoretischer Analyse im Gefolge David Ricardos betrachten. Gemeinsam mit jüngeren Kollegen versuchte er, dieser Denkweise im Fach nachhaltig Raum und Geltung zu verschaffen. Zunächst lehrte Eucken nach dem Ersten Weltkrieg in Berlin und Tübingen, bis er 1927 nach Freiburg berufen wurde. Dort wurde er zum freiheitlichen Gegenspieler des pro-nationalsozialistischen Philosophen Martin Heidegger und entwickelte, gemeinsam mit dem Juristen Franz Böhm, dem Schwiegersohn der Dichterin Ricarda Huch, die sogenannten „Freiburger Schule“ der Nationalökonomie.
Der Staat, so die These dieser Schule, habe den direkten Eingriff in die Wirtschaftsprozesse zu unterlassen. Seine Aufgabe bestehe vielmehr darin, den ordnungspolitischen Rahmen für das wirtschaftliche Handeln zu schaffen. Dieser Rahmen sollte in allgemeinen Regeln, „Spielregeln“, bestehen, um den wirtschaftlichen Wettbewerb zu ermöglichen und zu beleben. Keineswegs aber sollten einzelne Spieler privilegiert werden oder der konkrete „Spielverlauf“ selbst mitgestaltet werden. Der Versuch von wirtschaftlichen Sonderinteressen, sich Privilegien zu sichern, muss daher entschieden bekämpft werden. Denn Monopole und Kartelle stellen Formen wirtschaftlicher Machtausübung dar, die nicht im Interesse der Verbraucher sind. Sie ziehen im Gegenteil eine „neofeudale Autoritätsminderung des Staates“ nach sich. Eine solche Schwächung des Staates ist aber unbedingt zu vermeiden, denn der Staat muss die Macht haben, Sonderinteressen zu widerstehen, sie zu steuern und einzudämmen. Geschieht dies nicht, machen sich diese Sonderinteressen den Staat selbst zur Beute – wofür sich genügend Beispiele anführen ließen.
Aus seinen Analysen zog Eucken klare staatspolitische Schlussfolgerungen.
„Die Politik des Staates sollte darauf gerichtet sein, wirtschaftliche Machtgruppen aufzulösen oder ihre Funktion zu begrenzen.“ Das erfordert das Handeln einer „entschlossenen Staatsführung“, denn die Brechung der Macht solcher Gruppen ist immer dann besonders schwierig, wenn diese sich Privilegien verschaffen und entsprechend starke Positionen einnehmen konnten.
„Die wirtschaftspolitische Tätigkeit des Staates sollte auf die Gestaltung der Ordnungsformen der Wirtschaft gerichtet sein, nicht auf die Lenkung des Wirtschaftsprozesses.“ Hält der Staat sich nicht an diesen Grundsatz, so muss dafür ein Preis entrichtet werden, denn er lässt sich dann in den Kampf von Lobbyisten hineinziehen, die den Staat für ihre jeweiligen Zwecke einspannen möchten. Und die Interessenten werden dann, so wie es in den heutigen Staaten mit interventionistischer Wirtschaftspolitik vielfach zu beobachten ist, ihren angeblichen „Bedarf“ anmelden, dem der Staat doch bitte entsprechen solle.
Eucken wollte die Menschen zur Anerkennung von Sachgesetzlichkeiten bringen. Denn nur eine sachliche Orientierung kann in der Welt zu einer fundierten Ordnung führen. Und daher gilt auch: Ökonomisches Grundwissen ist für die Angehörigen eines Staates unabdingbar. Deshalb hat Eucken Wirtschaftswissenschaft nicht als Spezialdisziplin betrieben, die sich in Abstraktionen verliert. Aber er hat sie auch nicht so praktiziert, dass sie sich im Klein-Klein der Tagesprobleme verliert.
Entscheidend war für ihn die langfristige Wirkung ökonomischer Bildung. Die Menschen sollten anfangen, über die Wirklichkeit nachzudenken – und zwar ausgehend von den täglichen Lebensfragen und ihren eigenen Beobachtungen.
Eucken forderte daher, „bei der Diskussion wirtschaftspolitischer Fragen nicht gleich in eine Debatte mit 'weltanschaulicher' Färbung über 'Kapitalismus' und 'Sozialismus' einzutreten, sondern einen Moment still zu stehen und die Dinge in seiner Umwelt zu betrachten.“ Wiederum eine Warnung vor der vorschnellen Ausflucht in allgemeine Diskussionen und der Appell an den „gesunden Menschenverstand“, den die Menschen im Alltagsleben ständig benutzen. Warum sollten sie nun aber diesen Alltagsverstand aktiv auch für das Verständnis der Wirtschaft und der Wirtschaftspolitik nutzen? Euckens Antwort ist einfach: „In diesen alltäglichen Dingen werden wir auf die großen Probleme stoßen; nicht in den großen Worten.“ Eucken richtete sich damit nicht nur an seine Zunftgenossen aus der Ökonomie, die sich allzu oft mit höchst komplizierten Fragen beschäftigen, „während die wesentlichen konkreten Fragen nicht in ihrem Blickfeld liegen.“
Die von Eucken propagierte „Wendung zum alltäglichen Faktum“ ist der Grund, warum sein wirtschaftspolitischer Ansatz von dauerhafter Bedeutung ist und nicht vergessen werden sollte. Dies gilt umso mehr, je ideologischer – also von vorgefertigten fixen Meinungen ausgehend – wirtschaftspolitische Interventionen aus der Politik ausfallen. Viel wirtschaftspolitischer Unfug könnte vermieden werden, würde die „Wendung zum alltäglichen Faktum“ dem Missbrauch der Wirtschaftspolitik zu ideologischen Zwecken steuern. Für die nötige Aufklärung schuf Eucken mit seinem Buch Die Grundsätze der Wirtschaftspolitik (1952; letzte Auflage 2004) die nach wie vor gültige Grundlage.
Eucken erkannte klar, dass sich das wirtschaftswissenschaftliche und wirtschaftspolitische Denken der ordnungspolitischen Aufgabe nicht entziehen kann, weil sonst ganz andere Mächte das Sagen haben werden. Die Ordnungspolitik werde dann nämlich „an anarchische politische und wirtschaftliche Machtgruppen, an ihre Funktionäre und Ideologien“ ausgeliefert. Das aber muss unbedingt verhindert werden und begründet die Notwendigkeit eines Staates, der sich dagegen zur Wehr setzen kann, zur Beute von Interessengruppen zu werden. Diese Kritik Euckens ist nicht moralisierend gemeint. Er stellt nüchtern fest, wie eine Wirtschaftsordnung funktioniert oder nicht funktioniert. Und es geht darum zu erkennen, was eine an den Realitäten orientierte Wirtschaftsordnung leisten kann, nämlich eine Harmonisierung zwischen Einzel- und Gesamtinteresse – eine Harmonisierung, die Eucken nur der Ordnung als Ganzes zuschreibt. Das heißt: Ein solcher Ausgleich lässt sich nicht durch moralische Appelle an Einzelne – Eucken nennt hier das „Schelten gegen Eigennutz, kapitalistische Gewinnsucht“ und dergleichen – erreichen, sondern nur durch kluge Wirtschaftspolitik. Ein bloßes Hoffen auf das Wirken einer „unsichtbaren Hand“ im Sinne Adam Smiths, die schon für einen Ausgleich sorgen werde, genügt daher nicht.
Eucken bekämpfte entschieden den Mythos von der Zwangsläufigkeit einer Entwicklung, wie er nicht zuletzt vom klassischen Marxismus propagiert worden war. Das kann befreiend sein, weil sich erst dann, wenn man sich vom Gedanken der Zwangsläufigkeit oder Alternativlosigkeit einer Entwicklung distanziert, neue Handlungsoptionen finden lassen. Die Vorstellung von der Zwangsläufigkeit einer Entwicklung verneint die Freiheit des Menschen – was im übrigen schon darin angelegt ist, wenn man meint, von Akteuren namens „Menschheit“ oder „Gesellschaft“ sprechen zu müssen.
Der Staat, so Eucken, sei „zwar keine zureichende ordnende Potenz, aber er könnte es werden.“ Es sei nicht richtig, wenn man „den von Machtgruppen zersetzten Staat“ einfach als gegeben hinnehme und dann daran verzweifle, dass sich das wirtschaftspolitische Ordnungsproblem bewältigen lasse. Aber die Anstrengung, eine tragfähige Ordnung (wieder) herzustellen, ist beträchtlich, weil die politische und die wirtschaftliche Ordnung zusammengehören; nur beide zusammen bilden die benötigte Gesamtordnung, über die Eucken sagt: „Ohne eine Wettbewerbsordnung kann kein aktionsfähiger Staat entstehen und ohne einen aktionsfähigen Staat keine Wettbewerbsordnung.“
Anders als Hayek sieht Eucken soziale Gerechtigkeit nicht als bloße Schimäre, sondern als echtes Anliegen, dem Rechnung getragen werden muss. Weil Eucken nicht nur auf die Ökonomie blickt, sondern auf Staat und Gesellschaft als Ganzes, sieht er klar die Gefahren, die von einer einseitig ökonomischen Perspektive ausgehen. So hat sich historisch gezeigt, dass die Politik des Laissez-faire („Manchester-Liberalismus“) zu Wirtschaftsordnungen führte, die mit dem Rechtsstaat nicht vereinbar sind. Laissez-faire und Wettbewerbsordnung sind nach Eucken nicht dasselbe. Das Laissez-faire birgt nach Eucken sogar eine große Gefahr: Es würde nämlich „zu unerträglicher Vermachtung, monopolitischen, teilmonopolistischen oder oligopolistischen Marktformen“ führen, sowie zu „gleichgewichtslosen Märkten und sozialen Kämpfen“. Eben daraus aber ergäbe sich wiederum die Notwendigkeit von Staatseingriffen mit der Folge von „zentralverwaltungswirtschaftlichen Lenkungsmethoden“ – also genau das, was eigentlich verhindert werden muss.
Übergeordnete Bedeutung hat für Eucken der Rechtsstaat. So sei es im 19. Jahrhundert zwar gelungen, „den einzelnen gegen die Willkür des Staates zu schützen“. Aber etwas Anderes gelang dem Staat damals nicht: die Verhinderung von „Übergriffe(n) anderer Privater in die Freiheitssphäre des einzelnen“. Das stellte ein erhebliches Problem vor allem für die „soziale Frage“ dar. Sowohl der sozialen Sicherheit wie der sozialen Gerechtigkeit müsse als den großen Anliegen der Zeit größte Aufmerksamkeit geschenkt werden; auf die Lösung dieser sozialen Fragen, so Eucken, „müssen Denken und Handeln vor allem gerichtet sein.“
Für Eucken war die Freiheit der zentrale Gesichtspunkt auch der sozialen Frage, denn: „Ohne Freiheit der Person ist die soziale Frage nicht zu lösen.“ Freiheit ist aber immer bezogen auf Ordnung, weil es eine Freiheit jenseits der Ordnung im gesellschaftlichen Leben nicht geben kann. Es komme nun aber darauf an, der modernen industrialisierten Wirtschaft, hinter die wir heute nicht mehr zurück könnten, „eine funktionsfähige und menschenwürdige Ordnung zu geben.“ Die Wirtschaftsordnung als Ganzes muss im Blick bleiben, wenn Wirtschaft und Politik nachhaltig zu einem Ausgleich von Ordnung und Freiheit finden sollen. Die Menschenwürde bleibt die Leitidee, die mit anderen Zweckbestimmungen der Wirtschaftspolitik koordiniert werden muss. Macht ist im wirtschaftlichen und politischen Leben unvermeidlich, ebenso aber die Auseinandersetzung mit dem Machtproblem, die keiner Zeit erspart bleibe. Denn es gelte: „Besitz von Macht provoziert Willkürakte, gefährdet die Freiheit anderer Menschen, zerstört gewachsene und gute Ordnungen.“
Das praktische Problem besteht darin, die Gefahr der Macht ebenso zu berücksichtigen wie ihre Unentbehrlichkeit. Eine Politik der Wettbewerbsordnung zielt darauf, wirtschaftliche Macht dadurch zu verringern, dass sie aufgespalten, also dekonzentriert, wird. In einer Zeit der hemmungslosen Opferung aller ordnungspolitischen Vernunft erscheint die Erinnerung an Walter Euckens nötiger denn je...
*
Über den Autor: Till Kinzel ist habilitierter Literatur- und Kulturwissenschaftler. Er hat u.a. Bücher zu Allan Bloom, Nicolás Gómez Dávila, Philip Roth und Michael Oakeshott und Johann Georg Hamann publiziert. In TUMULT hat er über Panajotis Kondylis geschrieben (und im Blog über Ricarda Huch und Wyndham Lewis).
Titel-/Beitragsbild im Original: Walter Eucken Institut, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons
Hier können Sie TUMULT abonnieren.
Für Einzelbestellungen klicken Sie bitte hier.