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Till Kinzel: GEORGE ORWELL NEU GELESEN MIT ROBERT HABECK

1984 : Roman / George Orwell. - Lutz-W. Wolff. - Vorwort von Robert Habeck. - München : dtv, 2021.


1984 / George Orwell.- Übersetzt von Gisbert Haefs. Nachwort von Mirko Bonné - Manesse.




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Es steht außer Zweifel, daß George Orwells anti-utopischer bzw. dystopischer Roman 1984 zu den großen Werken der Literatur des 20. Jahrhunderts gehört, nicht nur der englischen. Selbst wer den Roman nicht gelesen hat, weiß in der Regel etwas darüber, ist doch Einiges aus dem Roman in kulturellen Kanon eingegangen, wie etwa die Rede vom „Großen Bruder“, von den „Haß-Minuten“ oder der „Neusprache“ sowie der Umcodierung von Begriffen und logischen Relationen à la „Krieg ist Frieden“, „Unwissenheit ist Stärke“ oder „Sklaverei ist Freiheit“.


Das Bild einer totalitären Macht von unheimlichem Dimensionen, die Krieg nach außen führt, Terror nach innen ausübt und auch die Vergangenheit oder wahre Aussagen je nach politischen Notwendigkeiten manipuliert, hat sich so nachhaltig in das kulturelle Gedächtnis eingeschrieben, daß auch „Orwell“ zu einem Codewort geworden ist, das wie „Kafka“ oft als Kurzform bestimmte Einschätzungen und Werturteile vermitteln soll.


Daß ein Klassiker nach vielen Jahrzehnten neu übersetzt vorgelegt wird, ist grundsätzlich zu begrüßen – denn auch Übersetzungsvorstellungen wandeln sich. Die von dtv publizierte Übersetzung von Lutz-W. Wolff bietet einen solchen gelungenen Versuch, sich mit dem nun schon mehr als ein halbes Jahrhundert alten Text erneut auseinanderzusetzen. Auch die Version von Gisbert Haefs im Manesse-Verlag ist ebenfalls lesenswert – ebenso wie die neuen Übersetzungen von Orwells Fabel Farm der Tiere in denselben Verlagen. Einige Beispiel für Abweichungen in der Art und Weise, wie Orwells Sprache ins heutige Deutsch übertragen wurde, seien aber hier genannt, um potentiellen Lesern vielleicht eine Entscheidungshilfe zu geben, wenn sie den Text nur einmal und nur in Übersetzung lesen möchten.


Schon der Eingangssatz des Romans unterscheidet sich deutlich. Wolff schreibt: „Es war ein heller, kalter Apriltag. Die Uhren schlugen dreizehnmal.“ Bei Haefs liest sich das so, wie es auch der Syntax im Original entspricht: „Es war ein klarer, kalter Tag im April, und die Uhren schlugen dreizehn.“ Eine ältere verbreitete Übersetzung von Kurt Wagenseil (Ullstein-Taschenbuch) fügte sogar noch den darauf folgenden Satz mit dem Anfangssatz zu einem einzigen ersten Satz zusammen: „Es war ein klarer, kalter Tag im April, und die Uhren schlugen gerade dreizehn, als Winston Smith, das Kinn auf die Brust gepreßt, um dem rauhen Wind zu entgehen, rasch durch die Glastüren eines der Häuser des Victory-Blocks schlüpfte, wenn auch nicht rasch genug, als daß nicht zugleich mit ihm ein Wirbel griesigen Staubs eingedrungen wäre.“ Das ist schon erstaunlich. Die beiden hier besprochenen Neuübersetzungen sind dem zweifellos vorzuziehen. Und dem Rezensenten leuchtet es gerade in diesem Fall nicht ein, weshalb man hier überhaupt von der Syntax Orwells abweichen sollte, wie es Wolff z.B. an dieser Stelle gleich am Anfang macht. Anders als etwa bei Walter Scott, wo es ja durchaus denkbar ist, daß man für eine vernünftige Lösung einen überlangen Satz teilen muß, um ihn im Deutschen nachvollziehbar wiederzugeben, ist das hier bei Orwell unnötig.


Das Plakat in Winstons Wohnhaus ist einmal farbig (Wolff), einmal bunt (Haefs); im Englischen steht coloured. Wolff schreibt: „Es zeigte ein massiges, über einen Meter breites Gesicht: das Gesicht eines Mannes von ungefähr fünfundvierzig mit einem schwarzen Schnurrbart und angenehm kräftigen Zügen.“ Haefs formuliert folgendermaßen: „Es zeigte nichts als ein riesiges Gesicht, über einen Meter breit: das Gesicht eines etwa fünfundvierzigjährigen Mannes, mit dichtem schwarzem Schnurrbart und markigen, ansehnlichen Zügen.“ Die letzte Phrase lautet im Englischen: „ruggedly handsome features“. Und während Wolff die „Bildunterschrift“ (engl. caption) schlicht unübersetzt mit „BIG BROTHER IS WATCHING YOU“ wiedergibt, „stand darunter“ bei Haefs „DER GROSSE BRUDER BEOBACHTET DICH“.


Wolff nutzt ansonsten etwa die in der heutigen Werbesprache häufiger verwendete Schreibung NeuSprech mit Großschreibung mitten im Wort, führt also eine Eigenheit ein, die bei Orwell nicht zu finden ist, womit wohl das Neue des Neusprech unterstrichen werden soll, während Haefs das m. E. völlig ausreichende Neusprech gebraucht. Aber das ist sicher eine Geschmacksfrage. Für das Orwellsche Neusprech-Wort duckspeak, das ein unbewußtes Nachplappern bezeichnet, sagt Haefs Entensprech, während Wolff sich für QuackSprech entscheidet. Witzigerweise erklärt aber die Romanfigur Syme, die von dem Wort berichtet, bei Wolff, das Wort bedeutet „Schnattern wie eine Ente“ (S. 80), während bei Haefs von wie eine Ente quaken die Rede ist (S. 75). Man könnte noch weitere Beispiele anführen, die sehr schön zeigen, wie unterschiedlich, aber auch oft wie ähnlich im Einzelnen die beiden Übersetzungen ausfallen.


Keine Frage: Orwells Roman ist nach wie vor eine äußerst faszinierende Lektüre, die auch von neuen Lesergenerationen zu entdecken sein wird. Die neue Übersetzung von Lutz-W. Wolff kann dabei gute Dienste leisten. Außerdem ist das Buch in dieser Fassung noch aus einem anderen Grund des besonderen Interesses wert. Denn der Verlag hat in einem genialen Coup den Ko-Parteivorsitzenden der Grünen, Robert Habeck, dazu bringen können, in einem Buch, das als massivste Kritik einer ideologisch motivierten Neusprache bzw. des Neusprech konzipiert war, ein Paradebeispiel für solche ideologische Sprache als Anschauungsobjekt zur Verfügung zu stellen.


Habeck gelingt es in seinem 12 Seiten umfassenden Vorwort, die Aktualität von Orwells Totalitarismuskritik zu behaupten, indem er gleich zu Beginn behauptet, Orwell sei „der“ Analytiker des Totalitarismus (S. 5). Das trifft natürlich so nicht ohne weiteres zu, denn Orwell gestaltete eine mögliche Form des Totalitarismus literarisch, war aber nicht sein wichtigster Analytiker, da in der von ihm geschilderten, satirisch überzeichneten Welt ganze Bereiche einer totalitären Gesellschaft ausgeblendet bleiben mußten. Auch hatte Orwell gar nicht primär analytische Intentionen in diesem Zusammenhang, sondern letztlich war der antitotalitäre Kampf Orwells, wie der belgische Essayist Simon Leys in Orwell ou l'horreur de la politique konstatiert hat, nur das Korollarium seiner sozialistischen Überzeugungen, da Orwell noch geglaubt hatte, nur die Niederlage des Totalitarismus könne den Sieg des Sozialismus garantieren. (Erst später gelangten ehemalige Marxisten wie Leszek Kolakowski zu der Einsicht, daß es sich aus systematischen Gründen bei einem nicht-totalitären Sozialismus um geröstete Schneebälle handelte.) Aus dieser Konstellation ergeben sich auch Schwächen in Orwells Sichtweise, was aber hier auf sich beruhen mag.


Wer an analytischer Literatur zum Thema interessiert ist, wäre besser beraten, griffe er zu einschlägigen politikwissenschaftlichen Publikationen. Nun behauptet Habeck zwar, es finde sich bei Orwell eine „messerscharf durchgeführte (...) Analyse, wie Sprache manipuliert werden kann“ (S. 10), doch gelingt es ihm selbst gerade nicht, diese Einsicht in überzeugender Weise auf das „Sprachregime“ der Gegenwart zu beziehen (statt auf marginale Einzelfälle) und somit in weiterführender Weise fruchtbar zu machen.


Es ist so auch bezeichnend, daß Habeck mit keinem einzigen Wort auf den massivsten zeitgenössischen Versuch der Etablierung eines Neusprech eingeht, die auch von seinen politischen Gesinnungsgenossinnen bzw. -genossInnen bzw. -genoss*innen bzw. -genoss:innen stark propagiert und praktiziert wird: die Gendersprache. Dabei ist es ja nicht zuletzt diese sich inzwischen in alle Lebensbereiche ausbreitende geisttötende Sprache, die sich mit ihren medial vermittelten Knacklauten eine eigene „Prägnanz“ und Signifikanz schafft. Das Gender-Sprachregime dient zudem keineswegs der sprachlichen Klarheit, sondern verschärft sprachpolitische Machtambitionen, die es erleichtern, sachliche Diskussionen immer mehr zu verunmöglichen – es geht schlicht darum, „who is to be master“, wie es in Lewis Carrolls Alice in Wonderland einmal heißt. Auch das ästhetische Sprachempfinden wird durch die Gendersprache empfindlich gestört, indem ein offen „ideologisches Sprechen“ (Roger Scruton) zu einer scheinbaren oder tatsächlichen Norm gemacht wird.

Habeck demonstriert mit seinem Text weiterhin auch sehr schön ein wichtiges Charakteristikum der Orwellschen Darstellung des dystopischen Reiches in seinem Roman: das Doppeldenken (doublethink), das es erlaubt, einen Gedanken und sein Gegenteil gleichzeitig im Kopf zu behalten und beide für wahr zu halten. Denn er moniert an den sozialen Medien, diese würden von „der Struktur her (…) nicht zur analytischen Debatte“ neigen, „sondern zur populistischen Polemik, zum Freund-Feind-Schema“ (S. 14).


Zwei Seiten weiter greift Habeck dann aber selbst beherzt zum Freund-Feind-Schema, wenn er nicht nur vom „Systemkampf eines neuen Autoritarismus, ja digitalen Totalitarismus gegen die freiheitliche, liberale Demokratie“ spricht (ohne freilich die Träger dieses digitalen Totalitarismus konkret zu benennen), sondern dann auch noch konstatiert, „die Feinde der Freiheit, die Feinde der Demokratie, des Rechtsstaats“ zielten „darauf, die Freiheit der Rede und der Gesellschaft durch gezielte Verantwortungslosigkeit zu zerstören“ (S. 16).


Zuvor hatte es schon metaphernreich blumig geheißen: „Wir erleben, wie das Gift des totalitären Denkens auch in das Fundament der Demokratie einsickert und sie von innen auszuhöhlen droht“ (S. 5). Offenbar hat aber Habeck noch nie etwas von dem Konzept einer „totalitären Demokratie“ gehört, wie es der israelische Historiker Jacob L. Talmon in Die Ursprünge der totalitären Demokratie ausführlich analysiert hatte. Denn sonst wüßte er, daß man es sich zu leicht macht, wenn man das Totalitäre nur als das Andere der Demokratie versteht und nicht als eine ihrer Potentialitäten, die es gerade deswegen genauestens im Auge zu behalten gilt, nicht zuletzt im Falle von modernen Demokratien, die anders als ihre antiken Vorbilder Massendemokratien sind (und auch sein müssen). Näheres ist bei Denkern von Alexis de Tocqueville bis Panajotis Kondylis und Peter Furth nachzulesen. Aber vielleicht steckt ja dieser Gedanke dahinter, wenn Habeck gegen diejenigen polemisiert, „die die Demokratie zu einer Volksherrschaft umbauen wollen“ (S. 8)? Schwer zu sagen, da solche Aussagen von Habeck ohne angemessene Erläuterung oder Präzisierung vorgetragen werden.


Stattdessen erklärt Habeck schlicht im Stil einer Sonntagsrede: „wir leben in der besten Demokratie, die es in Deutschland je gab, wir leben in der freiesten Gesellschaft, die es in Deutschland je gab“ (S. 16). Habeck thematisiert zwar die potentiell freiheitsfeindlichen Tendenzen der sozialen Medien, ignoriert aber gerade die eklatantesten Beispiele für „Instrumente des Autoritären, des Totalitären“ bei bekannten Online-Diensten, die zunehmend willkürlich und begründungslos Konten sperren – für eine liberale und pluralistische Gesellschaft ein unwürdiges Spiel. Auch insofern bietet Habeck ein schönes Beispiel für die von Orwell aufs Korn genommene Verbindung von Neusprech und Doppeldenk, als er seine Kritik wohlgemerkt nicht auf Sprachverbote, sondern auf diejenigen richtet, die sich beklagten, „dass es in Deutschland Sprachverbote gebe“ (S. 8). Nicht die Kritik an der Einschränkung der Redefreiheit wird hier mit Orwell zu begründen versucht, sondern die Kritik an solcher Kritik – eine Volte, die man erst einmal hinbekommen muß.


Im Vergleich zu diesen trübselig machenden Ausführungen sei hier noch ein Ausblick auf das Nachwort von Mirko Bonné zur vorzüglichen Übersetzung von Gisbert Haefs gestattet, der gleich zu Beginn betont, daß Orwell wie Swift seiner Leserschaft den Spiegel vorhalte, der eben deswegen auch auf die eigenen Defizite gerichtet sei: Selbsttäuschung, Egozentrik, Eitelkeit, Anschwärzen und Ausgrenzen sowie Unredlichkeiten (S. 415). Der Fokus liegt daher nicht auf Staaten und Systemen, sondern auf den Mitmenschen, „die als Kader, Funktionäre, Despoten oder Inquisitoren andere ins Unglück stürzen und ihnen Welt und Leben erst verleiden und schießlich verunmöglichen“ (S. 416). Dazu komme die Zerstörung des Wahrheitsbegriffs, aber auch ein „Gefühl von Panik, gepaart mit Furcht vor Lähmung und Festsitzen“ (S. 418 – 419), das durch die Lakonie von Haefs Übersetzungsstil evoziert wird. Bonné skizziert gekonnt die auf mehreren Ebenen operierende Architektonik von Orwells Roman, die für den Eindruck essentiell ist, daß es auch der hier geschaffenen fiktionalen Welt kein Entrinnen zu geben scheint (S. 419).


Bonné stellte Orwells Lebenslauf und sein Engagement dar, ruft die Fülle weiterer dystopischer Fiktionen auf und stößt dann mit einer Betrachtung der Erzählperspektive zu einer Hinterfragung der „seit Jahrzehnten erstarrte(n) Rezeption“ des Romans vor, um aus ihm zugleich auch die selbstkritische Forderung abzuleiten, „mit aller zu Gebote stehenden Fantasie in Doppeldenk ein fast vollkommenes Verharmlosungsdiktat zu erkennen“ (S. 433). So düster das Buch Orwells auch scheint, so bleibe es doch „in jeder Zeile ein unverbrüchlich menschliches Buch“; und so gelinge „es auch George Orwells düsterer Versuchsanordnung nicht, den Glauben an die Unerschütterlichkeit der Menschenwürde vollends zu zertrümmern“ (S. 436).


Fazit: In jedem Falle ist die Lektüre der einen oder anderen Orwell-Neuübersetzung des Romans 1984 mit ihren zu kontroversen Diskussionen anregenden Paratexten zu empfehlen. Das gilt auch und gerade dann, wenn es einem nicht um vordergründige Aktualität gehen sollte, bei der eine gewisse Kurzschlüssigkeit im Sinne durchaus konträrer ideologischer Indienstnahmen oft nicht ausbleibt. Denn Orwells Werke verdienen auch literarisch bzw. ästhetisch gewürdigt zu werden. Ohne diese Dimensionen handelte es sich nämlich um bloße Tendenzliteratur, die als solche nur sehr bedingt das dauerhafte Interesse von Literaturliebhabern auf sich ziehen könnte. Letztlich aber gehören Orwells Fiktionen zu den bedeutenden literarischen Anstößen des 20. Jahrhunderts für die stets aktuelle Frage danach, was das gute und zuträgliche Leben für den Menschen sei und wie die Humanität und ihre Grundlage, die Freiheit, auch unter widrigen Bedingungen verteidigt werden können. Einer der ersten Biographen Orwells, Peter Stansky, formulierte es einmal so: „There is no doubt that George Orwell's Nineteen Eighty-Four is still an exciting and important book to read so many years after its first publication. Long may that continue.“





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Till Kinzel ist habilitierter Literatur- und Kulturwissenschaftler. Er hat u.a. Bücher zu Allan Bloom, Nicolás Gómez Dávila, Philip Roth und Michael Oakeshott und Johann Georg Hamann publiziert. In TUMULT hat er über Panajotis Kondylis geschrieben (und im Blog über Ricarda Huch). Derzeit Arbeit an einer Studie über Roger Scruton.






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