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Thomas Hartung: ROTHS GRÜNE LEIDKULTUR

Antikolonialismus statt Antisemitismus wird das Motto der grünen Staatssekretärin Claudia Roth – anders sind ihre Vorstellungen zur „Erinnerungskultur“ nicht zu deuten. Damit offenbart sich erneut der Deutschlandhass einer Partei, die den Nationalstaat abschaffen will.



Was im Sommer auf die Kulturszene Deutschlands zukommen könnte, machte Ende Februar ein Leak auf der Seite der „Beauftragten für Kultur und Medien“ im Kanzleramt (BKM), Kulturstaatssekretärin Claudia Roth (Grüne) deutlich. Ob beabsichtigt oder nicht, stand kurzzeitig der Entwurf des künftigen „Rahmenkonzepts Erinnerungskultur“ der BKM online. Dieses Konzept soll die im Koalitionsvertrag der Ampel vorgesehene „Aktualisierung“ des „Gedenkstättenkonzeptes des Bundes“ von 1999 leisten, das zuletzt 2008 umfassend „fortgeschrieben“ und erweitert wurde. Roth versprach im Bundestag dazu im Juli 2022: „Um eine vielschichtige, von der Zivilgesellschaft getragene und in die Zukunft gerichtete Erinnerungskultur zu schaffen, werden wir – aufbauend auf bestehenden Förderrichtlinien wie der Gedenkstättenkonzeption – bisherige Formen und Praktiken der Erinnerung und der Vermittlung neu justieren, um auf diese Weise den geänderten gesellschaftlichen Realitäten gerecht zu werden.“


Alles neu am Runden Tisch


Der Entwurf solle „zunächst mit wichtigen zivilgesellschaftlichen Akteurinnen und Akteuren diskutiert“ werden, denen er auch zur Verfügung gestellt werde: „Es ist ein Arbeitsdokument, das nun auf der Basis dieses Diskussionsprozesses weiterentwickelt wird. Deshalb wurde die Entscheidung getroffen, dass nicht ein immer wieder aktualisiertes Dokument auf die Website gestellt wird“, teilt die Behörde der Welt mit. Zwei Monate später aber steht noch nicht einmal der „Kreis der Teilnehmenden“ für einen „Runden Tisch“ über die „Neukonzeption der Gedenkstättenkonzeption des Bundes und zu weiteren Fragen der Erinnerungskultur“ fest. Das geht aus den dürftigen rund hundert Wörtern hervor, mit denen Roth drei präzise Fragen der Unionsfraktion „beantwortet“ hat und die es ebenso in sich haben wie das gesamte „befremdliche Dokument“, wie Sven Felix Kellerhoff in der Welt schrieb. Denn es zielt auf eine Wende in der deutschen Erinnerungskultur. Zwar wird pflichtgemäß die Bedeutung der Verbrechen des NS- und des SED-Regimes für das Gedenken betont. Hinzutreten soll jedoch die „Erinnerung an das deutsche Kolonial-Unrechtssystem und dessen Aufarbeitung“. Beides bilde eine „notwendige neue erinnerungskulturelle Aufgabe“.

Doch Roth weigert sich, die Namen jener „Persönlichkeiten aus den Bereichen Wissenschaft und Erinnerungskultur“ zu nennen, auf deren „Expertise“ sie „bei der Erstellung des Entwurfs“ zurückgegriffen haben will: „Diesen Persönlichkeiten wurde im Rahmen der Gespräche Vertraulichkeit zugesichert.“ Prompt stellt die kulturpolitische Unionsfraktionssprecherin Christiane Schenderlein MdB in der Welt fest, dass die Erarbeitung des Rahmenkonzepts ganz offensichtlich ohne übliche Gesprächsformate und fachliche Expertise erfolgte: „Der von Claudia Roth geplante Systembruch in der Erinnerungskultur hat keinen breit getragenen Konsens.“ Entweder wurden die Vertreter der einschlägigen Institutionen gar nicht in die Überlegungen zu einem überarbeiteten Gedenkstättenkonzept einbezogen – oder man hat zwar Gespräche geführt, jedoch unter Vorspiegelung falscher Tatsachen. Sie spricht von „Pseudo-Gesprächen“, die „entweder eine ungeahnte Überheblichkeit oder einen ideologisch motivierten Alleingang von oben“ offenbarten. Darauf lässt ein weiterer Satz im Schreiben Roths schließen: „Auch fanden die Gespräche nicht immer dezidiert unter der Thematik ,Rahmenkonzept Erinnerungskultur‘ statt.“ Fanden sie eigentlich überhaupt statt, wenn Fakten dabei Roths wunderbar einfache Vorstellungen von der Welt hätten zerstören können?


Eingebettet ist dieser undemokratische Vorgang in eine Kette von Zumutungen, ja Ungeheuerlichkeiten, die Roths Verständnis – und das ihrer Partei – einerseits von Deutschland und seiner Geschichte, andererseits von der Welt und der aktuellen deutschen Platzzuweisung darin offenbaren, wobei sie ihre Rolle je nach politischer Verwertbarkeit mal bagatellisiert und mal glorifiziert. Die Verantwortlichen hätten ihr nicht die Wahrheit gesagt, behauptete sie angesichts der antisemitischen Beiträge zur Documenta, oder: Das ZDF habe Regie geführt bei der Berlinale-Preisverleihung, die zur Plattform für Israel-Hetze und Palästinenser-Propaganda wurde. Die ehemalige Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland und heutige Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde in München und Oberbayern, Charlotte Knobloch, forderte Roths umgehende Entlassung. Die Kulturstaatsministerin bekämpfte dagegen die Bibelzitate am Berliner Schloss, weil sie angeblich für den absoluten Herrschaftsanspruch des einstigen Monarchen oder gar des Christentums stehen. „Der Preussenkönig ist längst tot, aber vor dem Absolutheitsanspruch der neuen Demokratieförderung ist niemand sicher“, ärgert sich Claudia Schwartz in der NZZ – dem Blatt, das sich in den letzten Wochen zum schärfsten Kritiker grüner Kulturdeformation entwickelt hat.


Abbruchmentalität prägt auch ihre Haltung gegenüber der Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK), die unter anderem mit der Berliner Museumsinsel für die Ideale der deutschen Kulturnation steht und um deren unter Roths Vorgängerin Monika Grütters angekündigten Reformprozess lautes Schweigen herrscht – mit Ausnahme der Ankündigung Mitte April, das Stiftungsgesetz sowie die Satzung zu novellieren, die Finanzierung neu zu ordnen – und die Stiftung umzubenennen. Und unter ihrer Ägide wurde das Deutsche aus dem Namen gestrichen beim „Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen des östlichen Europa“. „Aber was kümmern einen die Einwände des Bunds der Vertriebenen, die so lange um Anerkennung ihrer Geschichte kämpfen mussten, wenn man am Christopher Street Day die Regenbogenfahne hissen kann?“, moniert Schwartz. Es ist also dringend zu fragen, was Roth, ja was die Grünen insgesamt – die ja Franz Josef Strauß schon in den 80er-Jahren „Vaterlandsverräter“ nannte – für ein Problem mit der deutschen Geschichte haben und was die Gründe dafür sein könnten.


Wir reden vom Wetter


Bei der Bundestagswahl 1990 waren die Grünen noch ehrlich und warben mit dem Slogan „Alle reden von Deutschland. Wir reden vom Wetter“. Mit dieser Ehrlichkeit scheiterten sie aber bei den Wählern und verpassten den Einzug in den Bundestag. Aus dieser schweren Niederlage haben sie also gelernt und versuchen seither erfolgreich, sowohl ihre Abneigung gegen Deutschland zu verbergen als auch diese Abneigung als welt- und damit heimatrettend zu verkaufen. Dieser Spagat, der Menschen mit gesundem Menschenverstand unlösbar anmutet, ist seitdem unter Missachtung aller ökonomischen, sozialen und auch wissenschaftlichen Grundlegungen so forciert worden, dass er nicht mehr als sportliche Übung, die auch zu Verletzungen führen kann, sondern allenfalls kosmetische Behandlung wahrgenommen wird, die man mindestens ästhetisch schön finden muss.

Schon im Kommunistischen Bund Westdeutschlands KBW, aus dem exponierte Grünen-Funktionäre hervorgingen, konnte man mit den Werten der Bundesrepublik nichts anfangen, da galt das Gesellschaftsmodell Maos als vorbildlich. Insofern kann der Hang der Grünen zum Autoritären, ja letztlich bei nicht wenigen zum Jakobinismus, kaum verwundern – siehe nicht zuletzt das Corona-Regime Winfried Kretschmanns in Baden-Württemberg. Sie sind durch den sogenannten „Marsch durch die Institutionen“ gegen die herrschende Gesellschaftsordnung aufgestanden. Und was war die Gesellschaft für sie? Die deutsche, postfaschistische, patriarchalische. Sie neigen also psychopathologisch dazu, wegen einer mittlerweile internalisierten Kollektivverantwortlichkeit eine Umwertung fast aller tradierten Werte propagieren zu müssen – und verdrängen dabei, dass daraus nicht zwangsläufig eine allgemein akzeptierte und tragfähige neue Kultur entsteht: Man kann durchaus eine Nationalneurose diagnostizieren. Gerade in der Generation Roths sitzt der „antifaschistische Nachkriegsreflex“ dermaßen tief, dass schlichtweg alles Deutsche nach Sportpalast riecht.


Diese Generation glaubt ernsthaft, Abbitte für die Taten ihrer „Nazi-Vorfahren“ zu leisten, indem sie die totale Selbstaufgabe zur Staatsräson macht. Spätestens in der „Hochpräsenz der Vergangenheit“ (Norbert Frei) ab Mitte der neunziger Jahre verband sich die Erinnerung an die Opfer und die Mahnung an die Täter unauflöslich mit der deutschen Identitätsfrage. Vielleicht gilt in dieser nie aufgearbeiteten Traumatisierung nationale Selbstbestimmtheit synonym mit nationaler, ja totaler Niederlage: Als ob Deutschland, sobald es – wie alle anderen Staaten auch – seine Interessen verfolgt, sofort wieder eine halbe Welt gegen sich hätte. Gerade die pauschale Ablehnung Preußens und seines Erbes geht oft mit einem expliziten Pazifismus oder zumindest Anti-Bellizismus einher, erkennt Ronald G. Asch auf Tichys Einblick: „Man sieht die Bundesrepublik sicherheitspolitisch eben doch eher als erfreulich machtlosen Duodezstaat und genießt die eigene Ohnmacht geradezu.“


Und: Als politisch-institutionalisierter Arm der 68er-Revolution sind die Grünen nicht angetreten, sich vom Souverän, dem deutschen (Wahl)Volk, ins Kanzleramt wählen zu lassen. Sie sehen sich als gesellschaftskritische Partei, die, wie alle totalitären Parteien, über eine höhere Einsicht verfügt – gesinnungsmäßig hinsichtlich der „wahren“ menschlichen Natur und ihrer Bedürfnisse, des Klimas, der Energieversorgung etc. Sie allein wissen, was der Mensch will und wie die Natur funktioniert. Sie verstehen sich als Erzieher und meinen, über demokratieausschließendes Allwissen zu verfügen. Ihre Maxime von einer politischen Korrektheit, einer quasi naturwissenschaftlichen Wahrheit, widerspricht dabei dem wesensnotwendigen Pluralismus an Meinungen und der Fehlbarkeit von weltanschaulichen Entscheidungen: Korrektheit kennt nur Richtig oder Falsch. Das ist fatal, denn ob das Narrativ bspw. „Die Juden sind schuld“ oder „Die Impfgegner sind schuld“ oder „Die Klimaleugner sind schuld“ heißt, ändert nichts am sozialen Machtprinzip: Im Namen einer pseudowissenschaftlich zurechtgezimmerten Ideologie werden die Gegner derselben als Volksfeinde diffamiert und ausgegrenzt. Das ist der Faschismus, den Berthold Franke in den Blättern für deutsche und internationale Politik letztes Jahr neu definieren wollte.


Marxistisch geprägte Kulturkämpfer machen sich also ans Werk, alles zu zerstören, was sie für überkommen halten. Ihnen geht es nicht darum, das Land voranzubringen, Wohlstand zu erhalten und, damit verbunden, echte Probleme zu lösen. Ihr Ziel ist vielmehr der Abriss des Landes, um auf den Trümmern ihre Utopie einer neuen sozialistischen Gesellschaft aufzubauen, in der alle Unterschiede eingeebnet sind. Die Grünen wollen deswegen ein individualisiertes, von Kollektivzwängen abgekoppeltes Nebeneinander politisch korrekter Menschen, die zwar die Freiheit haben, ihre ureigene geschlechtliche Identität zu wählen, aber nicht mehr die Freiheit zu kritisieren, was die Regierung als legitim vorgibt. Es geht um die totale Herrschaft über Kultur und Politik. „In einer gefestigten Demokratie glaubt man an die Macht der Argumente. Die Grünen dagegen glauben an die Macht der Rolle, die sie in der Spätphase Westdeutschlands gespielt haben. Deshalb ist die Welt der Grünen steinalt, autoritär, illiberal und absichtlich völlig verständnislos für andere Sichtweisen“, so Don Alphonso in der Welt.


Postnationale Konstellation


Hinzu kommt die sozialistische Tradition des Internationalismus, der zusammen mit der kapitalistischen Globalisierung ein bemerkenswertes Amalgam bildet. Zunächst geht jede Konstituierung eines „Kollektivs“ – von der Schulklasse über die Fußballmannschaft bis zur Nation – einher mit der Konstruktion von Unterschieden: Zwischen Innen und Außen, Wir und die Anderen, Eigenem und Fremden. In allen Kollektiven ist aber auch latent die Tendenz enthalten, nach innen Konformismus zu erzeugen, der sich zu Repression steigern, und nach außen Abwehr, die zur Frontbildung gegen das Fremde und zu Aggressivität gegen Außenstehende werden kann. Letztlich liegt der kollektiven Identitätsbildung ein grundlegendes Bedürfnis des Homo Sapiens als Gemeinschaftswesen zugrunde. Völlig entziehen kann sich ein Individuum kollektiven Identitäten nicht, auch nicht nationaler Identität. Das gilt auch und gerade für Linke, für die die Grundeinsicht des philosophischen Materialismus gilt, wie sie Marx in seiner sechsten Feuerbachthese formuliert hat, wonach das Wesen des Menschen „das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ ist.


Der an sich herrschaftskritische, emanzipatorische Internationalismus war die grenzüberschreitende Solidarität der Subalternen aller Länder gegen die herrschenden Klassen aller Länder, richtete sich dementsprechend gegen alle kapitalistischen Eliten und wird trotz seiner Instrumentalisierung durch den Staatssozialismus von Stalin über Mao bis Honecker als normative Orientierung nach wie vor in Ehren gehalten. Wer nun seinen emanzipatorischen Gehalt von Internationalismus nicht mit (Neo)liberalen teilen will, spricht lieber von Globalismus. Dessen soziale Basis sind die Repräsentanten der herrschenden Eliten – Manager, Politiker, Spitzenbürokraten –, aber auch die Mittelschichten mit kosmopolitischem Habitus. Sie repräsentieren eine globalistische Lebensweise, die von Medien und Kulturindustrie zum allgemeinverbindlichen Leitbild erhoben wird. Der Klassencharakter ihrer privilegierten Lebensweise verschwindet hinter einer glamourösen Fassade, die zugleich die Aufkündigung der in den Nationalstaaten erkämpften Klassenkompromisse versteckt.

Aber meinte „Proletarier aller Länder vereinigt Euch!“ nun die Abschaffung dieser Länder; ist es ein Missverständnis, dass der Internationalismus den Nationalstaat in Frage stellt? Für manche im Zuge der Globalisierungsdebatte schon: da wurde die These von einer „postnationalen Konstellation“ (Habermas) vertreten, oder einer als „Empire“ vorgestellten transnationalen Weltgesellschaft (Hardt/Negri). Beide halten den Nationalstaat für obsolet – eine Idee, die bei den Grünen auf fruchtbaren Boden fiel. Vor den Bundestagswahlen 2021 wies der Historiker Michael Wolffsohn in der NZZ zudem auf das mangelnde Geschichtsverständnis der Grünen hin. So erklärten sie in ihrem Wahlprogramm, dass die „deutsche Verbrechensgeschichte“ aufgearbeitet werden müsse unter Berücksichtigung bisher „wenig beachteter Opfergruppen“, erwähnten aber dabei den Holocaust nicht (mehr). Umso mehr Platz räumte man dagegen der Aufarbeitung des Kolonialismus ein und forderte zudem, die „deutsche Erinnerungskultur für die Erfahrungen und Geschichten“ von Migranten zu öffnen. Das muss uns gleich nochmal interessieren.


Denn schon früh nach 2015 ließ man in vielen Zeitungen das Feuilleton aufs Titelblatt, um die Fluchtbewegung aus der richtigen welthistorischen Warte zu betrachten. Sogar das Wort „Epochenbruch“ fiel an mancher Stelle. Der Flüchtlingsstrom galt von Anfang an als eine neue Spielart der Globalisierung. So eindeutig, dass die Wendung in höchste Regierungskreise emporstieg. Im Kanzleramt begründete man die eigene Flüchtlingspolitik mit der Aussage, dass „in Zeiten der Globalisierung“ politische Macht zwangsläufig begrenzt sei. Und Thomas Schmid richtete in der Welt zusätzlich das Weitwinkelobjektiv auf die Geschehnisse und schlussfolgerte halb melancholisch, halb optimistisch: „Wir werden wohl lernen müssen, über den Nationalstaat hinauszudenken.“


Schmid schrieb vom Ende der Epoche der Nationalstaaten und mit ihr vom Ende alter Grenzsicherheit. Die Minderung nationalstaatlicher Souveränität sei ein Zug der Zeit, schreibt er: „Zu ihm trägt die globalisierte Wirtschaft ebenso bei wie der ans Reisen gewohnte Bürger und der nach Europa kommende Migrant.“ Was folgt, ist ein Zeitabschnitt des Offenen, Weitläufigen, Mobilen – und auch des Unkontrollierbaren. Doch wenn Souveränität, Grenzen und Kontrolle in dieser neuen Epoche gestrige Eigenschaften sind, so darf man zurecht nach der Gefährlichkeit des Neuen fragen. Denn wo der Nationalstaat sich aus der Geschichte verabschiedet, geht dort mit ihm nicht auch die Demokratie? Wenn der Staat nicht mehr Herr seiner Grenzen ist, verliert dann nicht die Bevölkerung ihre Möglichkeit auf Selbstbestimmung? Geht mit der Souveränität nicht auch der demokratische Souverän verloren, wie ihn die Aufklärer in den Büchern und die Bürger auf der Straße erkämpft haben?


Kein warmes Herz


Schon die Flüchtlingsbeauftragte der Bundesregierung, SPD-Vize Aydan Özoguz, fabulierte 2015, dass unser Zusammenleben täglich neu ausgehandelt werden müsse. Und auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise sagte die grüne Küchenhilfe Katrin Göring-Eckardt, heute Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages: „Unser Land wird sich ändern, und zwar drastisch. Und ich sage euch eins: Ich freu mich drauf. Vielleicht auch, weil ich schon mal eine friedliche Revolution erlebt habe. Dieses hier könnte die sein, die unser Land besser macht.“ Es ist das eine, wenn ein Politiker Einwanderung grundsätzlich begrüßt, stellte Morten Freidel dazu in der NZZ fest: „Es ist etwas anderes, wenn er sie geradezu herbeisehnt, um die Deutschen von sich selbst zu kurieren.“


Nicht umsonst schlug kürzlich ein anonymer Staatsschützer in der Bild Alarm: „Es wenden sich auch immer mehr Eltern deutscher Kinder an Beratungsstellen, weil die christlichen Kinder konvertieren wollen, um in der Schule keine Außenseiter mehr zu sein.“ Als Ursache sieht er die hohe Anzahl migrantischer Schüler aus islamisch geprägten Ländern. Dazu passt, dass sich Achtklässler im Musikunterricht an einer Riesaer Schule bei der Wahl eines Liedes für die Nationalhymne entschieden – und dafür eine Sechs erhielten. Parallel dazu bekräftigte Schauspielerin Katharina Thalbach ihre Forderung nach einer neuen Nationalhymne. Die Zeilen des Dichters August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, der den Text 1841 verfasste, „machen doch kein warmes Herz“, so die 70-Jährige im Interview mit der Süddeutschen, für sie sollte es Brechts „Anmut sparet nicht noch Mühe“ sein.


Schon 2021 forderten Hunderte Grüne, das Wort Deutschland aus dem Wahlprogramm der Partei zu streichen: einen „Deutschlandknacks“ diagnostiziert Freidel. Für wen, will man da fragen, sollte das Wahlprogramm denn gelten: für die Schweiz, die EU oder ein Utopia namens Grünstaat, Friedensreich, Elbien, Besserland, Feministan… die Aufzählung kann beliebig fortgeführt werden. Der Antrag wurde am Ende abgelehnt. Aber allein die Diskussion zeigte, dass die Partei mindestens eine antideutsche Strömung hat, die zunehmend mehr Gewicht erhält. Die Beispiele sind bekannt und oft zitiert: Der damalige Fraktionsvorsitzende der Grünen in Schleswig-Holstein, Robert Habeck, ließ seinem Deutschland-Ekel mit den Worten freien Lauf „Patriotismus, Vaterlandsliebe also, fand ich stets zum Kotzen. Ich wusste mit Deutschland nichts anzufangen und weiß es bis heute nicht.“ Und  Roth selbst machte es nichts aus, in einer Gruppe Linksradikaler zu „demonstrieren“, die „Deutschland, du mieses Stück Scheiße“ skandierten, wobei angeblich auch „Deutschland verrecke“ und „Nie wieder Deutschland“ zu hören war.


Maßgebliche Grüne mit Roth an der Spitze gingen erinnerungskulturell seit vielen Jahren einen Sonderweg. Während in allen anderen Ländern jedes geschichtliche Ereignis irgendwann einmal historisiert wird, ist man bei uns weiterhin dauerhaft damit beschäftigt, die eigene Vergangenheit zu bewältigen. Die Grünen verdammen etwa den Nationalismus eigentlich in Grund und Boden. Er ist für sie die Ursache aller Kriege. Dabei übersehen sie, dass Kriege nicht von Ideologien gemacht werden, sondern von Menschen, die sich der Ideologien bedienen. Sie unterstützen bedingungslos die Ukrainer in ihrem Krieg, der besonders von nationalen Kräften forciert wurde: „No matter what my German voters think, but I want to deliver to the people of Ukraine“, erklärte Außenministerin Annalena Baerbock am 31.8.2022 in Prag. Nationalismus als Mittel sowohl für den Angriff als auch die Verteidigung – darauf muss man erstmal kommen. Und diese „instrumentelle Aktualisierung“ (Kepplinger) derselben begrifflichen Bedeutungen für entgegengesetzte politische Inhalte führt letztlich zum Phänomen der „kognitiven Dissonanz“, das den Bürger massiv verunsichert, ja verängstigt und damit den Boden für regierungstreue Interpretationen bereitet. In diesem Phänomen aber die Orientierung zu behalten und den eigenen Interpretationskorridor nicht zu verlassen, stellt selbst gewiefte Politiker wie Roth zunehmend vor Probleme.


Manche Minderheiten besser als andere


Paradebeispiel war ihre Tilgung „der Deutschen“ aus dem „Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa“ – obwohl sich das Institut explizit mit der Geschichte und dem Schicksal Deutscher im östlichen Europa befasst und die Bundesregierung zu Fragen berät, die etwa Heimatvertriebene aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten betreffen, aber auch Spätaussiedler, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nach Deutschland kamen. Kaum eine deutsche Partei setzt sich so sehr für die Rechte von Minderheiten ein. Keiner anderen Partei ist es so wichtig, dass Minderheiten in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Aber wenn es um deutsche Minderheiten geht, ist alles anders: An deren Sichtbarkeit stören sich die Grünen offenbar und wollen ungern den Fürsprecher geben. „Wer sich allerdings nur für fremde Minderheiten einsetzt und für die eigenen nicht, dem scheint es nicht um den Minderheitenschutz als solchen zu gehen. Für den sind manche Minderheiten offenbar besser als andere“, ärgert sich Freidel.


Auch das grüne Preußenbild offenbart inzwischen Abgründe an historischer Fehlinterpretation. Hier machte Baerbock den Anfang mit ihrer Entscheidung, das „Bismarck-Zimmer“ im Auswärtigen Amt umzubenennen in „Saal der Deutschen Einheit“ – immerhin die aus der Bonner Republik übernommene Bezeichnung für den Raum, in dem die Direktoren des Amtes morgendlich zur Besprechung zusammenkommen. Zudem wurde das Ölporträt des Bismarck‘schen Hausmalers Franz Lenbach von der Wand genommen. Solche Umbenennungen passen „bestens in die Zeit, in der symbolisches Handeln und Sprechen als der wahre moralische Imperativ gilt, leider oft von Zusammenhängen völlig losgelöst“, muss selbst Joachim Käppner in der Süddeutschen zugeben. Zwar habe Bismarck eine fortschrittliche Sozialgesetzgebung geschaffen und sei er von vornehmerer Persönlichkeit sowie erheblich klüger gewesen als Wilhelm II. oder seine Nachfolger. Aber er war halt der „Architekt der Einheit ohne Freiheit, der nicht Preußen in Deutschland, sondern eher Deutschland in Preußen aufgehen ließ“, und habe sich damit als antidemokratisch entpuppt, so Käppner.


Roth setzte dann noch einen drauf. Zuerst damit, dass sie mehrfach gegen das Kreuz auf und einen Bibelvers an der Kuppel des wiedererbauten Berliner Schlosses Front gemacht und angekündigt hatte, diesen überblenden zu wollen. Nebenbei: eine linke Initiative forderte von Roth die „Ausschreibung eines künstlerischen Wettbewerbs“, um „die preußenverklärende äußere Erscheinung des Gebäudes zu brechen“. Und dann mit ihrem Ansinnen, aus der „Stiftung preußischer Kulturbesitz“ das „preußisch“ mit der Frage zu streichen: „Was haben Andy Warhol und Joseph Beuys mit Preußen zu tun?“. Und weiter sagte sie dem Spiegel: „Preußen ist ein wichtiges, aber nicht unser einziges Erbe, diese einseitige Priorisierung ist falsch, Deutschland ist viel mehr“. Und dass sich mit dem Begriff „preußischer Kulturbesitz“ Bayern oder Hessen kaum identifizieren können. Die Aufgabe der SPK ist zwar ausdrücklich die Bewahrung der Kulturgüter, ja der „Konkursmasse“ jenes untergegangenen Landes. Roth glaubt jedoch, das Preußische im Stiftungsnamen bringe nicht die Weltläufigkeit der Kulturgüter zum Ausdruck.


SPK-Präsident Hermann Parzinger unterstützte Roth insofern, als auch er den Namen als schwierig und im Ausland als schwer vermittelbar empfindet: „Wenn man in internationalen Gremien Preußischer Kulturbesitz ins Französische, Englische oder Spanische übersetzt, muss man immer erklären, worum es sich handelt und warum eine der weltweit größten deutschen Kultureinrichtungen diesen Namen trägt“, sagte er dpa. Vor allem konservative Publizisten, Politiker und Historiker aus CDU und FDP erhoben Einspruch, manche sahen einen Beleg für grüne Geschichtsvergessenheit. Dies sei ein „Versuch, sich von geschichtlichen Lasten zu befreien“, sagte aber auch der frühere Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse (SPD). Er warf den Grünen vor, dass sie „mit moralischem Furor Geschichtsreinigung betreiben“ würden. Weil sie derzeit schmerzliche Kompromisse machen müssten, „benötigen sie wohl umso heftiger Ersatzhandlungen“.


Weltoffenheit nicht mit Geschichtsvergessenheit verwechseln


Andere erkennen den nächsten Auswuchs von Identitätspolitik. „Darf man nicht mehr Preußen sagen?“, fragt besorgt der Berliner Kurier. „Müssen also Sammlungen und Stiftungen einen Namen tragen, der alle Exponate, die ausgestellt werden, gerecht wird“, ärgert sich Klaus-Rüdiger Mai bei Tichys Einblick, dann müsste die Stiftung „plötzlich Stiftung Allerweltsbesitz heißen, so auch das British Museum Allerweltsmuseum und das Tschechische Nationalmuseum Allerweltsnationalmuseum.“ Dabei ist der Name alles andere als eine Huldigung an Preußen, sondern das logische Ergebnis von Preußens Ende:  Am 25. Februar 1947 verfügte der Alliierte Kontrollrat, dass „der Staat Preußen, seine Zentralregierung und alle nachgeordneten Behörden hiermit aufgelöst“ seien. Da der Staat aber über enorme Kunstschätze verfügte, brauchte es eine Institution, die diese übernahm. Und da der Staat Preußen den größten Teil des deutschen Nordens umfasste, gehörten auch Länder wie Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen zu den Trägern der Stiftung, die noch im Auflösungsjahr diese Aufgabe übernahm.


Dabei haben die Preußen in vielen Bereichen Spuren hinterlassen, etwa wenn die „Borussen“ aus Dortmund und Mönchengladbach oder die Spieler von „Preußen“ Münster aufs Spielfeld laufen. Claudia Roth mit ihren anderthalb Semestern Studienerfahrung weiß offenkundig erst recht nichts über die große preußische Tradition der Aufklärung, Namen wie Immanuel Kant oder Gotthold Ephraim Lessing, wie Friedrich Nicolai oder Moses Mendelssohn, wie Anna Louisa Karsch, Carl Philipp Emmanuel Bach, Felix Mendelssohn Bartholdy, aber auch die der großartigen Berliner Salonieren wie Rahel Varnhagen von Ense und Henriette Herz, Amalie Beer, der Mutter des Komponisten Giacomo Meyerbeer, dürften ihr fremd sein, erregt sich Mai. Diese ganze Tradition würde Claudia Roth mit dem Namen Preußen zugleich auslöschen. Dass einer grünen Staatsministerin das Motto Friedrichs des Großen, „denn hier muss ein jeder nach Seiner Fasson selig werden“, ein Gräuel ist, verwundert Mai nicht: „Das Kulturstaatsministerium wird zum Beerdigungsunternehmen für die Kultur und Geschichte unseres Landes. Im Vergleich mit Claudia Roth muss man im Nachhinein Kurt Hager als Koryphäe ansehen.“


Preußen – das war nach Meinung vieler aber der Grund, warum Deutschland in den Abgrund von zwei Weltkriegen geraten war. Militarismus, Staatsvergottung, Gehorsams-Fixierung und Intoleranz: Nach dieser Lesart hatte das protestantische Preußen auch dem neu gegründeten Deutschen Reich seit 1871 seinen Stempel aufgedrückt und die liberalere, katholisch geprägte Kultur Süddeutschlands und Österreichs beiseitegeschoben. Doch es gibt auch gegenteilige Positionen: Preußen gilt, vor allem im 19. Jahrhundert, als Inbegriff von effektiver Verwaltung und unbestechlicher Beamtenschaft, Bildungsfreundlichkeit und Toleranz gegenüber religiösen Minderheiten wie den Juden – ein Staat mit Januskopf. Das zeigt sich auch mit Blick auf den Nationalsozialismus: Viele Mitglieder des preußischen Adels unterstützten die Politik Hitlers. Umgekehrt trugen nicht wenige Mitglieder des Widerstands klangvolle preußische Namen – so Helmuth James von Moltke und Peter Yorck von Wartenburg.


Schon Sebastian Haffner zeigte in seinem großen Preußen-Essay auf, dass helle und dunkle Seiten oft gar nicht zu trennen waren. Sowohl für militärische und administrative als auch für kulturelle und wissenschaftliche Höchstleistungen bedarf es eines gehörigen Maßes an Disziplin, Effizienz und Rechtsstaatlichkeit. „Dass die von Goebbels inszenierte Botschaft des Handschlags zwischen altem und neuem Deutschland am 21. März 1933 zur dominanten Lesart geworden ist, stellt einen traurigen Propagandaerfolg dar“, ärgert sich die Ex-FDP-Generalsekretärin Linda Teuteberg MdB im Tagesspiegel und wehrt sich dagegen, „Preußen zur Bad Bank deutscher historischer Verantwortung zu machen“.  Das sei einerseits bequemer als gesamtdeutsche Selbstkritik und lenke andererseits davon ab, wie sehr die Weimarer Republik durch Radikale beiderseits des politischen Spektrums in die Zange genommen wurde. „Geschichtsbewusstsein gehört zum Immunsystem einer wehrhaften Demokratie“, befindet sie. Zukunft brauche auch Herkunft und Respekt vor der Überlieferung: „Nicht nur Sonntagsreden, sondern auch unser Bild von der eigenen Geschichte und von Preußen vertragen Vielfalt und Differenzierung. Weltoffenheit sollte nicht mit Geschichtsvergessenheit verwechselt werden.“


Dieselbe Verwechslung muss man Roths Tilgung der Deutschen aus dem „Bundesinstitut für Kultur und Geschichte des östlichen Europa“ attestieren. Der Bund der Vertriebenen und die in ihm zusammengeschlossenen Landsmannschaften sahen sich überrumpelt, für Präsident Bernd Fabritius (CSU) fühlte es sich laut FAZ „so an, als habe man sich ‚der Deutschen entledigt‘ und wirke dadurch mit am Unsichtbar-Machen eines originären Teils deutscher Geschichte. Unser Schicksal passt wohl nicht mehr zum ideologischen Zeitgeist einer von ‚Mobilität und Migration geprägten Einwanderungsgesellschaft‘.“ Die Streichung „der Deutschen“ aus dem Namen des Bundesinstituts wertet Christoph de Vries, als eklatanten „Bruch mit dem gesetzlichen Auftrag“, nach dem Bund und Länder verpflichtet seien, „unsere Geschichte im östlichen Europa zu bewahren“. Irritiert über die Änderung zeigte sich auch der Wissenschaftliche Beirat des Leibniz-Instituts für Geschichte und Kultur des östlichen Europa.


Gedenkkultur von oben


Nun also noch das 43seitige Rahmenkonzept, das zum Teil in der ersten Person Singular, öfter aber im Pluralis Majestatis formuliert ist, weitgehend gendert – außer bei der Formulierung „weiße koloniale Täter“, als ob es in den Kolonien keine deutschen Frauen gegeben habe – und das Kellerhoff einer vernichtenden Analyse unterzog. Zwar soll das Gedenken an die Opfer der NS-Zeit im Mittelpunkt stehen – gleichzeitig aber wird der Phase des Kolonialismus eine bedeutende Rolle zugewiesen, wobei die besondere, historisch bedingte Verbindung zwischen der Bundesrepublik und dem Staat Israel lediglich als „narrative Verknüpfung“ erscheint. Beinahe neokolonialistisch wirke es, wenn der Entwurf „lustvoll Verantwortung übernimmt“ für heutige Probleme Afrikas, ergötzt sich der Welt-Journalist.


„Die damaligen Ereignisse und Erfahrungen beeinflussen bis heute die politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse in den ehemals kolonisierten Gebieten und deren Beziehungen zu den ehemaligen Kolonialmächten“, heißt es in dem Papier: „Dies tritt in den unterschiedlichsten Bereichen zutage und zeigt sich etwa in willkürlichen Gebietsaufteilungen, instabilen Regierungen, ethnischen Konflikten, Flucht und Migration, wirtschaftlicher Abhängigkeit der ehemaligen Kolonien bis hin zu Ausbeutung, Diskriminierung, Chancen- und Entwicklungsungleichheit sowie Rassismus.“ Das ist ahistorisch, denn auch vor der Ankunft der ersten Kolonialisten auf afrikanischem Boden im Zuge der europäischen Expansion war der „schwarze Kontinent“ kein Paradies „edler Wilder“, sondern bestimmt von Stammes- und sonstigen Konflikten sowie von arabischen Eroberern, die sehr oft Sklavenhändler waren. In jedem Fall liegt die Relevanz des Kolonialismus für die deutsche Erinnerungskultur weit unter der Zäsur des Nationalsozialismus und der 44-jährigen Diktatur in einem knappen Drittel Deutschlands.


„Wer die Erinnerungspolitik als überholt betrachtet, sollte sich gerade jetzt, wo die Sicherheit der jüdischen Bürger in Deutschland ein Dauerthema ist, nochmals vor Augen führen, gegen welche Widerstände das deutsche Bekenntnis zum Geschichtsbewusstsein eingefordert wurde“, mahnt Schwartz. Die Gedenkstätten-Leiter kritisieren, dass Roths Rahmenkonzept den „Stellenwert der Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen“ als zentrale Verpflichtung der Erinnerungsstätten untergraben würde. Roth agiert insofern nicht viel anders als ihre grünen Kollegen in anderen Ressorts, die mit feministischer Außenpolitik, Green Culture und Ähnlichem versuchen, symbolhaft die Wähler zu besänftigen und die eigene Ideologie zu verbreiten. „Wer deutschen Selbsthass pflegt, dem muss auch deutsches Geschichtsbewusstsein als eine tragende Säule bundesrepublikanischen Selbstverständnisses ein Dorn im Auge sein“, konstatiert Schwartz.


Und: es war der Antikolonialismus, der den Nationalsozialismus vorbereitete, erklärte der amerikanische Politikwissenschaftler Bruce Gilley 2019 in zuerst. „Kolonialismus ist liberaler Kosmopolitismus, er setzt auf Kapital, auf freie Märkte, und auf die Identität der einzelnen Partner. Wer die nicht will, und da sind wir wieder bei der Gleichheit, will Zwangswirtschaft. Das ist rücksichtslos, das ist totalitär, leider ein Erbe der unglückseligen Hochzeit von Antikolonialismus und Stalinismus nach 1945“. Aber auch Angela Merkel habe „Dealing with history“ betrieben und einen „Schuldkult“ etabliert, mit dem sie die Geschichte nachträglich umdeuten wolle: „Zur Schuld der Großväter kommt jetzt auch noch die der Urgroßväter“. Eine „Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte“ im damaligen Koalitionsvertrag weist kein Regierungsprogramm irgendeines Landes sonst auf. Diese „Gedenkkultur von oben“ hat Roth adaptiert und perfektioniert, das „Psychosozialprodukt“ (Meinhard Creydt) schlägt hierzulande das Bruttosozialprodukt inzwischen um Längen.


Geradezu skurril wirkt eine Passage in dem BKM-Papier, die sich mit dem Thema Kolonialismus in der „politischen Bildungsarbeit“ beschäftigt. Es gehe „auch“ darum, „Kenntnisse über die Weltbilder, Ontologien, spirituellen und religiösen Erzählungen der Partnergesellschaften zu fördern und zu vermitteln“. Unter Partnergesellschaften werden die Menschen verstanden, die heute in den ehemals deutschen Kolonien leben. „Sollen also demnächst Details afrikanischer Naturreligionen Gegenstand des Schulunterrichts in Deutschland sein?“, spitzt Kellerhoff zu. Und er moniert zu Recht, dass „die ‚Diktaturerfahrungen der Älteren‘“ im Zusammenhang mit der DDR „zunehmend differenziert eingeordnet werden“ sollen. Es gehe bei der Erinnerung an die DDR auch um „Alltagsgeschichte wie Wohnen und Freizeit“ oder „Themen des Wirtschafts- und Erwerbslebens in der DDR“. Das kann man natürlich anstreben, aber müsste man dann nicht konsequenterweise auch beim gesellschaftlichen Umgang mit dem Dritten Reich Themen wie die Urlaubsorganisation „Kraft durch Freude“ oder die Reichautobahnen behandeln?


„Es ist ein gefährlicher Weg, den das Papier, das ja die Erinnerungskultur in der Breite der Gesellschaft prägen soll und nicht die zeithistorische Forschung im Detail, da andeutet: Nebensächlichkeiten sollen die Hauptsache, die Repression, ‚differenzieren‘“, kritisiert der Autor. Außerdem komme universitäre Forschung praktisch nicht vor, Fortschritte im Geschichtsbewusstsein gingen offenbar meist auf „Graswurzelinitiativen“ zurück oder wurden „aus der Zivilgesellschaft heraus erkämpft“. Das lässt darauf schließen, dass unser Steuergeld in ein Roth gefälliges Aktivistenumfeld umverteilt werden soll. Und es gibt gewagte Gleichsetzungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR, etwa bei der Asylpraxis oder der Parallelisierung der „Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter“. Da verwundert nicht, dass sämtliche mit dem Thema Erinnerungspolitik befassten Verbände das Papier scharf verurteilten. Ihre Stellungnahme vom 3. April bezeichnete Kellerhoff als „kaum kaschierte Ohrfeige für Roth“.


Die Unterzeichner, darunter die Arbeitsgemeinschaften der KZ-Gedenkstätten in Deutschland und der Gedenkstätten zur Diktatur in SBZ und DDR, der Verband der Gedenkstätten in Deutschland und andere, repräsentieren gemeinsam praktisch alle der mehr als 350 vergangenheitspolitischen Institutionen der Bundesrepublik – und sie lehnen das Konzept rundheraus ab. Dessen „Mängel“ seien „so gravierend“, dass der „vorliegende Entwurf nicht weiterverfolgt werden sollte“. Es fehlten „klare Leitlinien“, es gäbe „Mängel im Aufbau, Unbestimmtheiten in der Zielsetzung, ja sogar einen gewissen Charakter des bloß Appellativen“. Die „im Entwurf skizzierten Themen“ wirkten „beliebig“. Da viele dieser Einrichtungen direkt oder indirekt von der Förderung durch Roths Abteilung abhängig sind, so Kellerhoffs Fazit, ist solche Klarheit bemerkenswert. Der „Aufschrei in der Erinnerungskulturszene“ sei „nicht verwunderlich, dafür beispiellos“, bilanziert Schenderlein: „Es braucht einen Neustart im gewohnten Verfahren und unter Einbindung aller betroffenen Einrichtungen und auch des Deutschen Bundestages.“


Meisterin der Insolvenz


Um Roths erinnerungspolitische Rolle abzurunden, muss noch auf zwei Ereignisse verwiesen werden. Zum einen auf ihre geradezu spitzbübische Freude, als im Sommer 2022 in Berlin-Kreuzberg der nach Prinz Heinrich von Preußen benannte Heinrichplatz umbenannt wurde in Rio-Reiser-Platz, dem Sänger der Hausbesetzerband „Ton Steine Scherben“. „Rio hat gegen ein System gekämpft, das uns kaputtmacht – den Scheißkapitalismus“, hieß es in einer Ansprache bei der Einweihungsfeier mit Roth, die früher mal Managerin der Reiser-Band war und sich nun gewissermaßen selbst ein Denkmal setzte. „Kampf dem Scheißkapitalismus – dagegen kann Bismarck als Miterfinder des Deutschen Reichs, der deutschen Sozialversicherung und des Bismarck-Herings natürlich einpacken“, gibt sich Alexander Neubacher im Spiegel ironisch und fragt, ob das klug sei in einer Zeit, da „Robert Habeck die Bevölkerung auf Selbstdisziplin, Verzicht und Sparsamkeit einschwört. Kalt duschen, kurz heizen, kaum klagen: Sind das nicht sprichwörtlich preußische Tugenden?“


Zum anderen auf das Benin-Debakel von 2022/23. Baerbock und Roth hatten persönlich die ersten 22 von 530 Bronzen in Nigeria zurückgegeben, die zum Weltkulturerbe zählen und im Ethnologische Museum Berlin lagern – das zur Stiftung Preußischer Kulturbesitz gehört. Die Rückgabe geschah auch in der Hoffnung, dass die Bronzen öffentlich zugänglich gemacht werden. Doch dann hatte sie der scheidende nigerianische Präsident dem Nachfahren der Königsfamilie von Benin übereignet, offenbar als Dank für Wahlkampfhilfe. Die AfD-Fraktion sprach im Mai 2023 in einer von ihr verlangten Aktuellen Stunde von einer Demütigung der Bundesregierung: Deutschland habe sich in der Welt blamiert, so der kulturpolitische AfD-Fraktionssprecher Marc Jongen MdB, daran ändere auch die fünf Millionen Euro schwere deutsche Unterstützung beim Bau eines nigerianischen Nationalmuseums nichts – während zugleich die Bildergalerie Sanssouci ebenso wie das Schloss Glienicke geschlossen werden sollten: Die Stiftung Preußische Schlösser und Gärten, die beide unterhält, musste unter anderem wegen der gestiegenen Heizkosten 300.000 Euro einsparen. Überdies pikant: Nigeria wurde nicht von Deutschland, sondern von Großbritannien kolonialisiert.


Gilley stellte schon drei Jahre zuvor die richtigen Fragen: „Die erste: Wem soll man eigentlich was zurückgeben? Regierungen, Stämmen, Privatpersonen? Menschliche Überreste, Artefakte, Schätze? Das ist alles unklar. Die zweite: Gibt es angemessene und sichere Orte, die zurückgegebenen Dinge zu präsentieren? In vielen afrikanischen Ländern ist die Museumslandschaft sehr karg, in Nigeria etwa gibt es gar kein Nationalmuseum. Und die dritte Frage ist: Welchen politischen, welchen historischen Nutzen hat das? Wenn man die deutschen Museen wirklich auf diese Weise dekolonisieren will, bleibt am Ende eine Schau der weißen Zivilisation übrig.“ Als die Union dann einen Antrag im Bundestag einbringen wollte, mit dem die weitere Rückgabe der noch in Deutschland befindlichen Bronzen gestoppt werden soll, wenn der öffentliche Zugang nicht garantiert werden könne, meinte Roth, die Union blase „ins Horn der AfD … Dieses Horn ist rassistisch aufgeladen und von einer ganz großen Doppelmoral geprägt.“ Wenn das kein alter kolonialer Paternalismus ist: Wir wissen, wie man mit Kunst umgeht, die Afrikaner wissen es nicht.


 „Vielleicht kann man Claudia Roth das alles nicht übelnehmen, weil man Claudia Roth Claudia Roth nicht verübeln kann“, gibt sich Mai sarkastisch. Es stellt sich nur die Frage nach dem Zustand eines Landes, das von Völkerrechtlern wie Baerbock, feministischen Theologinnen wie Göring-Eckardt, Theaterfachleuten wie Roth und über die Maßen erfolgreichen Kinderbuchautoren wie Habeck regiert wird – die ARD machte aus dem Roman „Hauke Haiens Tod“, den Habeck einst mit seiner Frau Andrea Paluch geschrieben hat, ein schlechtes Fernsehspiel, das Ende April verblüffend gute Quoten erzielte. „Es ist ein Land, das glücklich in seiner späten Kindheit angekommen ist, das von Bildung nichts mehr wissen möchte, nichts mehr von seiner Geschichte und Kultur und nun nur nach dem nächsten bunten Event giert, ein Land, in dem inzwischen Hans im Glück herrscht“, so Mai fatalistisch.


„Ein Geist, der stets das Gute will und nicht einmal das Gutgemeinte schafft“, richtet Ralf Hanselle im Cicero über Roth. Wiglaf Droste nannte sie eine „intellektuell befreite Zone“, Harald Schmidt ein „Eichhörnchen auf Ecstasy“ und Andreas Kilb eine „Aktivistin im Porzellanladen der Kulturpolitik“, der er in der FAZ „umfassendes kulturpolitisches Versagen“ attestierte. Die Frau scheint tatsächlich eine Meisterin der Insolvenz zu sein: Von der Bandmanagerin bis zur deutschen „Kulturzerstörungsstaatsministerin“, die „sowohl fehlbesetzt als auch heillos überfordert ist“ und in deren „inquisitorischem Bestreben“ ihre „Abneigung gegen unser Land, gegen unsere Kultur und unsere Geschichte zum Ausdruck“ kommt, wie Mai bilanziert. Henryk M. Broder sprach auf achgut gar von „zwei Zentnern fleischgewordener Dummheit, nah am Wasser gebaut und voller Mitgefühl mit sich selbst“, der „als Beweis dafür dienen kann, dass es nicht auf Ausbildung, Begabung, Fleiß, Intelligenz und Wissen ankommt, sondern nur auf Ausdauer bei der Umsetzung des Peter-Prinzips (In einer Hierarchie neigt jeder Beschäftigte dazu, bis zu seiner Stufe der Unfähigkeit aufzusteigen) in die gelebte Wirklichkeit“. In Deutschland nehmen inzwischen „Männer und Frauen Einfluss, die weder Weite des Horizonts noch Respekt vor der Überlieferung besitzen, denen es an Takt ebenso fehlt wie an einer realistischen Einschätzung ihres eigenen – minderen – Ranges“, befindet Karlheinz Weißmann in der Jungen Freiheit. Claudia Roth, diese „Staatsministerin nicht für, sondern gegen Kultur“ (Mai), gehört leider dazu.


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Über den Autor: Thomas Hartung, geb. 1962 in Erfurt; promovierte nach seinem Lehramtsstudium in Magdeburg 1992 zur deutschen Gegenwartsliteratur und war danach als Radio- und Fernseh-Journalist in Sachsen-Anhalt und Sachsen sowie als freiberuflicher Dozent für Medienproduktion und Medienwissenschaft an vielen Hochschulen Deutschlands tätig; der bekennende „Erzliberalkonservative“ trat als Student in die LDPD ein und 1990 aus der FDP aus: von „misslungener Einheit“ nicht nur mit Blick auf die Parteienfusion spricht er bis heute; Hartung war im April 2013 Mitbegründer der AfD Sachsen und wurde zweimal zum Landesvize gewählt. Seit März 2020 ist er Pressesprecher der AfD-Fraktion Baden-Württemberg.



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