Nachdem sich der Münchner Philosoph Heinrich Meier, der frühere Geschäftsführer der Carl Friedrich von Siemens Stiftung (bis 2022), in verschiedenen Büchern mit Carl Schmitt, Leo Strauss und Rousseau auseinandergesetzt hatte, ging er daran, auch das Ergebnis seiner langjährigen Nietzsche-Lektüren zu Papier zu bringen. Dies nahm zunächst in einem Buch über Also sprach Zarathustra Gestalt an – ein Werk, das wegen seines dichterischen Gestus zweifellos eine Sonderstellung im Werk Nietzsches inne hat. Aber es reicht nicht hin, um die ganze Radikalität der Entscheidung für das radikal philosophische Leben nachzuvollziehen, die sich durch Nietzsches Selbstreflexion in den Werken vor dem sogenannten Zusammenbruch zeigt.
Es geht daher in dem vorliegenden Buch Meiers um nichts Geringeres als das philosophische Vermächtnis Nietzsches. Das Buch versteht sich ausdrücklich als Gegenstück zu der früheren Zarathustra-Interpretation, was bedeutet, daß die beiden Bücher eigentlich zusammen gelesen werden müßten. Denn es gehe in beiden letzten Büchern um eine „Darstellung des philosophischen Lebens“ (S. 10), also eben jenes Thema, das Meier in seinem Rousseau-Buch schon im Haupttitel in den Mittelpunkt der Reflexion gerückt hatte.
Heinrich Meier setzt in diesem Buch, das sich mit drei Werken Nietzsches aus der letzten aktiven Schaffensphase – Ecce homo, Der Antichrist und Götzendämmerung – beschäftigt, also seine intensive Auseinandersetzung mit dem Philosophen Nietzsche sui generis fort, aber auch mit Rousseau und anderen Denkern, die emphatisch die Verknüpfung von Philosophie und Leben propagierten.
Philosophie für jedermann
Das Gesamtwerk bleibt zwar im Blick, doch Nietzsche wird hier insbesondere mit seinen letzten Schriften als derjenige Philosoph präsentiert, der die schärfste Kritik des Christentums artikulierte, die es je gegeben habe. Auch das knüpft an Meiers durchgängige Konfrontation der Politischen Philosophie mit dem Offenbarungsglauben an, die im Interesse der Philosophie und ihrer Selbsterkenntnis erfolgen soll. Weil die letzten Schriften Nietzsches, Der Antichrist sowie Ecce homo, schon in ihren Titeln – dazu kommt noch explizit der zunächst unterdrückte Untertitel Fluch auf das Christentum – die Frontstellung gegen das Christentum herausstellen, hat es mit der Wirkung dieser Schriften eine besondere Bewandtnis.
Meier betont nämlich, daß der polemische Charakter der Schriften „Jedermann“ ins Auge springen mußte und sollte, was aber gerade bedeutete, daß ihre eigentlich philosophische Intention lange verborgen bleiben konnte. Indem das „Jedermann“ als Adressat herausgestellt wird, spielt Meier auf die esoterische Kommunikation an, die Nietzsche betrieb. Diese zeigte sich etwa darin, daß er auch sonst Bücher „für Alle und Keinen“ schrieb etc., also ein Verwirrspiel mit der Adressatenorientierung betrieb. Meier setzt dies in gewisser Weise fort, indem er hier nicht explizit dazu sagt, daß es eigentlich die Aufgabe der Philosophen gewesen wäre, sich als Leser Nietzsches nicht mit der Jedermann-Lesart zu begnügen, die gleichzeitig eine politische Lesart ist: „Wenn ein Philosoph von Jedermann verstanden werden soll, muß er wie ein Politiker reden“ (S. 161). Das bedeutet aber letztlich in diesem Zusammenhang: er muß geradezu unphilosophisch reden. Hinzu kommt, daß nicht „Jedermann“ freiwillig in Eis und Hochgebirge leben oder sich auf eine Wanderung im Verbotenen aufmachen will, wie Nietzsche das Leben des Philosophen einmal sehr metaphorisch zu bestimmen versucht hat (S. 23).
Die Studie Meiers teilt sich in zwei „Bücher“, die sich ausweislich des Untertitels mit Natur und Politik befassen. In Teil I dieser Ausführungen verfolgt Meier die Darstellung des philosophischen Lebens von Nietzsche am Leitfaden von Ecce homo, in dem Nietzsche selbst sich als derjenige präsentierte, der zu dem Philosophen wurde, der er gleichsam von Beginn an war bzw. potentiell war. Hier mag es genügen, auf die Rolle von Sokrates hinzuweisen, der Nietzsche als Geburtshelfer zur Seite stand, um zu sich selbst zu finden. 1878 schrieb Nietzsche nämlich, er habe früher die Philosophen verehrt, was offensichtlich etwas völlig anderes ist als selbst zu philosophieren. Denn er kontrastiert diese frühere Schwärmerei, die ja durchaus beglückend war (wenn sie auch nicht identisch mit dem Glück des philosophischen Lebens sein kann), mit dem viel Besseren, für das er die Schwärmerei eingetauscht habe, nämlich „der Weisheit selber nachzugehen“ (S. 117).
Radikales Selbstbild Nietzsches
Meier bietet nun keine ausführliche Auseinandersetzung mit anderen Kritikern des Christentums, mit denen Nietzsche verglichen wurde. Exemplarisch verweist er nur auf den Baron d'Holbach und auf Bruno Bauer (S. 162), die beide scharfe Kritiker des Christentums waren, aber diese Kritik nach Meier nicht auf die christliche Moral ausdehnten, womit aber der Kern des Christentums letztlich intakt geblieben sei. (Feuerbach wird nicht erwähnt; Marx, dem zufolge mit Feuerbach die Kritik der Religion in Deutschland beendet war, erscheint nur en passant [S. 162]; ebenfalls nur am Rande taucht Nietzsche als Rezipient von David Friedrich Strauß und Bruno Bauer auf [S. 221], Stirner fehlt komplett.) Nietzsche zeigte in seiner Auseinandersetzung mit Jesus sowie dem Typus des Erlösers und dessen Psychologie kein Interesse an der in seiner Zeit virulenten Frage nach dem historischen Jesus; es bedeute daher auch ein Mißverständnis bzw. Verfehlen des Wichtigsten, so Meier, wenn man denke, Nietzsches Erörterung des Erlösers gehöre in diesen „Streit um den historischen Jesus“ (S. 221).
Nietzsche selbst hatte sich schon anläßlich von Also sprach Zarathustra in ähnlicher Weise zum Thema geäußert, indem er sich von Voltaire deutlich abhob, so in einem Brief an Franz Overbeck (26.8.1883): „Seit Voltaire gab es kein solches Attentat gegen das Christenthum – und, die Wahrheit zu sagen, auch Voltaire hatte keine Ahnung davon, daß man es so angreifen könne.“ Meiers Deutung entspricht also zweifellos dem Selbstbild Nietzsches, was die Radikalität seiner Kritik am Christentum betrifft. Daß Nietzsches Kritik am Christentum radikal wie keine andere ist, heißt aber nicht, daß alles, was er gegen das Christentum sagt, zu den Höhepunkten der philosophischen Kritik gerechnet werden könne (S. 231).
Dem Zentralbegriff des Christentums, Gott, wurde von Nietzsche der Begriff der Natur entgegengesetzt, der zugleich auch der grundlegende Begriff der dem Christentum als entgegengesetzt gedachten Philosophie ist. Während Gott im Titel oder in den Kapitelüberschriften des Buches deshalb wohl auch nicht auftaucht, ist die Natur zusammen mit der Politik die Klammer, die Nietzsches Philosophieren grundiert und im Buch prominent erwähnt wird.
Ächtung des Christentums in moralischer Hinsicht
Aber was bedeutet das? In welchem Sinne kann Nietzsche als ein Philosoph verstanden werden, dem es sowohl um Natur als auch Politik ging? Wenn der Begriff der Natur aufs engste mit der Philosophie und ihrer Entstehung verbunden ist, was ist dann der Status der Politik in diesem Zusammenhang? Wieso bringt Meier ausgerechnet bei Nietzsche, der ja gerade kein politischer Denker sui generis war, wie es Jedermann weiß, die Politik ins Spiel?
Die Auseinandersetzungen Nietzsches schließen „politische“ wie „philosophische“ Rücksichten ein, die insbesondere dort zu erwägen sind, wo es um die Adressaten des Diskurses geht und wo Fragen der „Gesetzgebung“ ins Spiel kommen – zuletzt bei dem Gesetz wider das Christentum, das Nietzsche ursprünglich dem Antichrist folgen lassen wollte (S. 301) und in dem er gerade nicht als Philosoph spricht (S. 304), was schon daraus erhellt, daß in diesem Gesetz eine „Deklaration der politischen Feindschaft und der moralischen Ächtung“ vorliegt (S. 302). Nietzsche zielt also fundamental auf eine Ächtung des Christentums in moralischer Hinsicht, was jede Assimilation des Denkens von Nietzsche aus christlicher Sicht mehr als fragwürdig macht.
Wie schon in seiner Rousseau-Interpretation benutzt Meier auch hier einen unkonventionellen Werkbegriff: das (Spät)werk Nietzsches komme mit dem im Titel genannten „Doppelgespann“ zum Abschluß – und er knüpft an den schon bei Rousseau beobachteten Umstand an, daß beide Philosophen ihr jeweils letztes Buch „auf eine Darstellung des philosophischen Lebens verwandten“ (S. 10). Damit ist nicht zuletzt das Unterlaufen der Lesererwartungen verbunden, die sich von dem Buch eines Philosophen allein Systematik und Lehrgehalt versprechen und erhoffen, damit etwas zu haben, das man getrost nach Hause tragen kann.
Dieser Werkbegriff steht im Einklang mit der generellen These, daß sich das Philosophieren nicht lehren läßt. Es kann daher auch Meiers Buch im strikten Sinne kein Lehrbuch der Philosophie sein, denn derjenige, der lernen will, was das Philosophieren ist, kann es nur dadurch lernen, daß er selbst anfängt zu philosophieren. Das Motto von Meiers Buch aus Nietzsches Jenseits von Gut und Böse stellt diesen grundlegenden Aspekt deutlich genug heraus (S. 7) – ob es also möglich ist, das Philosophieren zu lehren, hängt nicht zuletzt davon ab, ob man das, was man lehren kann, auch gelernt hat. Hier greift nun das letzte Kapitel des Buches, ein Anhang, der der Götzendämmerung gewidmet ist und Der Philosoph unter Nichtphilosophen überschreiben ist. Denn hier wird der Leser mit der anstößigen Schroffheit der philosophischen Perspektive konfrontiert (S. 330) und Nietzsche selbst als eine Art Lehrer profiliert, der sich ausdrücklich auch von denen scharf abgrenzt, die er wie Schopenhauer einst als seine „Erzieher“ gewürdigt hatte. Auch hier geht es freilich noch sehr wohl um Erziehung, und zwar um die „Erziehung des philosophischen Lesers“ (S. 331), die nötig sei, um drei Aufgaben zu bewältigen: schreiben lernen, sehen lernen, denken lernen. Die Kunst des Schreibens rückt so ins Zentrum, weil das Schreiben eng verbunden sei mit dem Lesen, das zuerst komme. Und es ist anzunehmen, daß das Denken irgendwie mit diesem Lernprozeß des Lesens und Schreibens verknüpft ist. Die Frage stellt sich, ob diese allgemeinen Bestimmungen überhaupt einen Bezug auf das Christentum haben oder nicht vielmehr unabhängig davon sind.
Verstrickt wie kein zweiter Philosoph
Der Autor Nietzsche macht im Rückblick auf sein Lebenswerk deutlich, wie sich auch seine frühen Schriften als ein Vorlauf hin zur Krisis lesen lassen, die dann wiederum den Beginn seines philosophischen Lebens im eigentlichen Sinne einleitet. Daß Dasein und Welt nur ästhetisch gerechtfertigt werden könnten – dieses berühmte Diktum des frühen Nietzsche ist für Meier Ausdruck einer Weltsicht, die nur vor dem Beginn des eigentlichen philosophischen Lebens Geltung beanspruchen konnte (S. 61). Sie liegt noch vor der Krisis, nach deren Ausgang alles anders war, so daß auch Nietzsche in diesem Rückblick in Ecce homo seine frühen Schriften keineswegs „rezensiert“, sondern als „Stationen im Lebensgang“ präsentiert (S. 86), die in bezug auf ihre Möglichkeiten befragt werden müssen.
Wenn der Antichrist den Wenigsten gehört, also denjenigen, die hinter der Polemik gegen das Christentum die „Frage, was ein Philosoph sei“ (S. 197), erkennen, dann sind von den Wenigsten, die überhaupt von Nietzsche als Adressaten gemeint sind, nicht einmal alle als jene Leser zu verstehen, die in der Lage sind, richtig mit seinem Buch umzugehen. Durch Nietzsches Typenlehre soll der Leser, der gemeint ist, im Kontrast den Philosophen profilieren – und das Buch selbst kann als Baukasten verstanden werden, aus dem dieser Leser sein Ganzes konstruieren muß und wird, wenn er für sich selbst den Weg des philosophischen Lebens einschlagen will.
Die Verstrickung in die Geschichte des Christentums, die der Philosoph zum Anlaß von Selbsterkenntnis und Selbstkritik nimmt (S. 211), ist bei Nietzsche mit Händen zu greifen – und zwar vor allen anderen Philosophen. Denn durch die beiden Bücher Nietzsches, die Meiers Buch im Titel nennt, „hat Nietzsche seinen Namen wie kein Philosoph vor ihm mit dem Christentum verbunden“ (S. 304), was zum mindesten als seltsam gelten muß für jemanden, der sich so massiv dagegen wendet. Aber wenn Nietzsche die „Dyade seines Œuvres an die Erinnerung des erklärten Feindes“ knüpft, dann deshalb, weil er mit seiner Kritik des Christentums nicht dasselbe tut wie religionskritische Tendenzschriften oder Traktate, die ihre Zeit haben und dann historisch werden (S. 305).
Für Nietzsche und für die Philosophie ist es aber so, daß sowohl Ecce homo als auch Der Antichrist keineswegs entbehrlich würden, käme es historisch zu einem Sieg über das Christentum, durch den selbiges in die Bedeutungslosigkeit absinken würde. Zum einen wären die „Auswirkungen auf die Moral und die Folgen für die Politik“ sehr wohl auch ohne ein bestehendes Bekenntnis zum Christentum vorhanden (S. 305). Zum anderen wird hier aber auch die sogenannten Umwertung der Werte nicht als ein Kipp-Punkt begriffen, sondern als eine ständige Herausforderung für die Philosophen, die am Christentum etwas haben, an dem sich die Trias von „Selbstabgrenzung, Selbstbestimmung, Selbstvergewisserung“ (ebd.) zu bewähren hat. Diese Herausforderung stellt das Christentum in besonderer Weise dar, weil es in der höchsten denkbaren Form, die der Philosophie entgegengesetzt ist, Gestalt geworden ist.
Fazit: An Meiers zweitem Nietzsche-Buch soll man sich ruhig die Zähne ausbeißen – es ist ein Werk, das an seine Leser besondere Ansprüche stellt. Es ist ein Buch, das auf jene langsame und wiederkäuende Lektüre rechnen, von der Nietzsche selbst einmal sprach. Man kann und soll das Buch daher jenseits der Logik von Neuerscheinungen studieren. Die Nietzsche-Forschung der letzten Jahre hat vor allem durch die schrittweise Publikation eines historisch-systematischen Kommentars große Fortschritte gemacht und damit alle weitere akademische Beschäftigung mit Nietzsche auf eine neue Basis gestellt. Darüber hinaus wird man aber immer auch die über alles bloß Akademische hinausreichende Frage stellen müssen, was von Nietzsche gleichsam „unter dem Strich“ denn nun bleibe. Denn im Letzten kann man einem Philosophen vom Kaliber Nietzsches nicht bloß historisch-kritisch oder akademisch-analytisch gerecht werden.
Unter den Büchern der letzten Jahre hebt sich Meiers Buch eben deshalb heraus, weil es das Denken selbst als integralen Teil einer Philosophie als Lebensweise erfahrbar macht. Diese zielt auf etwas Anderes als die strikt akademische Zunft der Philosophen. Aber auch eine wohlfeile Popularisierung ist nicht ihre Sache; statt filmreif knalliger, aber gedankenloser Lebensbeschreibungen Nietzsches geht es um eine Radikalität des Befragens, die auch vor der Philosophie selbst nicht halt macht.
Man darf Meiers Buch als einen Hinweis auf die „richtige Rangordnung“ ansehen, die „durch die höchste Perspektive bestimmt“ wird (S. 119). Wenn nicht Jedermann diesem Hinweis folgen will, wird das kein Schaden sein. Aber Meier hat in jedem Fall ein starkes Plädoyer für die Aufgabe geschrieben, die sich der Philosophie seiner Auffassung nach stellt: Es geht um eine Selbstbesinnung, die Politik ebenso wie Moral hinter sich läßt, ohne sie je zu vergessen.
Heinrich Meier: Nietzsches Vermächtnis. „Ecce homo“ und „Der Antichrist“. Zwei Bücher über Natur und Politik. München: Beck, 2019. Gb. 351 S. ISBN 978-3-406-73953-8. EUR 28.00
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Über den Autor: Till Kinzel ist habilitierter Literatur- und Kulturwissenschaftler. Er hat u.a. Bücher zu Allan Bloom, Nicolás Gómez Dávila, Philip Roth und Michael Oakeshott und Johann Georg Hamann publiziert. In TUMULT hat er über Panajotis Kondylis geschrieben (und im Blog über Ricarda Huch und Wyndham Lewis).
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