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Thomas Hartung: VON STAATSRÄSON ZU KRIEGSJARGON

Vor drei Jahren gründeten Dozenten im Namen der Wissenschaftsfreiheit noch ein Netzwerk gegen Political Correctness – heute unterschreiben Dozenten im Namen der Meinungsfreiheit eine antisemitische Pro-Palästina-Erklärung. Der Wandel ist ein weiterer Sieg instrumentalisierter Linksmoral.




Die Kehrtwende von Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) Ende Mai war wohl der Höhepunkt einer aufgeheizten Debatte, die inzwischen alle Bereiche der Politik durchdringt. Hatte er Israel knapp eine Woche nach dem Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 in einer sehr emotionalen Videobotschaft die „uneingeschränkte Solidarität“ Deutschlands zugesichert, kritisierte er nun Israels Vorgehen im Gaza-Krieg als Völkerrechtsbruch: „Selbstverständlich muss Israel sich an das Völkerrecht halten. Und die Hungersnot, das Leid der palästinensischen Bevölkerung, die Angriffe im Gazastreifen sind – wie wir jetzt auch ja gerichtlich sehen – mit dem Völkerrecht nicht vereinbar“, sagte Habeck anlässlich des 75. Geburtstags des Grundgesetzes. CSU-Generalsekretär Martin Huber nannte diese Aussagen „unfassbar und beschämend“. Der Wirtschaftsminister gieße „Öl ins Feuer der ohnehin schon antisemitisch aufgeheizten Stimmung in Deutschland.“ Huber warf Habeck vor, „das Narrativ der Hamas und der Israel-Hasser“ zu bedienen. Seine Äußerungen grenzten an Täter-Opfer-Umkehr. „Er reiht sich damit ein in die antiisraelischen Propagandisten des linken Antisemitismus“.


Vorausgegangen war die Ankündigung des Chefanklägers des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag (ICC), Karim Khan, demnächst ernsthaft einen internationaler Haftbefehl sowohl gegen die Hamas-Führung als auch gegen den israelischen Staatschef Benjamin Netanyahu auszustellen, weil man ihm und auch seinem Verteidigungsminister Kriegsverbrechen bei der Verteidigung gegen den Terror der Hamas vorwirft. Laut Khan würde Israel die Zivilbevölkerung im Gazastreifen aushungern und absichtlich Zivilisten angreifen. Auch Außenministerin Annalena Baerbock hatte zur Frage, ob man Netanyahu verhaften würde, ihre Unterstützung für den Strafgerichtshof versichert und angefügt, man könne sich das schließlich nicht aussuchen: „Heute gefällt uns ein Gericht und morgen nicht.“ Dabei spart Khan aber aus, dass es wahrscheinlich „weltweit noch nie ein Land gegeben hat, das mehr tut, um gegnerische Zivilisten zu warnen, zu evakuieren und auch zu verpflegen als jede historisch dokumentierte Kriegspartei, seit die Menschheit Chroniken führt“, erregt sich Birgit Kelle auf Nius und erinnerte an die „vielzitierte deutsche Staatsräson“, das Existenzrecht Israels zu verteidigen.


Man könne dieser Staatsräson nur noch mit Zynismus begegnen, wenn selbst der Sprecher des deutschen Kanzlers in der Bundespressekonferenz verlauten lässt, dass man „natürlich“ Netanyahu verhaften würde, sollte dieser Haftbefehl tatsächlich ausgestellt werden: „Wäre es nicht so bitter, so hätte es fast einen eigenen schrägen Humor, dass (wieder einmal) ein Jude droht auf deutschem Boden wegen zweifelhafter Anklage verhaftet zu werden“. Wenn man die Freiheit des Westens angeblich am Hindukusch, in Afghanistan oder aktuell in der Ukraine verteidigt, fragt sie, warum nicht genau so konsequent in Israel, „der einzigen Demokratie des Nahen Ostens, die wie ein Bollwerk gegen den Machtanspruch des Islam standhält“.


Sie verweist darauf, dass die gesamte internationale Linke „schon immer einen Hang zur Romantisierung von Kriegsverbrechern, Massenmördern und Terrorbanden“ gehabt habe: von Mao über Stalin hin zu Che Guevara sei es nur ein kurzer Schritt hin zu Hisbollah und Hamas, „deren Schlächter auch hierzulande in manchen Kreisen als heldenhafte Widerstandskämpfer gefeiert werden“. Der Pariser Kommunarde, der RAF-Terrorist oder eben der Hamas-Kämpfer mögen aus bürgerlicher Sicht „Psychopathen sein, die eine Möglichkeit gefunden haben, ihre Lust am Quälen und Töten von Menschen auszuleben. Für den linken Intellektuellen sind sie das Agens der Geschichte“, so Fabian Schmidt-Ahmad in der Jungen Freiheit. Kelle bilanziert: „Bis heute zieht sich der als Israel-Kritik getarnte Antisemitismus damit durch die deutsche Uni-, Kultur- und Kunstszene und durch die Köpfe zahlreicher auch amtierender Politiker.“ Und in dieser Uniszene nun lassen sich brennpunktartig die schrägen Argumentationsmuster des selbstgezüchteten linken Antisemitismus analysieren.


Wissenschaftsfreiheit oder Menschenverachtung


Nachdem vor Monaten an mehr als 100 amerikanischen Universitäten propalästinensische Gruppen Protestcamps gegen das israelische Vorgehen im Gazastreifen zu errichten begannen, schwappte eine Welle um die Welt: Zeltstädte und aufgebrachte Demonstranten an Hochschulen in Bangladesch und Australien, in Spanien und Großbritannien, in Frankreich und Finnland, in den Niederlanden und Dänemark – und nun auch in Deutschland. Es kam nicht nur zu aufgewühlten Szenen an Unis in Berlin und Leipzig, auch die Universität Bremen ließ ein Camp räumen. In Köln stehen Zelte auf einer Wiese an der Universität, in Hamburg eine Mahnwache. An anderen Hochschulen blieb es vorerst ruhig, aber auch in Jena oder Weimar hat man ein waches Auge auf mögliche Aktionen. Und überall das dreifache, weil akademische, politische und soziale Dilemma: Geht es hier um legitime Meinungsäußerungen oder antisemitische Propaganda? Um Mitgefühl mit den Menschen in Gaza oder puren Hass auf Israel? Um Wissenschaftsfreiheit oder Menschenverachtung? Und wie können jüdische und nichtjüdische junge Menschen gemeinsam studieren in einer oft so aufgeheizten Stimmung, die so bald nicht enden dürfte?


Die Eskalation erreichte hierzulande ihren Höhepunkt am 22. Mai: Propalästinensische Aktivisten hatten Räume der Berliner Humboldt-Universität besetzt. Die Gruppe namens „Student Coalition Berlin“ forderte von Berliner Hochschulen unter anderem, dass diese sich für einen sofortigen und bedingungslosen Waffenstillstand im Gaza-Krieg einsetzen und Druck auf die deutsche Regierung ausüben. Diese solle ein Waffenembargo gegen Israel verhängen und alle militärischen, finanziellen und diplomatischen Hilfen an Israel beenden. Die Universitätsleitung duldete die Besetzung zunächst und setzte auf einen Dialog von Besetzern und Wissenschaftlern. Am Abend des 23. Mai dann räumte die Polizei auf Anweisung des Senats das besetzte Gebäude.


Wissenschaftssenatorin Ina Czyborra (SPD) habe die Anweisung in Übereinstimmung mit dem Regierenden Bürgermeister Kai Wegner (CDU) gegeben, sagte die Universitäts-Präsidentin, Julia von Blumenthal. Wegner dankte der Polizei am Abend für ihren Einsatz.  Ein Teil der Aktivisten verließ die Räume freiwillig, 150 seien aus dem Gebäude geführt worden, über Verletzte sei nichts bekannt. Die CDU hatte die Duldung der Besetzung als mögliche Ermunterung für weitere Straftaten kritisiert, die SPD-Fraktion gefordert, „den strafbaren Handlungen und Sachbeschädigungen ein Ende“ zu bereiten. Auch die Gewerkschaft der Polizei hatte mitgeteilt, Universitäten als Orte des Austauschs und der Diskussion seien keine Legitimationsgrundlage, um menschenverachtende und antisemitische Parolen zu grölen.


Es wird weitere Besetzungen geben


HU-Präsidentin Julia von Blumenthal äußerte angesichts der Räumung ihr Bedauern darüber, dass keine Verständigung erreicht worden sei. Den Versuch des Dialogs sah sie zumindest nicht als gescheitert an: „Ich bin nicht sicher, ob es gelungen wäre, aber ich hatte den Eindruck, dass wir einen guten Schritt gemacht haben mit diesem Dialog“, sagte sie. Ihr gehe es darum, das Leid aller Betroffenen zu sehen. Zu Beginn der Räumung sagte sie, ihr sei es wichtig, in diesem Moment dabei zu sein. Sie wolle den Studenten zeigen, dass sie auch ihre Präsidentin sei, auch wenn sie viele der politischen Forderungen nicht teile sowie die Sachbeschädigung im Gebäude „und alles verurteile, was insbesondere bei unseren jüdischen Studierenden, aber auch bei anderen Mitarbeitenden und Studierenden des Instituts für Sozialwissenschaften als Bedrohung empfunden wurde“. „Es wird weitere Besetzungen geben, da bin ich mir sicher“, sagte sie dem Spiegel. Die Räume des Instituts sähen schrecklich aus. Das rote Dreieck der Hamas sei an mehreren Stellen zu finden gewesen. Das Institut sei wegen der Beschädigungen möglicherweise für Wochen oder Monate nicht nutzbar. „Das war kein friedlicher Protest.“ Insbesondere am Institut für Sozialwissenschaften sollte ein Raum für Diskussionen geschaffen werden. „Jetzt, wo ich das Ausmaß der Sachbeschädigungen kenne, steht aber auch für mich fest: Wir dürfen dieses Risiko nicht mehr eingehen.“ Schmidt-Ahmad erkannte gar „eine Miniaturausgabe der Oktoberrevolution“.


Studentenverbände wie der Rings Christlich-Demokratischer Studenten RCDS oder fzs hatten in einer gemeinsamen Erklärung zuvor ein konsequentes Vorgehen gegen Pro-Palästina-Camps an deutschen Universitäten gefordert: „Die Polizei muss eingreifen; Hausverbote müssen ausgesprochen werden; Anzeigen müssen erstattet werden“, heißt es darin. „Die Universitätsleitungen müssen die ‚Proteste‘ als das benennen, was sie sind: Versammlungen, die Antisemitismus salonfähig machen und die Sicherheit jüdischer Studierender massiv gefährden.“ Teilnehmer der Protestcamps seien nicht nur Studenten. „Propalästinensische Forderungen werden immer wieder durch propagandistische Falschinformationen ergänzt. Es herrscht eine aktiv antiisraelische Haltung vor, welche flächendeckend eine antisemitische Rhetorik aufweist“, sagte die fzs-Referentin Debora Eller dpa. So werde das Leid der Bevölkerung im Gazastreifen bei den Uni-Protesten auch für „antisemitische Hetze“ instrumentalisiert.


„Wir verurteilen das beunruhigende Vorgehen gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung, welches in ganz Deutschland stattfindet“, heißt es dagegen in einem Statement von Studierenden der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin dffb. Der deutsche Staat unterdrücke im Namen der eigenen Geschichte nicht nur jegliche Kritik am Vorgehen des Staates Israel, sondern übe auch aktiv Druck auf kulturelle Einrichtungen, Universitäten und Schulen aus, um kritische Stimmen zu zensieren. Prompt wird im Namen der eigenen Geschichte auf einem Schild gefordert: „Free Palestine from German Guilt“ – „Befreit Palästina von der deutschen Schuld“. Gerade die letzte Aussage ist hochumstritten; Kritiker sehen darin eine Forderung, die Erinnerung an den Holocaust und die Aufarbeitung der Verbrechen des Nazi-Regimes hinter sich zu lassen. Ein von westlichen Regierungen und Medien geführtes Narrativ „ignoriert die jahrzehntelange Unterdrückung palästinensischen Lebens unter der Besatzung eines kolonialen Siedler- und Apartheidstaates und schürt aktiv Rassismus gegen arabische, muslimische und migrantische Gemeinschaften“, so die Filmstudenten weiter. Der unabdingbare Kampf gegen Antisemitismus dürfe nicht instrumentalisiert werden, „um Stimmen zum Schweigen zu bringen, welche die Kriegsverbrechen gegen die palästinensische Bevölkerung anprangern“.


Tiefpunkt für die deutsche Wissenschaft


Was legitime Kritik an Israel ist und was nicht, ist für viele eine sehr wacklige rote Linie: „Nur weil man für Palästina ist, ist man noch nicht gleich antisemitisch“, sagt eine Münchner Studentin dem BR. Auch der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, gestand: „Ich kann durchaus verstehen, wenn jemand gegen das Leid der Zivilisten in Gaza protestiert. Auch ich denke an diese Menschen, die von der Hamas als Schutzschilde benutzt werden. Klar muss aber sein, dass der Grund ihres Leids der Terror der Hamas ist. Ein solcher Protest kann nicht durch Vernichtungsfantasien gegen Israel getragen werden.“ Andere, die mit dem Protest nichts zu tun hatten und nur wie üblich in die Bibliothek oder in die Mensa wollten, beschreiben die Stunden der Besetzung, der Räumung, der propalästinensischen Demo und einer proisraelischen Gegendemo als einschneidendes Erlebnis. Es sei eine „extrem aufgeladene Stimmung gewesen“, sagt eine Studentin in einer Sprachnachricht. Eine andere Studierende meint, es sei krass gewesen, als Unbeteiligte von der eigenen Uni einfach ausgeschlossen zu werden. Ängste haben gerade jüdische Studierende, gerade an der FU Berlin, nachdem einer von ihnen, Lahav Shapira, im Februar von einem propalästinensischen Kommilitonen krankenhausreif geschlagen wurde. Danach gab es Solidaritätsbekundungen unter dem Motto „Fridays for Israel“. Die politische Anspannung blieb ebenso im Raum wie der Konflikt ungelöst.


Eine unrühmliche Rolle spielte dabei das Manifest „Philosophy for Palestine“, unterzeichnet unter anderem von den Ikonen der akademischen Linken und der Gendertheorie Judith Butler und Nancy Fraser: „ein Offenbarungseid eines intellektuell bankrotten Milieus“, zürnte Alexander Grau im Cicero. Denn „für Palästina“ sei „nur die vornehmere Formel für: gegen Israel“. Um zu verstehen, wer hier bereit ist, Massaker zu verüben, genüge ein Blick in allgemein zugängliche Schriftstücke. In den ethischen Grundlinien der israelischen Streitkräfte heißt es etwa: „ZAHAL und seine Soldaten sind verpflichtet, die Menschenwürde zu schützen. Jedes menschliche Wesen ist gleich wertvoll, unabhängig von seiner Herkunft, Religion, Nationalität, Gender, Status oder Position.“ In der Charta des Hamas findet sich hingegen Artikel 7: „Der Gesandte Gottes ... sagt: ‚Die Stunde (der Auferstehung) wird nicht kommen, bis die Muslime gegen die Juden kämpfen. Die Muslime werden sie töten, bis sich der Jude hinter Stein und Baum verbirgt, und Stein und Baum dann sagen: Muslim, o Diener Gottes! Da ist ein Jude hinter mir. Komm und töte ihn‘“.


Die Unterzeichner sehen sich als Speerspitze der intellektuellen Avantgarde, ärgert sich Grau. Wer aber „behauptet, Israel sei ein Apartheidregime, weiß nicht, wovon er spricht.“ Dass die unterzeichnenden Philosophen dieses fragwürdigen Manifestes die gesamte Faktenlage ignorieren, liegt auch daran, dass es ihnen eigentlich nicht um Israel, den Nahostkonflikt und auch nicht um die Palästinenser geht. Denn aus Sicht der Unterzeichner „steht Israel für weiße, heteronormative Kolonialherrschaft und die Palästinenser stellvertretend für alle Unterdrückten dieser Welt, für Transgender, Farbige und Menschen mit was für sexuellen Orientierungen auch immer.“ Eigentlicher Inhalt des Papiers sei daher auch nicht der Nahe Osten oder die Menschen dort – es gehe um einen ideologischen und politischen Machtkampf innerhalb der westlichen Gesellschaften. „Um diesen Kulturkampf zu gewinnen, ist den Vordenkern der neuen Linken offensichtlich jedes Mittel Recht – Fake News und Geschichtsfälschung inklusive.“


In einem „Statement von Lehrenden an Berliner Universitäten“ schrieben prompt mehr als 500 Dozenten anfangs nur von mehreren Berliner, später Hochschulen bundesweit: „Unabhängig davon, ob wir mit den konkreten Forderungen des Protestcamps einverstanden sind, stellen wir uns vor unsere Studierenden und verteidigen ihr Recht auf friedlichen Protest, das auch die Besetzung von Uni-Gelände einschließt.“ Und weiter: „Wir fordern die Berliner Universitätsleitungen auf, von Polizeieinsätzen gegen ihre eigenen Studierenden ebenso wie von weiterer strafrechtlicher Verfolgung abzusehen.“ Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner (CDU) sagte dazu Bild: „Für die Verfasser dieses Pamphlets habe ich überhaupt kein Verständnis.“ Berliner Universitäten seien und blieben Orte des Wissens, des kritischen Diskurses und des offenen Austauschs. „Antisemitismus und Israelhass sind aber keine Meinungsäußerungen, sondern Straftaten“.  Die Unionsfraktionsvize Andrea Lindholz MdB bezeichnete den Brief als einen „Tiefpunkt für die deutsche Wissenschaft“. Sie habe kein Verständnis dafür, „wenn Professoren und Dozenten einen Mob von Antisemiten und Israelhassern verteidigen“. Für Schuster gehe es den Aktivisten weniger um das Leid der Menschen in Gaza, sondern sie würden von ihrem Hass auf Israel und Juden angetrieben. „Gerade von Hochschuldozenten hätte ich erwartet, dass dies zumindest klar benannt wird, wenn sich schon für diese Form des Protestes eingesetzt wird“.


Erklärung intellektuellen Bankrotts


Auch Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger reagierte „fassungslos“: „Statt sich klar gegen Israel- und Judenhass zu stellen, werden Uni-Besetzer zu Opfern gemacht und Gewalt verharmlost“, sagte die FDP-Politikerin ebenfalls der Bild. „Dass es sich bei den Unterstützern um Lehrende handelt, ist eine neue Qualität. Gerade sie müssen auf dem Boden des Grundgesetzes stehen“. Studenten starteten ihrerseits eine Petition für den Rücktritt von FU-Präsident Günter Ziegler. Wie vergiftet der Diskurs inzwischen ist, wurde Mitte Juni deutlich: Die Ministerin geriet selbst in den Fokus, nachdem das ARD-Magazin Panorama E-Mails veröffentlichte, aus denen hervorging, dass jemand an hoher Stelle im Ministerium um Prüfung gebeten hatte, inwieweit Aussagen im Protestbrief der Berliner Hochschullehrer strafrechtlich relevant sind und ob das Ministerium als Konsequenz Fördermittel streichen könnte. Stark-Watzinger teilte mit, dass es tatsächlich eine solche Prüfbitte bei den zuständigen Fachreferaten ihres Ministeriums gab und dass dieser Prüfauftrag von der zuständigen Staatssekretärin, der Tübinger Philosophin Sabine Döring, veranlasst worden sei.


Als Konsequenz musste diese ihren Posten räumen. „Der vulgäre Antisemitismus ist eliminatorisch“, erregt sich Ulf Poschardt in der Welt und resümiert einen „Triumph für die kaputten linken Eliten, die dieses Land mit ökonomischer Ignoranz und kulturellem Nihilismus an die Wand fahren. Aber in Vielfalt“. Der bildungspolitische AfD-Fraktionssprecher Baden-Württembergs Dr. Rainer Balzer MdL hat die Entlassung als Bauernopfer kritisiert: „Dass die Ministerin damit Rücktrittsforderungen von über 2700 Hochschullehrern gegen sich selbst den Wind aus den Segeln nehmen will, liegt auf der Hand. Viel schlimmer aber ist, dass damit die Wissenschaftsfreiheit durchlässig wird für Antisemitismus, unbeschadet ihren eigenen Lippenbekenntnissen, aber auch denen von Innenminister Thomas Strobl (CDU) zum angeblichen Kampf gegen Judenfeindlichkeit. Eine antijüdische Stellungnahme auf strafrechtliche Relevanz zu prüfen, ist ein ebenso normaler Vorgang wie die Prüfung der Fördermittelvergabe an potentielle Antisemiten. Dass damit erstmals die Förderkulisse in Frage gestellt wird und Angst um die eigenen Pfründe weckt, offenbart Abgründe in der Forschungslandschaft.“ 


Der Text „ist eine Erklärung intellektuellen und moralischen Bankrotts. Er ist es nicht, weil er sich für Meinungsfreiheit einsetzt; das tut er vordergründig. Er ist es wegen seiner Leerstellen“, befindet Marc Felix Serrao in der NZZ. Die Unterzeichner erklären gleich zu Beginn, dass ihr Selbstverständnis sie dazu verpflichte, ihre Studenten zu schützen und diese in keinem Fall „Polizeigewalt auszuliefern“. Schon die Wortwahl ist entlarvend: Gewalt geht hier ausschließlich vom Staat aus. Polizisten, die Demonstranten gegen deren Willen wegführen, üben Gewalt aus: „Das ist in einem liberalen Rechtsstaat keine Lappalie. Aber das sind Hausfriedensbruch und Terrorverharmlosung auch nicht. Hochschullehrer, die freiheitliche Rechte nur einseitig hochhalten, sind Aktivisten“, so Serrao. Und sie erwähnen mit keinem Wort das Massaker des 7. Oktober 2023 nicht, ignorieren die Vergewaltigungen, die Folter ganzer Familien, die Entführungen, das Leid der Geiseln und von deren Angehörigen, den kochenden Antisemitismus weltweit. Sie sprechen vom Recht, sich friedlich zu versammeln: „In Wahrheit verteidigen sie eine Bewegung, die gewiss nicht nur aus Judenhassern besteht, die aber zulässt, dass dieser uralte Hass wieder hoffähig zu werden droht. Wohin die Reise geht, zeigen die Zustände in den USA, wo Rabbiner sich bereits gezwungen sahen, jüdischen Studenten zu raten, die eigene Hochschule zu meiden“.


Denn wenn sich die Studenten bei den Protesten auf das Recht auf freie Meinungsäußerung berufen, etwa wenn sie Slogans wie „Von Fluss bis ans Meer“ skandieren, erkennt man die Doppelmoral – waren es doch eben diese Studenten, die sonst jede öffentliche Äußerung darauf abklopften, ob sie irgendwen verletzen könnte. Nun nehmen sie sich das Recht heraus, Dinge in die Welt hinaus zu brüllen, die auf jüdische Kommilitonen bedrohlich wirken, die im Grunde Israels Auslöschung fordern. So schreibt der Migrationswissenschaftler Ruud Koopmans auf X: „Komisch nur, dass manche, die über „Deutschland den Deutschen“ zurecht empört sind, es ganz hip finden, auf Arabisch mit ‚Palästina den Arabern‘ mitzugrölen“ (so lautet die arabische Version von „from the river to the sea“). Eine „Mischung aus Anspruchshaltung, Weinerlichkeit und Pathos“ erkennt Jan Fleischhauer im Focus. „Das Benutzen der ‚falschen‘ Pronomen gilt als Gewalt, aber die Verwendung von Parolen, die in engstem Zusammenhang mit mörderischem Terror stehen, muss einfach mal ausgehalten werden“, beklagt auch Mirna Funk, selbst Jüdin, in der Welt.


Israel mordet, EU macht mit


„Artikel 5 des Grundgesetzes garantiert die Wissenschaftsfreiheit mit Verfassungsrang. Dies muss uneingeschränkt gerade auch für Lehrende wie Studierende mit jüdischen Wurzeln oder mit israelfreundlichem Denken gelten“, so der bildungspolitische Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, Thomas Jarzombek MdB, bei dpa. „Zunehmende Berichte über Menschen jüdischen Ursprungs, die sich nicht mehr trauen, ihre Herkunft zu zeigen und ihre Meinung zu sagen, bereiten mir große Sorgen. Sie stellen eine sehr ernsthafte Bedrohung unserer Wissenschaftsfreiheit dar.“ Der Staat müsse „gewährleisten, dass jüdische Studierende an den Universitäten angstfrei weiter studieren können“, sekundiert der Vize-Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Abraham Lehrer, im WDR. Nicht nur von Unis, sondern auch von Schulhöfen werde berichtet, dass jüdische Schüler unter Druck gesetzt und „in Mithaftung“ genommen würden für das, was im Gaza-Krieg geschieht.


Mehrere Unterzeichner gingen prompt in die Offensive und warben „für eine bessere Debattenkultur“ und einen „offeneren Umgang mit Protestcamps an Universitäten“. „Wir denken in zwei Lagern und spielen die einen gegen die anderen aus“, sagte Miriam Rürup, Direktorin des Moses Mendelssohn Zentrums und Professorin für europäisch-jüdische Studien an der Universität Potsdam, in der Bundespressekonferenz mit Blick auf propalästinensische Proteste an Universitäten. Anstatt die Camps zu skandalisieren, sollten Regeln und geschützte Räume für Diskussionen geschaffen werden. Wer das Protestrecht unterstützt, setze sich für die Grundrechte ein, so Rürup. Wenn diese Grundrechte infrage gestellt würden, werde auch die Grundlage für andere geschaffen, Grundrechte infrage zu stellen, sagte sie mit Blick auf anstehende Wahlen in Brandenburg. Die Polizei zu rufen, sei nicht die Antwort, sondern etwa Seminare zum Nahostkonflikt.


Der Professor für Staats- und Verwaltungsrecht mit Schwerpunkt Polizei- und Versammlungsrecht an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin (HWR), Clemens Arzt, sagte, Dialogbereitschaft sei keine Voraussetzung für eine Versammlung. Auch das aktive Rufen von Parolen sei kein Verstoß gegen Friedlichkeit. „Wir haben uns während Corona daran gewöhnt, dass Versammlungen verboten werden dürfen“, sagte Arzt, der eine Tendenz zu einer restriktiven Auslegung der Versammlungsfreiheit sieht – und damit Impf- und Israel-Gegner gleichsetzt. So könne der Präsident einer Universität rechtlich nicht entscheiden, dass eine Versammlung aufgelöst wird. Studierende haben das Recht zu demonstrieren, sagte Michael Wildt, emeritierter Professor für Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert mit Schwerpunkt Nationalsozialismus an der HU Berlin. Natürlich sei an Universitäten kein Platz für Antisemitismus und Rassismus, aber durch die Polizei werde Antisemitismus nicht abgeschafft, dies sei eine gesellschaftliche Aufgabe. Auch Palästinenser hätten das Recht auf Selbstbestimmung, meint Violinprofessor Michael Barenboim: „Für mich steht fest, die Studierenden haben nicht nur das Recht zu protestieren, sondern sie haben recht, zu protestieren.“


Camps sind riesig und diffus


Protestforscher Jannis Grimm, selbst Dozent an der FU, glaubt, dass Universitäten „Meinungsstreit“ aushalten müssen, und verharmlost damit Antisemitismus zur Meinung: Einer der Knackpunkte der Diskussion. „Die Polizei auf den Campus zu holen, ist keine Kleinigkeit“, sagt Grimm. „Es muss nicht eine Mehrheit den Protest gut finden. Was wir von den Inhalten halten, spielt keine Rolle. Es ist wichtig, dass diese Proteste stattfinden können. Das gilt auch für die Gegenproteste. Universität muss ein Ort der Kontroverse bleiben, wo die Kontroverse nicht durch die Polizei beendet wird.“ So hält es derzeit die Universität Wien, wo ebenfalls junge Menschen Zelte aufgeschlagen haben. Daneben stehen Transparente wie „Israel mordet, EU macht mit“. Die Uni Wien hat sich von den Anliegen der Protestierenden distanziert. Die Polizei sieht aber vorerst keinen Grund zur Auflösung. Es habe weder strafrechtliches Verhalten gegeben, noch sei die öffentliche Sicherheit gefährdet, hieß es.


Proteste seien urdemokratisch, sie setzten dort an, wo Debatten versagten, meint Grimm im Stern. Sie trügen Themen in die Öffentlichkeit, die ansonsten totgeschwiegen oder untergehen würden. So sei es beim Feminismus, bei der Apartheid, bei der Black-Lives-Matter-Bewegung, beim Klimawandel gewesen – und nun auch beim Krieg zwischen Israel und der Hamas. Für Universitäten bedeute das einen Drahtseilakt zwischen Meinungsfreiheit, politischen Rechten und Selbstbestimmung. Hochschulen seien schon immer die Orte gewesen, an denen auch weniger populäre Ideen und kontroverse Positionen platziert und Meinungsverschiedenheiten diskutiert werden konnten, so Grimm. Das gelte es zu verteidigen, auch wenn die Proteste unpopulär seien.


„Das Framing ‚Pro Palästina‘ oder ‚Pro Israel‘ ist verkürzt. Den meisten geht es um Anti-Kriegs- oder Anti-Genozid-Proteste“, meint der Protestforscher. Das fällt allerdings schwer zu glauben, bei manchen Parolen, die auf diesen Demos skandiert werden. „Bei Massenbewegungen kauft man sich immer ein extremes Lager mit ein“, verteidigt Grimm die Studentenproteste. Hat man solche Differenzierung je während der Corona- oder Bauernproteste wahrgenommen? In den Camps selbst sei es zudem schwer zu kontrollieren, wer mit welchen Symbolen und Hintergedanken an den Demonstrationen teilnimmt. „Die Camps sind riesig und diffus, und wer sich wenig auskennt, der feiert die Hisbollah naiverweise schon mal als antiimperialistischen Widerstand.“ Allerdings sei nicht erkennbar, dass die Studenten die Hamas ideologisch oder programmatisch befürworten. Auch der Slogan „From the river to the sea“ sei kein Indiz dafür. Im Gegenteil, sagt Grimm und verweist an die Studentenproteste gegen den Vietnamkrieg. Damals wurde der Slogan „Ho, ho, ho Chi Minh“ skandiert in Anlehnung an den bewaffneten Vietcong gegen die Vereinigten Staaten. „Aber niemand würde deshalb heute auf die Idee kommen, die Studentenbewegung als Ganzes wäre ein Befürworter von Gewalt gewesen.“


Da zu den Unterzeichnern des Statements auch Dozenten aus Baden-Württemberg gehörten, forderte der innenpolitische AfD-Fraktionssprecher Daniel Lindenschmid MdL Minister Strobl (CDU) auf, umgehend auf den Antisemitismus unter dem Hochschulpersonal zu reagieren: „Nun ist also der Antisemitismus im Land des konsequenten Durchgreifens gegen Antisemitismus, so Strobl immer wieder, angekommen. Ich fordere ihn unverzüglich auf, disziplinarrechtliche Konsequenzen mit derselben Intensität zu prüfen, mit der er vorgeblich ‚rechte’ Chats von einfachen Polizisten verfolgen lässt.“ Strobl reagierte zunächst nicht – wohl aber der Antisemitismusbeauftragte Michael Blume: Indem er die israelische Regierung kritisierte. So erweise Netanjahu mit seinem Verhalten dem Kampf gegen Antisemitismus einen Bärendienst. „Wir merken deutlich, dass der israelbezogene Antisemitismus stark zunimmt“, sagte er dpa. „In Zeiten, da der antisemitisch-moslemische Mob in den Straßen tobt, die Einführung eines weltweiten Kalifats fordert und Israel das Existenzrecht abspricht, grenzt es an geistige Umnachtung, für die Zunahme des ‚israel-bezogenen Antisemitismus‘ Rechtsextremisten aus Israel, den USA und Europa und die Regierung Netanjahu verantwortlich zu erklären“, ärgert sich Henryk M. Broder auf achgut und spricht von einem „Bärendienst-Beauftragten“. Erst bei der Vorstellung des Verfassungsschutzberichts Mitte Juni erklärte Strobl, dass akademischer Antisemitismus weder unter Studenten noch Dozenten geduldet werden könne.


Neue Form des Totalitären


Der ideologische Hintergrund dieser Bewegung ließe sich durch drei Dimensionen näher bestimmen: erstens durch eine radikale Kritik der westlichen Moderne, zweitens durch eine grundlegende Kritik der Universalität der Menschenrechte und drittens durch eine fundamentale Kritik des strukturellen Rassismus durch die Kolonialmächte, der bis heute weiterwirkt, erkennt der Bonner Moraltheologe Jochen Sautermeister im Cicero. Demnach gilt Israel gegenüber den Palästinensern als privilegiert: „Mit der Gründung des Staates Israel nach dem Zweiten Weltkrieg – wohlgemerkt als Reaktion auf den Holocaust – wurden die Palästinenser aus ihren Gebieten vertrieben und in prekäre, unwürdige Lebensbedingungen gedrängt. Israel wird entsprechend dieser Denkweise als unrechtmäßige Besatzungsmacht betrachtet, die die Palästinenser unterdrückt.“ Daher sei der gewaltsame Widerstand als legitim und der Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober als nationaler Befreiungskampf und also verständlich anzusehen. Der links ausgerichtete Antisemitismus folgt dem postkolonialen Denkmuster, Amerika würde als Schutzmacht von Israel seine kolonialen Interessen im Nahen Osten durchsetzen, meint auch der RCDS-Vorsitzende Lukas Honemann im Cicero. Zudem könnten Juden ja auch eigentlich gar nicht von Diskriminierung betroffen sein, weil sie zur „weißen“ Machtelite gehören würden. Aber: „Eine Überstrapazierung einzelner moralischer Aspekte verkehrt den moralischen Anspruch in sein Gegenteil. Rigoros und für sich alleine genommen, kann damit aber eine neue Form des Totalitären einhergehen“, erklärt Sautermeister.


Der Botschafter der Palästinensischen Autonomiebehörde in Deutschland und damit eigentlich eines „virtuellen Staates“, Laith Arafeh, wies jede Kritik an den propalästinensischen Protesten zurück. Der Spielraum für freie Meinungsäußerung und die akademische Freiheit mit Blick auf Israel und den Gaza-Krieg gehe immer weiter zurück, sagte der Botschafter dpa. „Wir verurteilen alle Formen von Fanatismus einschließlich Antisemitismus“, sagte er. „Genauso verurteilen wir den systematischen Einsatz falscher Antisemitismus-Vorwürfe gegen alle Stimmen, die ein Ende des Krieges fordern“. Er beziehe keine Position zu den Studentenprotesten, weil das eine Einmischung in innere Angelegenheiten wäre, sagte der Diplomat. „Aber ich unterstütze jedermanns Recht auf freie Äußerung, jedermanns Meinungsfreiheit, überall, jederzeit. Dieses allgemeine Menschenrecht sollte von allen geschützt werden, und jeder ist in der Pflicht zu handeln, wenn es verletzt wird.“


Da erscheint keinesfalls als Petitesse, dass unter Ausschluss der Öffentlichkeit das von Nancy Faeser (SPD) geführte Bundesinnenministerium den Islamverbänden einen „Islamtag“ in Deutschland in Aussicht gestellt hat. Wie die Welt weiter berichtete, sollte es bei den beiden geheimen Islamkonferenzen eigentlich um etwas ganz anderes gehen – nämlich den offenen und sich ausbreitenden Antisemitismus unter Muslimen. Doch die Islamvertreter bestritten den Vorwurf bei der ersten Sitzung im Februar: Der Judenhass gehe in der Regel nicht von Muslimen aus. Vielmehr sei es seit dem Hamas-Angriff auf Israel zu einem starken Anstieg von antimuslimischem Rassismus gekommen, berichtet die Zeitung unter Berufung auf Interviews und interne Dokumente. Durch ihre pauschale Haltung gewannen die Islamverbände offenbar die Oberhand über die Regierung. Das Faeser-Ministerium versuchte nun, die eisige Stimmung zu brechen, indem es auf die Gesprächspartner zuging. Ein Beamter habe die Ausrichtung eines „Islamtags“ ins Spiel gebracht.


Bei einer darauffolgenden zweiten geheimen Islamkonferenz im Mai ging der Innenministeriums-Abteilungsleiter für „Heimat, Demokratie und Zusammenhalt“, Jörn Thießen, noch einen Schritt weiter und beschwichtigte die Verbandsvertreter mit einem gewagten Vergleich. Denn die waren nach der medialen Kritik an der Forderung, in Deutschland ein Kalifat zu errichten, aufgebracht: Auch im christlichen „Vaterunser“ heiße es „Dein Reich komme“. Die Relativierung der Islamisten-Aufmärsche mit dem zentralen Gebet der Christen besänftigte offenbar die andere Seite. Ein Sprecher des Innenministeriums erklärte nun auf Welt-Anfrage, Thießen habe als studierter Theologe „Anmerkungen zu weltlichen und religiösen Vorstellungen vom ‚Reich Gottes‘ gemacht“.


Alerta, alerta, antifascista!


Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) sagte den Zeitungen der Funke Mediengruppe: „Es darf keine Bedrohung, keine Beleidigung, keine Billigung von Straftaten stattfinden. Gerade an Universitäten sollte das stärkere Argument zählen – und nicht das lautere Geschrei. Für das Leid in Gaza trage die islamistische Hamas die Verantwortung, und Deutschland habe eine besondere Verantwortung gegenüber Israel. Selbstverständlich könne sich auf die Meinungsfreiheit auch berufen, wer mit dieser Haltung nicht einverstanden sei. „Die Grenze ist dort erreicht, wo Gewalt ausgeübt oder zu ihr aufgestachelt wird, wo Persönlichkeitsrechte verletzt oder Kennzeichen terroristischer Organisationen verwendet werden“. Er empfinde manche Begleiterscheinungen der Proteste an den Universitäten besonders schmerzhaft: „Denn dort sollen junge Menschen Konflikte austragen – und zwar mit rational überprüfbaren Argumenten. Nicht, indem andere niedergebrüllt oder mit der Faust bedroht werden.“ Polizeieinsätze seine gerechtfertigt, denn „Universitäten sind besondere Orte – aber sie stehen nicht außerhalb des Rechts. Demonstrationen auf dem Uni-Campus unterliegen den gleichen Regeln wie andere Demonstrationen auch“.


Die woken Linken glauben als antiwestliche Kraft, dass der europäische Kolonialismus der ultimative Sündenfall der Menschheitsgeschichte war, versucht die Frankfurter Ethnologin Susanne Schröter im Cicero eine Erklärung. Der Westen als das personifizierte Böse habe die Welt seit der Entdeckung der USA durch Christoph Kolumbus zu einem ungerechten Ort der Unterdrückung gemacht. Die postkolonialen Linken betrachten sich selbst als Verbündete dieser unterdrückten Völker und identifizieren den weißen Westen und somit auch Israel als Täter, das als vermeintlich imperialistischer Staat zum Feindbild gemacht werde: „In dieser kruden Logik wird die mörderische Hamas auf groteske Art zu einer Befreiungsorganisation stilisiert.“


Sie bekräftigt Mathias Brodkorbs Beobachtung im Cicero, dass es nicht nur Juden, sondern ebenso Homosexuelle, Klimakleber und Transgender-Aktivisten wären, die sich nach der Errichtung eines islamistischen Kalifats in Deutschland „als erste warm anziehen“ müssten: „Wir blicken daher letztlich auf Schafe, die sich selbst zum Metzger führen.“ Diese kognitive Dissonanz erklärt sie so: „Zum einen überträgt man gnadenlos die eigenen naiven Vorstellungen auf den anderen und blendet unangenehme Aspekte des Gegenübers willentlich aus. … Außerdem gehen woke Linke gemäß dem intersektionalen Feminismus davon aus, dass von weißen Menschen diskriminierte Opfergruppen erst dann politische Durchschlagskraft erhalten, wenn sie sich verbünden. Dieser Logik nach bilden Muslime und queere Menschen eine natürliche Allianz gegen den imperialen Westen, von der beide Opfergruppen profitieren.“ Postkoloniale Linke machen sich also die Welt, wie es ihnen gefällt: „Ich nenne dies auch gerne das Pippi-Langstrumpf-Syndrom.“


Die Vorgänge muten auch deshalb so überzogen an, weil sie in ein bestimmtes linkes Muster der vereinseitigenden Emotionalisierung und instrumentalisierenden Moralisierung passen, das sich seit langem beobachten lässt. Dass Studenten deutschlandweit Räume von Hochschulen besetzen, um ein entschiedeneres Vorgehen gegen die „Klimakrise“ zu fordern, ist schon fast ein alter Hut. Das Studentenparlament der FU Berlin weigert sich übrigens, ungegenderte Anträge zu behandeln. Weniger harmlos: Während einer Politik-Vorlesung an der Kasseler Universität hat der Dozent Oliver Pye im April dreimal hintereinander eine Antifa-Parole skandieren lassen: Er forderte die rund 200 Studenten auf, mit ihm „Alerta, alerta, antifascista!“ zu brüllen. Mit jedem Mal wurde der Ruf durch den Hörsaal lauter, wie einem Bericht der Frankfurter Rundschau zufolge ein Video zeigt. Pye habe danach gesagt, dass Nazis und alle, die rechts seien, den Raum verlassen müssten. Der RCDS warf Pye vor, „potentiell gegen die Grundsätze der akademischen Neutralität und Freiheit“ verstoßen zu haben. Eine konservative Meinung werde von ihm als rechts eingeordnet. Zudem sei die „gewaltbereite Antifa verherrlicht worden“. Der RCDS schaltete nun die Rechtsaufsicht der Hochschule ein.


Die Universität Siegen entschloss sich etwa zum Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit, als sie ein internes Philosophieseminar wegen mangelnder „politischer Neutralität“ logistisch abwürgte: Professor Schönecker hatte unter anderen Thilo Sarrazin (Ex-SPD) und Marc Jongen (AfD) als Referenten ins Seminar eingeladen, auf dass sich die Studenten argumentativ selbst an den Herrschaften erproben könnten. Während ansonsten allenthalben mehr Praxisnähe in der Hochschulausbildung gefordert wird (und was könnte das im Fach Philosophie anderes bedeuten als den direkten Diskurs auch mit unliebsamen Autoren?), sahen Hochschul- und Fakultätsleitung es in diesem Falle anders: Zwar stehe man zur Wissenschaftsfreiheit und wolle das Seminar auch nicht unterbinden, allerdings komme in diesem Falle die Nutzung der Fakultätsmittel zur Durchführung der Veranstaltung nicht infrage. Da sich die Freiheit von Forschung und Lehre allerdings nicht ohne die erforderlichen finanziellen Mittel realisieren lässt, handelt es sich um den Versuch eines mittelbaren Eingriffs in die Wissenschaftsfreiheit – und zwar durch die Wissenschaft selbst.


Rettet unsere Universitäten!


Zieht man jetzt noch die Gründung des „Netzwerks Wissenschaftsfreiheit“ hinzu, das sich 2021 gegen die Reglementierung der Forschung durch falsch verstandene Political Correctness wehrte, bleibt ein völlig schiefes Bild der Wissenschaften hierzulande übrig. „Es gibt eine Art selbstorganisierte Unfreiheit der Wissenschaften, eine Lähmung der Streitkultur“, kritisierte damals die Bochumer Philosophin und Mitgründerin Maria-Sibylla Lotter im Cicero und erkannte eine „Reinigungsreligion“: Da es in manchen Fächern schon seit längerem kaum noch möglich sei, Vortragende zu wirklich kontroversen Themen einzuladen, die provozieren, schwinde auch das Bewusstsein für die Bedeutung der freien Debatte, die besonders in den Kultur- und Geisteswissenschaften wichtig ist. Was wir derzeit an den Universitäten erleben, ist eine bedenkliche Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit, meint auch Schröter. „Ja, die Universitäten sind ein Ort der Radikalisierung. Ja, von ihnen geht eine Gefahr für unsere Zivilgesellschaft aus. Und ja, es ist nicht auszuschließen, dass die bis jetzt bestehenden Gruppen nicht noch zu anderen Mitteln greifen“, bilanziert Honemann.


„Rettet unsere Universitäten!“ ruft gar Noam Petri, Vizepräsident der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD) im Cicero. An unseren Universitäten laufe etwas gewaltig falsch. Ganz besonders, wenn das Niederbrüllen von Podiumsteilnehmern als legitime Protestform, die Exmatrikulation von gewalttätigen Studenten als „autoritäre Politik“ und Handlungen extremistischer Studenten als „politische Aktivitäten“ verstanden wird. Er erkennt Symptome einer „Radikalisierung, die besonders häufig in den Sozialen Medien stattfindet und an unseren Universitäten nicht bekämpft, sondern teilweise bekräftigt wird“, und konstatiert den Irrglauben, dass der „böse Westen“, in dem man selbst mit allen demokratischen Rechten frei leben kann, gemeinsam mit Terroristen und Anti-Demokraten bekämpft werden müsse, um eine „gerechte Welt” zu schaffen. „Das Gedankengut dieser Gruppierungen richtet sich gegen den Westen als Ganzes. Der Westen läuft Gefahr, große Teile der jungen Generation an antiwestliche Ideologien zu verlieren.“


Das sieht auch Brodkorb so: „Die teilweise islamistisch und antisemitisch motivierten Proteste an Universitäten zeigen, wie das groteske Bündnis zwischen Wokeness und Islamismus die Freiheit der Wissenschaft und der westlichen Gesellschaft bedroht.“ Er fordert „harte Bandagen zum Schutz der Wissenschaft“ und meint damit eine „Aufrüstung des Rechts zur Unterbindung der zunehmend um sich greifenden Politisierung der Wissenschaft“, aber auch das Eintreten gegen die zunehmende Moralisierung als „wissenschaftsfremder Denunzierungscode“. „Ein Nachdenken und Ringen um zutreffende Einschätzungen wird kaum geduldet, ein ‚einerseits – andererseits‘ rasch unter Feigheitsverdacht gestellt“, stellt Lambert T. Koch, Präsident des Deutschen Hochschulverbands, in der Zeit fest und plädiert für eine „Erwägungskultur“ statt eines Bekenntniszwangs. Denn lebe gerade die Wissenschaft von sorgfältiger Beobachtung und empiriegeleiteter Differenzierung der Grautöne zwischen Schwarz und Weiß: „Im Zuge einer Politisierung der Wissenschaft indes werden diese wichtigen Grautöne leicht übersehen.“


Flucht vor Wissenschaft und Vernunft


Es sei „erstaunlich, dass Vertreter der Kritischen Theorie, die ja eigentlich Machtverhältnisse aufzeigen wollen und auch Macht beseitigen wollen, ihre Macht nutzen, um ihre Vorstellungen durchzusetzen“, befindet Honemann und beklagt, „dass sich viele Studenten zurückziehen, vielleicht sogar entpolitisieren“. Ein Großteil der Studenten der Wirtschaftswissenschaften und der Naturwissenschaften wollten von der Hochschulpolitik nichts wissen, es seien hauptsächlich Studenten der Politik- und Sozialwissenschaften, die sich einbringen. Da sich das sich in der geringen Wahlbeteiligung niederschlage, seien die AStAs, die Allgemeinen Studierendenausschüsse, „praktisch demokratisch kaum legitimiert … Man muss eigentlich das komplette Konstrukt der Hochschulpolitik hinterfragen, wenn letztendlich eine kleine Minderheit das ganze Bild der Studenten prägt.“


In den letzten Jahren hätten sich die Geisteswissenschaften in einem nie dagewesenen Maße radikalisiert, lautet auch Funks Fazit. „Saß man im Philosophiestudium in einem Seminar zur Kritischen Theorie, musste man zuhören, wie bekannte Professoren nur noch von ‚antisemitischem Rassismus‘ fabulierten, anstatt Antisemitismus zu sagen. Die Umwertung der Werte und die Etablierung einer neuen Wahrheit hatte begonnen.“ Ununterbrochen werde Juden die Definitionshoheit über die eigene Identität, über das eigene Leben und Schicksal entzogen, so als seien sie als Gruppe nicht mehr zurechnungsfähig: „Über unsere Köpfe hinweg wird Antisemitismus diskutiert, … über unsere Köpfe hinweg werden Begriffe, Symbole und Slogans, die unsere Vernichtung implizieren, neu definiert.“


Der Zweck staatlich alimentierter Hochschulen besteht aber nicht darin, irgendwelchen politischen Meinungen ein Spielfeld frei zu räumen, meint Till Kinzel in der Jungen Freiheit. „Leider kann man sich aber heute nicht mehr sicher sein, dass das, was aus den Universitäten kommt, auch Wissenschaft ist.“ Die schon länger zu beobachtende „Flucht vor Wissenschaft und Vernunft“, die sich auf vielen Gebieten auswirkt, habe sich inzwischen verstetigt. Und: Die Institution „Universität“ habe sich mit ihren Spitzenfunktionären „durch ihre willfährige Selbstideologisierung zugleich selbst zum Problem und zum Profiteur des Wissenschaftsmainstreaming gemacht. Das wissenschaftliche Establishment ist heute von der Forschungsförderung bis zur Personalpolitik aufs engste mit den Kräften der Politischen Korrektheit vernetzt.“


Ich trete nicht zurück


Deutlich wurde das im Juni an der Person der Berliner FU-Präsidentin Geraldine Rauch. Als ein X-Nutzer auf der Plattform gegen den angeblichen israelischen „Völkermord in Gaza“ wütete, versah Rauch, die sich sonst gerne als Kämpferin gegen Klimawandel, für das Gendern und „gegen Rechts“ inszeniert, den Tweet mit einem Herz. Bereits zuvor hatte Rauch einen Tweet geliked, der über türkische Demonstranten für einen Waffenstillstand im Gazastreifen schrieb. Dazu ein Bild von der Demo mit einem großen Transparent, das den israelischen Premier Benjamin Netanjahu abbildet, blutrünstig dargestellt, mit Hakenkreuzen auf dem Shirt. Ein weiterer von Rauch gelikter Beitrag wurde von dem deutschen Publizisten Bernd Liske gepostet, der sich wiederholt kritisch über die westliche Unterstützung der Ukraine äußert. Liske bezeichnet die israelische Operation in Gaza als „Völkermord“, dem schon „über 13.000 Kinder“ zum Opfer gefallen seien.


Als die Sache öffentlich wurde, meldete sich das Uni-Präsidium, sprach mit Blick auf den zweitgenannten Like von einem „inakzeptablen Fehler“, von dem man sich „entschieden“ distanziere. Rauch selbst behauptete, sie habe den Demo-Tweet „wegen seines Textes geliked“ und das Bild dazu nicht wahrgenommen: „Ich möchte ganz ausdrücklich betonen, dass ich den Tweet nicht geliked hätte, wenn ich die antisemitische Bildsprache aktiv wahrgenommen hätte.“ Für den Fehler wolle sie sich „aufrichtig entschuldigen“. Auf den Völkermordvorwurf ging sie nicht ein, nahm ihn nicht zurück. Der Akademische Senat der Uni entschloss sich dann zu einem äußerst seltsamen Vorgehen: Er stellte keinen Abwahlantrag und bekräftigte, dass Rauch „keine Antisemitin ist“. Man sei „entsetzt über die mediale Hetze“. Gleichzeitig habe Rauch aber „unstrittig einen schwerwiegenden Fehler“ begangen. Und deshalb forderten in einem unverbindlichen „Meinungsbild“ 13 von 25 Senatoren ihren Rücktritt. Am Tag darauf dann die nächste Runde in diesem kuriosen Trauerspiel, als die TU selbst auf ihrer Website verkündete: „Knappe Mehrheit für Rücktritt der TU-Präsidentin / Geraldine Rauch in ihrer Reaktion: ‚Ich trete nicht zurück.‘“


Das Kuratorium der TU hatte mehrheitlich entschieden, dass ihr dennoch die Chance eingeräumt werden sollte, „das von ihr angebotene Programm zur Festigung des Vertrauens in die TU Berlin und zur Wahrung der Tradition als weltoffene, tolerante und anti-rassistische Universität erfolgreich umzusetzen.“ Sandro Serafins Fazit lautet bei Tichys Einblick prompt: „An deutschen Bildungseinrichtungen herrscht mittlerweile ein anti-israelisches bis antisemitisches Grundrauschen“.  Die Generalsekretärin der Berliner CDU Ottilie Klein forderte in Bild Rauchs Rücktritt, auch der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, hatte Rauch deutlich kritisiert. Das Kuratorium dagegen entrüstete sich noch: „Die zum Teil aggressiven Anschuldigungen gegenüber Frau Rauch sind aus Sicht des Kuratoriums ungerechtfertigt, lassen den mangelnden Respekt vor der Person und dem Amt vermissen und sind ein eklatanter Verstoß gegen das Gebot der Verhältnismäßigkeit.“


Zweierlei Recht


In Deutschland herrscht inzwischen zweierlei Recht“, erregte sich Klaus Rüdiger Mai im selben Blatt, „erstens das uns noch vertraute kodifizierte Recht, das Recht, das auf der deutschen Gesetzgebung fußt, und zweitens das Gesinnungsstrafrecht, das auf der postmodernen, das heißt rotgrünen Weltanschauung beruht.“ Zweierlei Recht ist es in der Tat, wenn hingegen eine studentische Barbesucherin, die auf Sylt ein Lied mitgesungen hat, dessen Inhalt man moralisch und politisch verwerflich finden kann, das jedoch rechtlich nicht zu würdigen ist, in einer Hamburger Hochschule Hausverbot bekommt, nicht an Lehrveranstaltungen und Prüfungen teilnehmen darf, gerade ein Semester verliert und exmatrikuliert werden soll. Dass die Mathematikerin Rauch nicht mehr Mitglied im Zukunftsrat von Bundeskanzler Olaf Scholz ist, ändert an den Doppelstandards nicht. In der Debatte über Antisemitismus sei jedes Maß verloren gegangen, relativiert dagegen Mark Schieritz in der Zeit.


Wie die Scheuklappen eines Kutscherpferdes sorge Polarisierung dafür, dass auch formal Hochgebildete zu fanatischen Ideologen oder deren Gefolgsleuten werden können, beklagt Kinzel. Diese aber fänden sich heute auch im akademischen Betrieb und entwickelten dort eine „aktivistische Betriebsamkeit“. Damit aber entstehe auch ein Problem für die Wissenschaftsfreiheit, weil auch von innerhalb der Universitäten die innere („ethische“) Bindung an Wissenschaftspflichten zugunsten der Politisierung in Frage gestellt ist: „Akademische Freiheit ist nicht identisch mit Meinungsfreiheit, denn letztere steht nicht unter Begründungspflicht“. Er verweist auf Josef Piepers Diktum „Akademisch heißt antisophistisch“ (1964). Sophistik zeichne sich dadurch aus, dass Wissen instrumentell in Bezug auf Machtinteressen verwendet wird. Der sogenannte Aktivismus in der heutigen Wissenschaftslandschaft seit daher ein solches sophistisches Phänomen: „Denn zwischen dem Interesse an der Wahrheit, das der Wissenschaftler als Wissenschaftler hat, und dem Interesse an politischem Erfolg, den der Wissenschaftler als Aktivist erwünscht, besteht eine Spannung.“


Das bekräftigt im selben Blatt auch der Siegener Philosoph Dieter Schönecker. Meinungen dürfen natürlich auch Wissenschaftler haben, solange sie aus der Wissenschaft erwachsen und von ihnen als Wissenschaftler erforscht und gelehrt werden; sie müssen nicht wahr, aber sie müssen wissenschaftlich begründet sein. „Eine Mathematikerin hat sich im Hörsaal nicht zum Gaza-Krieg zu äußern; ein Philosoph, der sich mit der Theorie des gerechten Krieges befasst, darf das sehr wohl.“ Dass wir heute mehr Handlungen für moralisch verwerflich oder auch erlaubt halten als früher, sei aber nicht Resultat einer inflationären Moralisierung, einer Hypermoral, sondern die Voreiligkeit, der beanspruchte Infallibilismus, der Dogmatismus und vor allem der Mangel an Urteilskraft, der zu einer „Überdehnung“ von Begriffen und einer „epistemischen Arroganz“ führe.


Das vom Innenministerium geförderte Berliner Tikvah Institut hat unterdessen eine juristische Handreichung vom Freiburger Anwalt Dr. Patrick Heinemann erstellen lassen. Sie soll zeigen, welche Möglichkeiten Hochschulleitungen haben, um Hochschulen im Hausrecht, im Beamtenrecht und im Hochschulrecht sicher zu machen. Antisemitisches Verhalten verletze die Menschenwürde nach Artikel 1 GG, ist daher niemals gerechtfertigt und könne auch nicht politisch mit der Berufung auf die Meinungsfreiheit begründet werden, heißt es darin. Eine nichtprivate Hochschule kann auf antisemitisches Verhalten von Studenten mit dem Hausrecht reagieren und ein temporäres Hausverbot aussprechen. Aber gerade Berlin hat das Ordnungsrecht über Studenten ausdrücklich abgeschafft. Dort sei die Exmatrikulation ausgeschlossen, die maximale Sanktion seien drei Monate Hausverbot. Antisemitisches Verhalten von verbeamteten Lehrpersonal verstoße gegen Dienstpflichten und sei als Dienstvergehen disziplinarrechtlich zu verfolgen. Ein Verhalten außerhalb des Dienstes sei jedoch nur dann ein Vergehen, wenn es das Vertrauen in einer für das Amt der verbeamteten Person bedeutsamen Weise beeinträchtige.


Das „Ideologie-Amalgam des Wokismus“ habe sich längst in allen Bereichen des akademischen Milieus fest eingerichtet, fasst Ferdinand Knauss im Cicero die Vorgänge zusammen. „Die Saat, die Vordenker des Postkolonialismus wie Frantz Fanon und nicht zuletzt auch Edward Said, einer der bis heute verehrten Säulenheiligen der konstruktivistischen Geschichts- und Kulturwissenschaft, mit seiner These des ‚Orientalism‘ ausbrachten, ist aufgegangen. Ihr zufolge ist jeder Nicht-Weiße grundsätzlich als zumindest indirektes Opfer westlich-weißer und somit letztlich auch jüdischer Unterdrückung zu betrachten.“ Beseitigt werden könne der inhärente Antisemitismus und mit ihm der antiwestliche Zerstörungswille dieser kruden Theorien vermutlich nur auf dem umgekehrten Weg, wie er an die Macht kam: „Indem ihre Vertreter aus Schlüsselpositionen wie dem Präsidentenamt einer Universität entfernt werden“. Dazu aber wäre ein unbedingter politischer Wille notwendig. Und dessen Voraussetzung sei zunächst einmal, überhaupt zu erkennen, welcher zerstörerische Ungeist sich der Universitäten und anderer geistiger Produktionsstätten bemächtigt hat. Diese Erkenntnis nun harrt noch ihrer bundesweiten Akzeptanz.


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Über den Autor: Thomas Hartung, geb. 1962 in Erfurt; promovierte nach seinem Lehramtsstudium in Magdeburg 1992 zur deutschen Gegenwartsliteratur und war danach als Radio- und Fernseh-Journalist in Sachsen-Anhalt und Sachsen sowie als freiberuflicher Dozent für Medienproduktion und Medienwissenschaft an vielen Hochschulen Deutschlands tätig; der bekennende „Erzliberalkonservative“ trat als Student in die LDPD ein und 1990 aus der FDP aus: von „misslungener Einheit“ nicht nur mit Blick auf die Parteienfusion spricht er bis heute; Hartung war im April 2013 Mitbegründer der AfD Sachsen und wurde zweimal zum Landesvize gewählt. Seit März 2020 ist er Pressesprecher der AfD-Fraktion Baden-Württemberg.



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