Joachim Ritter, gestorben am 3. August 1974, war einer der bedeutendsten Denker in der Philosophiegeschichte der alten Bundesrepublik Deutschland. Zwar hinterließ er kein eigentliches opus magnum, denn sein manchmal als solcher geltender Band Metaphysik und Politik versammelt lediglich Aufsätze, ist also kein Werk aus einem Guß. Aber das ist eine Äußerlichkeit, die seine faktische Wirksamkeit nicht annähernd angemessen widerspiegelt. Verstanden sich doch wichtige deutsche Philosophen als seine Schüler und wurden auch als solche wahrgenommen. So kann man mit einem gewissen Recht von einer Ritter-Schule sprechen, die nach dem Nationalsozialismus einen wichtigen Beitrag zur Begründung einer modernen Form von Bürgerlichkeit durch Wiederaufnahme der Tradition praktischer Philosophie leistete.
Dazu kam die maßgebliche Rolle, die Ritter bei der Konzeption und Herausgabe des Historischen Wörterbuchs der Philosophie spielte und zu dem er so zentrale Einträge wie zur „Ästhetik“ und zum „Fortschritt“ beisteuerte. Ritters subtile Analyse von Hegels Deutung der bürgerlichen Gesellschaft am Leitfaden der „Entzweiung“ als einer Grundstruktur der modernen Gesellschaft zeigt, wie sich Ritter in ein differenziertes Verhältnis zu dieser setzt. Er versuchte also die Moderne zu verstehen, indem er einen ertragreichen Gedanken Hegels aufgriff: Entzweiung sei zu verstehen als das Ineinander von Herkunft und Zukunft, von Kontinuität und Diskontinuität in der europäischen Geschichte, an der wir als moderne Menschen notwendig herumlaborieren müssen. Denn es gibt nicht das eine oder das andere, sondern nur beides in einer genauer zu erfassenden Verschlingung und Verschränkung. Ritter sieht dabei – anders als Fortschrittsenthusiasten und Utopisten – sehr scharf Kosten und Gewinn der Entzweiung von Herkunft und Zukunft in der bürgerlichen Gesellschaft. Zugleich aber sah er keine Möglichkeit, aus dieser Entzweiung prinzipiell herauszukommen, würde doch damit ein Grundprinzip der bürgerlichen Gesellschaft eliminiert. Denn Entzweiung ist zugleich mit Freiheit verbunden.
Auf einen Einwand seines Münsteraner Kollegen Josef Piepers hin präzisierte Ritter, die Freiheit hänge davon ab, „dass die Individuen selber die geschichtlichen Ordnungen wahren, dass sie die Freiheit, die die Gesellschaft freigibt und der sittliche Staat sichert, mit substantiellem Leben erfüllen“ müßten, denn ohne die sittlichen Ordnungen müßte die Freiheit schließlich leer werden. Aber was können in der heutigen Welt solche sittlichen Ordnungen sein? Diese Frage scheint jenseits wohlfeiler Phrasen über demokratischen Zusammenhalt und ähnliche Sachen mehr denn je ungeklärt zu sein, weil selbst anthropologische Grundtatsachen, die das menschliche Leben seit Alters her bestimmten, inzwischen zur Disposition zu stehen scheinen.
Diese Deutungen Ritters zur bürgerlichen Gesellschaft verdienen auch heute noch eine sorgfältige Re-Lektüre. Aber wer hat dafür schon noch die Zeit? Wer entzieht sich in hinreichendem Maße dem Sog des Digitalen, um wenigstens im Kleinen den Sprung vom Rücken des Tigers zu wagen? So droht in einer Welt des immer eiliger werdenden Fortschreitens und der grundlegenden Transformation aller bisher für gültig gehaltenen Vorstellungen von Natur jeder Moment der aufhaltenden Reflexion zur bloßen Störung zu werden. Und zwar zu einer Störung der diesmal endgültigen Befreiung des Menschen aus seiner Herkunft zugunsten einer jederzeitig möglichen Umentscheidung noch über Kernfragen der Identität.
Woher aber stammte Ritters Bewußtsein für das Ineinander von Herkunft und Zukunft? Noch bei Cassirer schrieb Ritter Studien zur Docta ignorantia des Nikolaus von Cusa (Dissertation) und zur Aufnahme neuplatonischer Ontologie bei Augustinus (Habilitation), die schon seine tiefe Vertrautheit mit der abendländischen Überlieferung erkennen lassen. Eine zeitlang arbeitete er auch eng mit Heinz Heimsoeth zusammen, der sich seinerseits in einem philosophischen Longseller mit den Sechs großen Themen der abendländischen Metaphysik beschäftigt hatte. Metaphysische Fragen blieben so auch bei der Orientierung auf die praktische Philosophie im Gefolge des Aristoteles und Hegels präsent. Später, als Hochschullehrer in Münster, entfaltete Ritter eine rege Lehrtätigkeit, unterbrochen von einem längeren Türkeiaufenthalt Mitte der fünfziger Jahre, wo zuvor schon Heimsoeth gelehrt hatte. Dieser Aufenthalt im Orient regte Ritter zu tiefgründigen Reflexionen über „Europäisierung als europäisches Problem“ an. Der Aufsatz dieses Titels, der die Europäisierung in ihrer ganzen Ambivalenz erfaßt, müßte heute Pflichtlektüre aller Europäer sein – jedenfalls soweit diese im Denken sich orientieren wollen, was es mit Europa im geistigen Sinne auf sich hat und wie sich die Gestalt und Idee Europas unter dem Eindruck der Modernisierung – inzwischen vielleicht auch der Postmodernisierung – verwandelt.
Ritters Denken erfuhr vielfache Spiegelungen in den Denkbewegungen seiner Schüler, die bestimmte Motive ihres Lehrers aufnahmen und weiterführten, verwandelten oder anders akzentuierten. Hier sind Namen zu nennen wie Hermann Lübbe, Odo Marquard und Robert Spaemann, nicht zu vergessen aber auch Günter Rohrmoser, Reinhart K. Maurer und Bernard Willms. Während Lübbe als Modernitätsdiagnostiker mit einer eingebauten Wortverschrau- bungsmaschine reüssierte, zelebrierte Marquard als „Transzendentalbelletrist“ seinen Abschied vom Prinzipiellen; Spaemann dagegen stellte sich dezidiert in einen katholisch geprägten Denkraum und entfaltete klare moralphilosophische Standpunkte zu Fragen der Atomkraft ebenso wie der Erziehung oder des Naturrechts. Die Skepsis gegenüber dem in der Moderne grassierenden Utopismus fand hier neue Nahrung. Rohrmoser und Maurer nahmen die Reflexionen Hegels zum Ende der Geschichte auf, nutzten die Auseinandersetzung mit Nietzsche zur scharfsichtigen Analyse der Gegenwart und brachten zudem eine „konservative“ Perspektive auf die ökologische Frage zur Sprache. Willms seinerseits betonte, beeinflußt auch von Denkern wie Hobbes und Schmitt, die fortdauernde Relevanz der politischen Philosophie des deutschen Idealismus und die Rolle der Nation für die politische Existenz unserer Zeit. Zu all diesen Themen finden sich bei diesen Ritter-Schülern Anknüpfungspunkte, die nicht vergessen werden dürfen. Denn in Gestalt dieser Anknüpfer an Ritters Denken erstand ein Gegengewicht zu der in der Philosophiegeschichte der deutschen Nachkriegsjahrzehnte fast übermächtigen Rolle der Frankfurter Schule und insbesondere von Jürgen Habermas. Während aber Habermas noch eine prononciert kritisch-ablehnende Haltung gegenüber Ritter und seinen Schülern zur Schau trug – er sprach u.a. mit Blick auf Denker wie Maurer und Rohrmoser abschätzig von den Gebildeten unter den Verächtern der Demokratie (!) –, ist heute deutlich genug erkennbar, daß von den Frankfurtern längst keine kritischen Impulse und keine Beunruhigung im Denken mehr ausgehen. Es gibt jedoch heute kaum etwas Dringenderes als beunruhigendes Denken, wenn man bedenkt, wie sehr die heutige Philosophie sich zu einer Mainstream-Denkmaschine hat machen lassen.
Gerade weil Ritters Stimme keine Lautsprecherstimme war, ist er für unsere Gegenwart ein vorbildlicher Denker – denn er ist ein Denker, der mit seinen Analysen dazu anregt, die Spannung von Herkunft und Zukunft gründlich zu reflektieren. Gründliche Reflexion ist aber das Gegenteil der in der heutigen Cancel Culture um sich greifenden Selbstdistanzierung von allen Überlieferungen, die sich dem Syndrom eines abendländischen Selbsthasses mit angeschlossenem Schuldkomplex verdankt. Die Suche nach einer anspruchsvollen Theorie der bürgerlichen Gesellschaft führt in andere Gefilde als in das, was heutzutage von interessierter Seite mit propagandistischer Raffinesse als „Zivilgesellschaft“ feilgeboten wird. Philosophie, die sich dessen bewußt ist, wird auch künftig in der Lage sein, die Unvermeidlichkeit der Entzweiung produktiv zu wenden und die Anerkennung dessen, was ist, zu verbinden mit einer Entscheidung für Freiheit an Stelle von selbst- und fremdverursachter Unmündigkeit.
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Über den Autor: Till Kinzel ist habilitierter Literatur- und Kulturwissenschaftler. Er hat u.a. Bücher zu Allan Bloom, Nicolás Gómez Dávila, Philip Roth und Michael Oakeshott und Johann Georg Hamann publiziert. In TUMULT hat er über Panajotis Kondylis geschrieben (und im Blog über Ricarda Huch und Wyndham Lewis).
Titel-/Beitragsbild: Metafisica von Silvano Palazzese, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons
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