Wer je etwas von dem Philosophen Arthur Schopenhauer (1788-1860) gehört hat, auch ohne ihn gelesen zu haben, weiß eines ganz gewiß: Dieser alte weiße Mann war ein kratzbürstiger Eigenbrötler, ein grummeliger Menschenfeind und vor allem, was heute am wenigsten verziehen werden kann, ein Misogynist. Anders dagegen sein Verhalten gegenüber den Tieren, denn wenn er den Menschen nicht freundlich gesonnen war, so erfreute ihn doch der Anblick jedes Tieres, seien es Hunde, Vögel oder auch Insekten. Tierfreund zu sein, mit den Tieren Mitleid zu empfinden, erschien Schopenhauer geradezu als Kriterium eines guten Menschen.
Lithografie von Karl Bauer aus dem Jahre 1903, Kupferstichkabinett Dresden
Als 1853 der erste englische Aufsatz in der Westminster Review erschien, in dem John Oxenford Schopenhauers Philosophie den Engländern erklärte, fand sich dort auch das Wort vom „misanthropischen Weisen aus Frankfurt“. Für die deutsche Übersetzung schien es Schopenhauer selbst zunächst ratsam, diesen Ausdruck („misanthropisch“) nicht wiederzugeben, weil ohnehin schon allerlei böse Zungen so etwas von ihm behaupteten. Aber wenig später war es ihm dann doch gleichgültig: „Was schadet's denn am Ende?“
Und wer Schopenhauers Aphorismen zur Lebensweisheit kennt, weiß schließlich auch darum, daß „unser Dasein in der Meinung anderer (…) infolge einer besonderen Schwäche unserer Natur durchgängig viel zu hoch angeschlagen“ werde, „obgleich schon die leichteste Besinnung lehren könnte, daß es an sich selbst für unser Glück unwesentlich ist.“
Distanz wahren!
Schopenhauer, der zu saftigen Schimpfereien gegen seine philosophischen Gegner Fichte, Schelling und Hegel neigte, fiel es selbst keineswegs leicht, sich diese Einstellung zu erarbeiten; und sie macht ihn auch noch keineswegs zu einem Menschenfreund. Man erinnere sich auch seines anthropologischen Gleichnisses über den gesellig-ungeselligen Charakter des Menschen, der sich im Bilde der Stachelschweine fassen lasse: Näherten sie sich einander an, um sich gegenseitig zu wärmen, würden sie durch die Stacheligkeit sogleich wieder voneinander entfernt – und so in ständigem Hin und Her. Bis die Menschen lernen, den Ausspruch „keep your distance!“ zu beherzigen und die „widerwärtigen Eigenschaften und unerträglichen Fehler“ der Mitmenschen durch „Höflichkeit und feine Sitte“ einigermaßen abzumildern. So Arthur Schopenhauer im §396 des zweiten Bandes der Parerga und Paralipomena.
Doch Ernst Ziegler, der in den vergangenen Jahren unermüdlich die Entzifferung der zuvor nie vollständig publizierten Nachlassnotizen Schopenhauers in den Senilia, Spicilegia, Pandectae, Cogitata, Philosophari und dem Cholerabuch betrieb, läßt sich dadurch nicht entmutigen. Tragfähig sei die These von Schopenhauer als Menschenfreund, so behauptet er, auch wenn er sich selbst deutlich genug kritisch gegenüber dem Menschengeschlecht geäußert hatte. Denn der zentrale Wert in Schopenhauers Ethik ist das Mitleid, also auch das Wahrnehmen des Leids eines großen Teils der Menschen unter den Bedingungen des Lebens auf dieser Erde. Schopenhauer war nicht nur allgemein einfühlsam mit dem Leid der Menschen, sondern auch sehr spezifisch mit dem Leid der „Negersklaven“, wie er in der damals üblichen Terminologie sagte, die von heuchlerischen Christen in den Vereinigten Staaten geknechtet wurden. So kann man dieses Mitleid des Philosophen einerseits als Form der Menschenliebe ansehen, andererseits tragen aber die herzlosen Unterdrücker nicht gerade dazu bei, daß diese Menschenfreundlichkeit allgemein würde. Denn wer an der Sklaverei Anstoß nimmt, muß auch an den Sklavenhaltern Anstoß nehmen, vor allem wenn diese ihre Praktiken mit religiösen Phrasen verbrämen.
Mitleiden macht den Unterschied
Schopenhauer war so in jedem Falle nur ein gemäßigter Menschenfreund, der aufgrund eigener Beobachtung zu dem Schluß gekommen war, daß eigentlich jeder Mensch, der älter als 40 Jahre ist, bei vorausgesetzter Reife zumindest einen Schuß Misanthropie in seiner Gemütsausstattung wird beobachten können. Oft hat man nun gemeint, die Misanthropie des Philosophen hänge zusammen mit dem, was „Pessimismus“ heißt. Aber der Pessimismus ist eine grundsätzliche „Ontologie“ der Welt, die sich auf die Existenz einer Verneinung des Willens zum Leben bezieht, keine Aussage über schlechte Menschen. Allerdings muß man sich erst einmal mit Schopenhauers spezifischer Optik anfreunden, in deren Licht er die Menschen betrachtet.
Jeder Mensch solle, so Schopenhauer, nicht hinsichtlich seines objektiven Wertes oder seiner Würde betrachtet werden, weil dies nur zu Haß und Verachtung ihm gegenüber führen könnte – denn mit dem Wert und der Würde der Menschen ist es oft nicht weit her. Vielmehr sollte man bei seinem Gegenüber „seine Leiden, seine Noth, seine Angst, seine Schmerzen ins Auge“ fassen, denn dann fühle man sich mit ihm verwandt und sympathisiere mit ihm.
Das Mitleid, das hier zum Ausdruck kommt durch Einnahme der Perspektive des Anderen, wirkt nach Schopenhauer gegen das Aufkommen von Haß und Verachtung – auch darin kann man durchaus eine Form der Menschenfreundlichkeit sehen. Und zwar eine Menschenfreundlichkeit, die der vielleicht natürlichen Neigung zur Grantelei und zum Zynismus entgegengesetzt ist, welche sich aus dem regelmäßigen Verkehr mit anderen Menschen ergeben können, ja vielleicht sogar müssen. Jedenfalls plädiert Schopenhauer in seinen Aphorismen zur Lebensweisheit für die Zweckmäßigkeit, nur mit einem „großen Vorrat von Vorsicht und Nachsicht“ durch die Welt zu gehen, um sich vor Schaden und Verlust ebenso wie vor Streit und Händeln zu schützen. Das gelingt mal mehr, mal weniger. Übrigens hat auch Schopenhauer selbst sich nicht immer würdig betragen, wie sein späterer Freund Julius Frauenstädt berichtet, der ansonsten die edlen moralischen Qualitäten des Philosophen lobte. Vielleicht war so auch das erwähnte Schimpfen nur der Ausdruck seiner Selbstliebe als Mensch gewesen, weil er sich von der Welt und den Zunftgenossen ungerechtfertigterweise mißachtet sah.
Man könnte nun noch weitergehen und fragen, ob nicht ein gewisses Maß an Misanthropie, wie man sie Schopenhauer allgemein zuschreibt, vielleicht sogar die menschenfreundlichere Haltung als überbordende Menschenliebe ist. Wäre möglicherweise eine gewisse Misanthropie die wahre Menschenfreundlichkeit? Denn was wäre menschenfreundlicher, als die Anderen, die nach eigenem Gusto ihr Leben führen, mit ungefragter Menschenliebe zu verschonen? Zumindest hat Schopenhauers realistische Sicht auf den Menschen eine interessante politische Komponente: Denn der Staat hat für ihn nicht etwa den Zweck, eine moralische und ideologische Oberaufsicht über das Volk zu etablieren, wie es jene „Philosophaster“ predigen, die den Staat zu einer „Moralitäts-Erziehungs- und Erbauungs-Anstalt“ machen wollen. Dagegen sollte der Staat in Schopenhauers Augen vor allem zwei Zwecke verfolgen, nämlich ganz schlicht „die Einzelnen vor einander und das Ganze vor äußeren Feinden zu schützen“.
Am Ende Buddha
Vielleicht darf man hier doch auch noch an den spanischen Jesuiten Baltasar Gracián erinnern, den Ziegler in seiner Blütenlese nicht weiter erwähnt. Dieser war zwar sicher kein Menschenfeind, aber ein Vertreter der Desillusionierung (Ent-Täuschung), dem man daher ein „pechschwarz pessimistisches Weltbild“ (Robert Zimmer) attestiert hat. Denn er wußte, womit man bei seinen Mitmenschen rechnen muß, z. B. daß sie allerlei Scharlatanen unkritisch folgen. Und daran kann auch Aufklärung nicht prinzipiell, sondern nur graduell etwas ändern.
Nach Schopenhauer hat das Christentum die wirkliche Menschenliebe gepredigt, aber auch dieses werde noch übertroffen vom Buddhismus, dem Schopenhauer letztlich folgte, wenn er in den Upanischaden den „Trost seines Lebens“ erfuhr. Und weil Schopenhauer sich mit seinen Lehren zur Lebensweisheit an andere wandte, kann ihm auch nicht gleichgültig gewesen sein, ob diese den nötigen Trost erfahren sollten. Auch seinem Nachlaßherausgeber Ernst Ziegler, der seine Blütenlese als „Schwanengesang“ versteht, war der Frankfurter Philosoph „der Trost seines Lebens“. Eines solchen Trostes bedarf es aber, wenn nicht Misanthropie und Nihilismus das letzte Wort in einer oft genug trostlosen Welt haben sollen. So mag das Eine, das not tut, eine ganz besondere Kunst sein: Die Kunst, ein Schopenhauer-Freund zu werden.
Ernst Ziegler: Arthur Schopenhauer als Menschenfreund. Ein Florilegium. St. Gallen 2023, Privatdruck, 48 Seiten. Die nicht im Buchhandel erhältliche Broschüre kann in digitaler Form kostenlos über schopenhauerfreund2023@gmail.com angefordert werden.
*
Über den Autor: Till Kinzel ist habilitierter Literatur- und Kulturwissenschaftler. Er hat u.a. Bücher zu Allan Bloom, Nicolás Gómez Dávila, Philip Roth und Michael Oakeshott und Johann Georg Hamann publiziert. In TUMULT hat er über Panajotis Kondylis geschrieben (und im Blog über Ricarda Huch und Wyndham Lewis).
Hier können Sie TUMULT abonnieren.
Für Einzelbestellungen klicken Sie bitte hier.