top of page

Thomas Hartung: MESSERSCHOCK. STIMMENSCHOCK. DUMMENSCHOCK

Erstmals gewinnt eine Partei eine Landtagswahl, die der politmediale Komplex nur noch mit dem Framing „gesichert rechtsextrem“ außen vorhalten kann. Doch normative Demokratie ist keine Demokratie mehr, sondern der kaum getarnte Machterhaltungsversuch offenkundig Dummer.



Die Fakten liegen seit Sonntagnacht auf dem Tisch: Die AfD landete erstmals seit ihrer Gründung 2013 bei einer Landtagswahl auf Platz eins und bekommt in Thüringen 32,8 Prozent. Die CDU verbessert sich, bleibt aber mit 23,6 Prozent Zweiter. Aus dem Stand schafft das BSW 15,8 Prozent – und lässt damit die Linke, von der es sich abgespalten hat, hinter sich – diese stürzt dramatisch auf noch auf 13,1 Prozent ab. Starke Verluste verbuchen die Parteien der Berliner Ampel-Regierung: Die SPD liegt mit 6,1 Prozent nur knapp über der Fünf-Prozent-Hürde und muss ihr bislang schlechtestes Ergebnis bei einer Landtagswahl überhaupt hinnehmen. Die Grünen, bislang ebenfalls an der Landesregierung beteiligt, verlieren auf 3,2 Prozent und fliegen aus dem Landtag, die FDP stürzt auf nur noch 1,1 Prozent. Dabei hat AfD mehr Wähler von der Linkspartei bekommen als an BSW verloren, das alleine mehr Stimmen als Grün-Rot-Gelb zusammen hat – die AfD gar als dreimal so viele Stimmen wie Grün-Rot-Gelb gemeinsam.


In Sachsen blieb das Politbeben aus: Die AfD kam mit 30,6 Prozent knapp hinter der CDU mit 31,9 Prozent auf Rang zwei. Das BSW erreichte aus dem Stand 11,8 Prozent. Die SPD landete bei 7,3 Prozent. Die Linke rutschte dramatisch ab auf 4,5 Prozent, zieht aufgrund zweier Direktmandate aber in den Landtag ein und dürfte in fünf Jahren Geschichte sein. Die Grünen bekamen mit 5,1 Prozent gerade noch den Fuß in die Tür, die FDP verpasste mit nur 0,9 Prozent erneut den Einzug in den Landtag – wie schon bei den vergangenen zwei Landtagswahlen. Die Grünen sind künftig lediglich in 14 von 16 Landtagen vertreten. Erstmals seit der Wende hat bei Landtagswahlen mit Rekordwahlbeteiligung rund die Hälfte aller Wähler nicht den etablierten Parteien ihre Stimme gegeben, sondern migrationskritischen Neuparteien. Das sind mehr als dreimal so viele Wähler wie die Ampelparteien in den beiden Bundesländern noch auf sich vereinen können. „Die Menschen haben Sehnsucht nach einer großen Koalition – nach einer Koalition zwischen AfD und CDU“, resümierte Entertainer Harald Schmidt noch am Wahlabend bei einer Performance in Dessau.


Beide AfD-Landesverbände werden vom Verfassungsschutz wegen eines vorgeblich „ethnisch-kulturellen Volksbegriffs“ als „gesichert rechtsextrem“ eingestuft. Aber schon in seinem Buch „Gesinnungspolizei im Rechtsstaat?“ weist der ehemalige SPD-Minister Mathias Brodkorb darauf hin, dass die Einschätzung dieses Volksbegriffs nicht einheitlich als rechtsextrem angesehen werde. Die Bewertung variiere vielmehr zwischen den Verfassungsschutzbehörden und stehe teilweise im Widerspruch zu anderen Veröffentlichungen. Auch das Grundgesetz selbst kennt ein „deutsches Volk“, die Bundesregierung fördert zudem nachweislich selbst die „ethnokulturelle Identität“ von Auslanddeutschen. Auch das Volk der Sorben wäre anders gar nicht beschreibbar. Es sei also eine Interpretation.


Die Brandmauer ist eingestürzt


Aber auch für Beatrice Achterberg in der NZZ ist das „die Auslegungssache einer nicht unabhängigen, sondern weisungsgebundenen Behörde mit politischen Beamten.“ Behördenchef Thomas Haldenwang widme sich „mit Verve der AfD-Kritik“ und sagte vor einem Jahr dem ZDF: „Nicht allein der Verfassungsschutz ist dafür zuständig, die Umfragewerte der AfD zu senken.“ Daraus lässt sich laut Achterberg ableiten, „dass der Chef des Inlandsgeheimdienstes es auch als seine Aufgabe betrachtet, die Rechtspartei kleinzukriegen. Das wirft zumindest die Frage auf, inwieweit Haldenwangs Behörde die AfD neutral bewertet.“


Für den Generationenforscher Rüdiger Maas ist die AfD gerade für viele Jungwähler keine extreme Partei: Junge Menschen nähmen, auch befeuert durch Social Media, die AfD eher als eine Partei wahr, die von anderen stark benachteiligt werde: „Da gibt es wenig Korrektiv“, sagte er dpa. Ralf Hanselle befand verallgemeinernd im Cicero: „Der Rand ist eine Ideologie der Mitte. Es ist eine der zentralen Thesen postmodernen Denkens, dass sich der Rand nur aus seiner Stellung zum Zentrum definiert … Das Zentrum ist also nicht das Zentrum, um hier mal eine hübsch klingende Sentenz des französischen Querfeldeindenkers Jacques Derrida zu zitieren; das Zentrum ist nur das, was selbst ernannte Zentristen zu eben diesem Zentrum erkoren haben. Wo der erklärtermaßen andere steht, ist dann meistens schon äußerste Kante. Die eigene Mittellage ergibt sich somit fast wie von selbst.“


Insofern ist es eigentlich ein Skandal, dass die Partei mit dem Auftrag zur Regierungsbildung per se ausgegrenzt wird – seit wann sind Wahlen dafür da, Verlierern zur Macht zu verhelfen? Die frisch gewählte CDU-Abgeordnete Martina Schweinsburg, Ex-Landrätin von Greiz, hat prompt dafür plädiert, auch mit der AfD zu reden. „Über 30 Prozent der Thüringer haben AfD gewählt. Und das ist ein Respekt vor dem Wähler, mit denen, die sie gewählt haben, auch zu reden“. „Die Brandmauer ist eingestürzt“, kommentiert der Medienrechtler Volker Boehme-Neßler im Cicero trocken. „Die Strategie der Brandmauer war von Anfang an archaisch und undemokratisch, und sie war strategisch dumm. Es war ein großer politischer Fehler, sie so lange zu verfolgen. … Sie hat das Gegenteil von dem erreicht, was sie wollte. Sie wollte die AfD kleinhalten. Sie wollte die Politiker der AfD politisch und persönlich diskreditieren. Sie wollte die Wähler der AfD verschrecken und einschüchtern. Stattdessen hat sie der AfD bei ihrem Aufstieg geholfen.“ Denselben Vorwurf erhob auch Achterberg – aber an Journalisten. Viele Medienvertreter wirkten „merkwürdig befangen. Sie behandeln die Rechten wie Aussätzige statt wie Oppositionspolitiker.“


Eine faschistische Partei


Die Ampelparteien reagierten auf das doppelte Wahldesaster im Osten mit Trotz und „Relativiererei“, ja Renitenz, meint Ferdinand Knauss im Cicero. Die CDU dagegen kommt in arge Brandmauernot, obwohl sie sich als Sieger sieht – Spitzenkandidat „Mett“-Mario Voigt sei gar „der mit den meisten demokratischen Stimmen“, hieß es in der ARD-Wahlsendung. Was bedeutet, dass rund ein Drittel der Thüringer Antidemokraten sein müssen, deren Stimmen im Grunde außerhalb der Demokratie seien – ein absurdes Verständnis von Wahlen. SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert gab zwar zu, das seien jetzt keine guten Ergebnisse“. Aber immerhin habe man abgewendet, „dass wir erstmals in unserer Geschichte aus Landtagen rausfliegen“. Darüber freut sich eine Kanzlerpartei? Das ist kein Witz. Aber etwas ändern an der SPD-Politik? Nein! „Seriöse Politik muss darin bestehen, bei Gegenwind nicht einfach umzufallen … sondern sie muss werben, erklären, erläutern, viel mehr als wir das bisher tun.“ Auch das ist kein Witz. Auf die Idee, dass das Problem nicht die Kommunikation der Politik ist, sondern die Politik selbst, kommt er nicht – oder will es nicht. Das gestand selbst Ex-Vizekanzler Siegmar Gabriel (SPD) im Cicero ein: „Weit klüger wäre es, eine Wahlniederlage als das zu verstehen, was sie ist: die Ablehnung der Politik, die man betrieben hat. Da gibt es nichts ‚besser zu erklären‘, sondern die Aufgabe heißt, etwas anders zu machen.“


In dasselbe Horn blies auch tränenreich Grünen-Bundesgeschäftsführerin Emely Büning. Sie will denen „den Rücken stärken“, die sich „eingesetzt haben für unsere freie und offene Gesellschaft“.  Über die krachende Niederlage ihrer Partei musste sie da vor lauter Sorgen um die Gesellschaft nicht viel sagen, außer dass sie eben „mehr erklären müssen – unsere Politik und die Politik der Regierung.“ Sie griff CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann, der im Übrigen einen „Regierungsauftrag“ in Thüringen erkannt haben will, frontal an, weil die Union die Grünen zum Hauptgegner erklärt hätte und damit einen „Bärendienst für diejenigen, die die Demokratie verachten“ erwiesen – dabei sah sie dann Bernd Baumann von der AfD an, der lächelte. CSU-Generalsekretär Martin Huber fand das „grotesk“ und „hanebüchen“, dass die Union schuldig sein solle an der schlechten Stimmung gegenüber den Grünen. Das machten die Grünen selbst, nicht zuletzt mit ihrem Wirtschaftsminister Robert Habeck, der ganze Branchen zugrunde richte. Büning rief dann, die Wirtschaft wachse „gerade im Osten wegen der Energiewende“. Das ist ebenfalls kein Witz.


Bijan Djir-Sarai, Generalsekretär der FDP, sprach dann schon wie ein Oppositionspolitiker, als er von der Migrationspolitik sprach, die von der Bevölkerung als „Versagen der staatlichen Institutionen“ wahrgenommen werde. Diese Berliner Runde zeigte schnell, dass Migration mit großem Abstand das entscheidende Thema der Gegenwart ist. Ganz anders FDP-Vize Wolfgang Kubicki: „Die Ampel hat ihre Legitimation verloren. Wenn ein beträchtlicher Teil der Wählerschaft ihr in dieser Art und Weise die Zustimmung verweigert, muss das Folgen haben.“ Und Kubicki weiter: „Die Menschen haben den Eindruck, diese Koalition schadet dem Land.“ Und sie schade definitiv der FDP. Katina Schubert, Bundesgeschäftsführerin der Linken, sprach ähnlich wie die Grünen nicht über die eigene Partei, sondern über das „Donnerwetter“, dass in Thüringen „eine faschistische Partei“ die stärkste geworden sei. Und dann setzte sie zu einer Suada an: „Es muss Schluss sein mit dieser permanenten Hetze gegen Menschen mit Einwanderungsgeschichte.“ Aber sie ist „sicher, dass Bodo Ramelow seiner Verantwortung in Thüringen entsprechen und dort ein vernünftiges Verfahren aufsetzen wird.“ Und was für eins: Er und die Thüringer Linken-Chefin Ulrike Grosse-Röthig haben eine rot-rot-rote Minderheitsregierung, also unter CDU-Duldung, ins Spiel gebracht. Ist die Lehre, dass heute Rot bekommt, wer schwarz wählt? Das ist ebenfalls kein Witz.


Und: Man ist in der zentralen Frage völlig anderer Ansicht, aber findet es grundsätzlich in Ordnung, in Erfurt weiter zu kooperieren. Das ist auch kein Witz. Möglich wäre aus Perspektive der CDU eine Minderheitsregierung, die sich auf wechselnde Mehrheiten stützt, sinniert Alexander Marguier. „Aber selbstverständlich wird insbesondere die AfD dann alles dafür tun, um die Christdemokraten bei jeder sich bietenden Gelegenheit vorzuführen und unter Beweis stellen, dass sie selbst die eigentliche Macht in Thüringen ist. Auch beim BSW dürfte in dieser Konstellation keine allzu große Neigung bestehen, der CDU das Regieren leicht zu machen. Rein inhaltlich allerdings bestehen die größten Schnittmengen zwischen der AfD und dem BSW; es würde sich bei Lichte besehen um ein dezidiert anti-amerikanisches Bündnis handeln, welches auch mit Blick auf die Migration sehr ähnliche Ziele verfolgt.“


Politik der Feindsetzung


Nur wenige Publizisten, allen voran Cicero-Autoren, versuchten sachliche Erklärungen. Als Erfolgsformel im Kampf gegen die AfD habe lange der Grundsatz „Je mehr deren Spitzenpersonal der Anhängerschaft des Teufels überführt werden kann, umso schwächer schneidet die Partei bei Wahlen ab“ gegolten, meint Mathias Brodkorb. Von dieser Hoffnung sei auch die Debatte um die „Wannseekonferenz 2.0“ beseelt gewesen – und nun vollends zerstoben. Im Schlussspurt hatten fast alle etablierten Parteien auch in Sachsen nur noch ein Argument, warum man sie wählen solle: um den Wahlsieg der AfD zu verhindern: „Diese Politik der Feindsetzung (Carl Schmitt) ist in Wahrheit eine Kapitulation vor der Idee der Demokratie“. Und er erkennt folglich: „Demokratien können auf Dauer nicht erfolgreich sein, wenn Probleme ungelöst bleiben und stattdessen an der Umerziehung des Volkes gewerkelt wird.“


„Sie sehen das Problem einerseits in der Migration und glauben andererseits, dass die Regierung Unmengen von Geld an falschen Stellen ausgibt, statt sich um grundlegende Baustellen zu kümmern wie Schulen, Renten, Gesundheitssystem und Mobilität“, lautet Juli Zehs Erklärung für der Wähler Widerspenstigkeit. „Vor diesem Hintergrund reagieren die Leute dann aggressiv auf urbane Debatten wie die ums Gendern oder um Transsexualität. Manche glauben dann, dass Politiker und Journalisten dabei sind, den Verstand zu verlieren. Nach dem Motto: Wie könnt ihr euch um so etwas streiten, während die Schulen keine Lehrer mehr haben und das Gesundheitssystem vor die Hunde geht?“ Zusammen mit den migrationskritischen Wählerstimmen für CDU und BSW hätten insgesamt rund 70 Prozent aller Sachsen „mit der Wahl dieser drei Parteien die unkontrollierte Zuwanderung abgewählt“, meint auch Brodkorb.


„Die FDP verschwindet als Freiheitsbestatter und unverbesserlicher Allzeitopportunist von der Landkarte“, freut sich Rocco Burggraf auf dem Blog Ansage. Die sehr große Altersgruppe über 60 ist es, die in Sachsen stoisch CDU wählt, damit einen deutlichen Sieg der AfD verhindert – und zudem in beiden mitteldeutschen Ländern dafür sorgte, „dass eine Partei ohne Personal und Programm, aber einer deutschen Ausgabe von Evita Peron an der Spitze drittstärkste Kraft wird“. Sofern man CDU und AfD als konservatives Lager betrachtet, blickt Schwarz-Blau in Mitteldeutschland auf sehr deutliche absolute Mehrheiten – und dank der Übernahme des halben AfD-Programms durch die CDU inzwischen auch auf die größten programmatischen Schnittmengen aller denkbaren Koalitionen. Und: International wird so nüchtern wie zutreffend festgestellt, dass die Ostdeutschen so nicht weiter regiert werden wollen. Der Berliner Verfassungsrechtler Christoph Möllers dagegen dekretiert in der Zeit: „Auch das Volk darf nicht alles.“


Underdog-Syndrom


Der Siegener Politikwissenschaftler Philip Manow warnt davor, dem Wähler zu misstrauen: Demokratie bedeute nun einmal politische Unsicherheit. Er wirft den Linksliberalen vor, jeden zu kritisieren, der es wagt, ihre Positionen anzuzweifeln. „Man weiß immer erst hinterher, nämlich dann, wenn eine Regierung abgewählt wurde und dann die Macht auch wirklich abgibt, ob es Demokratie war“, sagt er der NZZ. „Aus dieser grundsätzlichen Unsicherheit nähren sich Befürchtungen über ein Ende der Demokratie. Und sie fördert Vorstellungen, wir sollten doch diese politische Unsicherheit minimieren, am besten dadurch, dass wir Wahlen gar keinen so großen Stellenwert mehr zuweisen. Mehr Technokratie wagen, mehr Gerichte, mehr Bürgerräte, im Übrigen follow the science.“ Ohne Worte.


„Indem man den Osten negativ definiert, schreibt man ihm Phänomene wie Fremdenfeindlichkeit oder Demokratieskepsis exklusiv zu und hält diese von sich selber fern“, so Claudia Schwartz im selben Blatt. Sie erkennt drei Erklärungsstränge. Den ersten lieferte Dirk Oschmann, bei dem der Osten zur „Erfindung des Westens“ wurde, geprägt von einer Ostidentität, einem Sonderbewusstsein in dem Selbstverständnis, Bürger zweiter Klasse zu sein. Den zweiten hat der Soziologe Detlef Pollack als „Affektlage des Protests und des empörten Aufbegehrens“ beschrieben, die aus Kränkungen, Erniedrigungen und Unmut resultiert. Es ist die sozioökonomische Verheerung ganzer Generationen, die 1990 zu jung für die Rente und zu alt für eine wirkliche Neuorientierung waren. Eine beachtliche Minderheit sei vom „Underdog-Syndrom“ erfasst und verschließe sich in einer gefühlten Mischung „zwischen politischer Ohnmacht und moralischem Überlegenheitsgefühl“ gegen alles, „was von oben kommt“.


Den dritten schließlich lieferte Ilko-Sascha Kowalczuk in seinem Buch „Freiheitsschock“, wonach der Osten nie nach Westen wollte. Dabei spiele weniger eine Rolle, dass viele sich nicht gegen das Grundgesetz, sondern gegen die konkrete Politik aussprechen. Diese werde als abgehoben empfunden, man fühle sich nicht von ihr vertreten. Zudem würden ehemalige Mitläufer und Stützen des SED-Systems bis heute ihr Mittun in der Diktatur mit politischem Engagement verwechseln und nun bekunden, sie hätten „ein für alle Mal genug davon“. Wo das Leben in der Demokratie heute im DDR-Vergleich anstrengender sei, weil es ständig Entscheidungen abfordere, belebe sich der Wunsch nach einem starken Staat. Diesen bedienten sowohl die AfD als auch das BSW, nicht zuletzt mit ihrer Russland-Nähe.


Schwartz bilanziert eine „Mischung aus postsozialistischer Entwicklung und reaktiver gesamtdeutscher Abwehrhaltung“: „Die ambivalente Identitätssuche, die Kränkungen, die Wut, die Fremdenfeindlichkeit, die historische Kontinuität zweier Diktaturen im Osten und die mangelnde Aufarbeitung –, das alles interessierte die etablierte Politik kaum.“ Nun bekämen allen voran die Grünen und die SPD von den Wählern die Quittung dafür, dass sie das Phänomen Ostdeutschland ignorieren und sich lieber mit Regenbogen- und Genderpolitik beschäftigen, „Fragestellungen, die einem Malermeister in der Oberlausitz wurscht sind.“ Die AfD habe Themen wie Migration, innere Sicherheit, Arbeitslosigkeit, Corona-Politik auf ihre Art besetzt und die Ostdeutschen geschickt abgeholt.


Deprimierendes Ritual


Eine der großen Aufgaben nicht nur der Politikwissenschaft wird sein herauszufinden, inwieweit mehrere Ereignisse kurz vor der Wahl die Wahlergebnisse korrelierend oder kausal beeinflussten. Allen voran das Massaker von Solingen: der 26jährige Syrer Issa al H., ein sunnitischer Muslim, der im Dezember 2022 nach Deutschland gekommen war und kurz darauf einen Asylantrag bei der Bielefelder Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge gestellt hatte, stach beim „Festival der Vielfalt“ auf dem Stadtfest zum 650. Jubiläum urplötzlich mit einem Messer auf die Umstehenden ein, verletzte drei tödlich und sechs weitere schwer, entkam im Chaos und stellte sich erst am späten Abend der Polizei. Er sollte schon 2023 abgeschoben werden, da für ihn laut der Dublin-Regeln des europäischen Asylsystems der Staat Bulgarien zuständig war.


Die Behörden trafen al H. aber nicht in seiner Flüchtlingsunterkunft in einer ehemaligen Kaserne in Paderborn an – er war abgetaucht. Eine Ausschreibung zur Festnahme unterblieb wohl – offenbar, weil al H. als unauffällig galt und es ohnehin kaum ausreichend Abschiebehaftplätze gibt. Im August 2023 lief die Überstellungsfrist ab, Deutschland war nun für seinen Fall zuständig. Die Bundesrepublik gewährte dem Syrer Ende 2023 subsidiären Schutz, den Geflüchtete aus dem Bürgerkriegsland häufig bekommen, und verteilte ihn nach Solingen, wo er sich dann im Internet radikalisiert habe. Die Terrormiliz „Islamischer Staat“ IS behauptet in einem Schreiben an die Düsseldorfer Polizei, dahinter zu stecken, obwohl es keinen Beweis für einen Kontakt zwischen dem IS und dem Täter gab.


Es wäre das erste Mal, dass der IS eine Terrortat in Deutschland für sich reklamiert – seit dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt 2016 mit 13 Toten. Über die folgenden, erwartbaren Reaktionen von Bundespräsident über Kanzler, Innenministerin… bis zu Altparteivorsitzenden erboste sich unter anderem Cicero-Chef Alexander Marguier: „…was die zuständigen Presseabteilungen aus dem Satzbaukasten der Bullshit-Versatzstücke bei diesen Gelegenheiten halt wie gewohnt in die Öffentlichkeit schleudern. Man fragt sich, ob Schweigen in solchen Fällen nicht sogar würdevoller wäre als das übliche Bekunden von geheuchelter Anteilnahme. Die Menschen ‚draußen im Land‘ können und wollen es nämlich nicht mehr hören. Es ist ein abstoßendes, ein deprimierendes Ritual geworden.“


So rief Frank-Walter Steinmeier (SPD): „Stehen wir zusammen – gegen Hass und Gewalt.“ „Was meint das deutsche Staatsoberhaupt eigentlich damit, wenn er die Bevölkerung nach einer tödlichen und aus dem Hinterhalt verübten Attacke zu so etwas auffordert?“, kontert Marguier. „Die vielen Leute, die am Solinger Neumarkt das 650-jährige Stadtjubiläum feiern wollten, standen zum Zeitpunkt der Mordtat ja sogar sehr dicht zusammen – wie das bei solchen Events üblicherweise der Fall ist. Und da es sich auch noch um ein „Festival der Vielfalt“ handelte, darf man getrost davon ausgehen, dass ‚Hass und Gewalt‘ dort nicht auf der Agenda standen. Sondern das exakte Gegenteil. Es ist wirklich zum Verzweifeln, mit welch einem banalen, grotesken Kauderwelsch die Bevölkerung vom höchsten politischen Würdenträger dieser Republik nach einem offenkundigen Terrorakt abgespeist wird. Solche Sätze kalmieren nicht, sie machen wütend.“ Denn die Tat steht geradezu symbolisch für das Scheitern dessen, was dort gefeiert werden sollte.

 

Moralische Insolvenzverschleppung


Innenministerin Nancy Faeser (auch SPD), die sich schon eines „Rückführungsverbesserungsgesetzes“ rühmte, durch das ganze 600 unberechtigt hier lebende Menschen zusätzlich abgeschoben werden können, gefiel sich gar in Diskussionen über Waffenverbotszonen und – Klingenlängen! Das ist kein Witz, auch wenn die IS es als solchen nahm: Der Anschlag von Solingen beweise den „Nutzen“ für den dschihadistischen Kampf; die Debatte über Messerverbote und Klingenlängen zeige die Unfähigkeit der „Ungläubigen“, Angriffe zu verhindern,  heißt es in einem Artikel im wöchentlichen Newsletter der Terrororganisation unter der Überschrift „Ein Dschihad in Europa“. CDU-Chef Friedrich Merz kommentierte prompt in seinem Newsletter mit den Worten: „Nicht die Messer sind das Problem, sondern die Personen, die damit herumlaufen.“ Der IS-Text ruft dazu auf, weitere Bluttaten im Westen zu verüben. Die Fundamentalisten spotten dabei über die Tatsache, dass in Deutschland eine politische Diskussion um die im öffentlichen Raum erlaubte Klingenlänge entbrannt ist. „Es scheint so, als hätten sie die Hoffnung aufgegeben, die Angriffe verhindern zu können, und sich daher entschieden, sich auf deren Regulierung zu beschränken!“, zitiert der Blog Terrorlage das Schreiben wörtlich.


Weiter: „Das Problem wird sich nicht auf das Messer beschränken, denn was ist mit einem Muslim, der die ‚Geburtstagstorte‘ mit Sprengstoff präparieren kann! Seid ihr auch darauf vorbereitet, sie zu verbieten oder ihre Größe zu reduzieren?“ Um aktionistische Härte zu zeigen, wurde in der Vorwahlwoche ein neuer „Migrationspakt“ beschlossen und ein Abschiebeflug nach Afghanistan organisiert. An Bord waren 28 Gewalttäter, darunter der 31jährige Mohtajar N., der nach der Gruppenvergewaltigung einer 14jährigen in Illerkirchberg zu 26 Monaten Haft verurteilt worden war. Die erste Empörungswelle ging durchs Netz, als bekannt wurde, dass jeder Abgeschobene 1000 Euro Handgeld bekam – etwa zwei afghanische Jahresgehälter –, das ihren Lebensunterhalt in Afghanistan für einige Monate sichern soll: Straftäter werden für ihre Verbrechen auch noch finanziell unterstützt, hieß es.


Da der Afghane aber bald Vater wird, da seine Freundin in Deutschland ein Kind erwartet, kündigte sein Anwalt Christoph Käss an, sich für ein Visum stark zu machen, mit dem der Abgeschobene möglicherweise trotz Einreiseverbot zurückkehren könnte – was eine zweite Empörungswelle hervorrief. Zur Erinnerung: „Wir müssen endlich im großen Stil abschieben“, so Kanzler Olaf Scholz in der SPIEGEL-Ausgabe 43/2023 – und legte mit gefalteten Händen weiße Rose am Tatort ab; eine „übliche Wallfahrt“, ärgert sich Knauss, erkennt eine „politische Bankrotterklärung“ und fragt „Wie lange hält diese Gesellschaft, dieser Staat, diese Demokratie das noch aus?“ Bernd Stegemann stellt im selben Blatt gar eine „Kapitulation vor der Realität“ fest. Die muss man auch der Berliner Polizei attestieren: bis zum Wahltag waren dort Verhaltenstipps beim „Aufeinandertreffen mit aggressiven Menschen“ zu lesen, die unter anderem bei Angriffen empfahlen zu singen.


Michael Sommer bilanziert eine „moralische Insolvenzverschleppung“, nachdem er einen „immer gleichen Zyklus von Reaktionen“ analysiert: „Politik und Medien würden zuerst ihr Mitgefühl mit den Opfern und ihren Angehörigen erklären, dann die volle Härte des Rechtsstaats fordern, um anschließend vor der Spaltung der Gesellschaft sowie Vereinnahmung der Untaten zu warnen und zu betonen, die Morde hätten nichts mit Masseneinwanderung oder gar ‚dem Islam‘ zu tun. Außerdem wird behauptet, die im politischen Raum geführte Debatte sei Wasser auf die Mühlen der üblichen Verdächtigen am rechten Rand. Schließlich feiert man die demokratischen Werte bei ‚Rock gegen rechts‘ und geht danach zur Tagungsordnung über – bis der nächste Fall die Republik aufrüttelt.“ Die Berliner Charité schlug inzwischen Alarm wegen eines „kontinuierlichen Anstiegs der Zahl der Messerstichverletzten“.


Buntheits-Eiapopeia


Das Problem sei, dass diese Intervalle immer kürzer und die Bürger daran erinnert werden, dass „das Buntheits-Eiapopeia löchrig wie ein Schweizer Käse“ ist, so Sommer. Er vergleicht das Verhalten der Akteure mit dem von Investoren, die viel Geld in das marode Narrativ investiert haben: „Einwanderung ist schön und alle haben Nutzen davon“. Mit jedem Jahr rutsche der Betrieb tiefer in die roten Zahlen, doch das ficht die Investoren nicht an: Jetzt erst recht, ist ihre Devise. Sie haben schon so viele Millionen in das Pleiteunternehmen versenkt, dass es jetzt auf ein paar lumpige Tausender auch nicht mehr ankommt – Steuergeld, versteht sich. Und so prophezeit Sommer: „Wie ein schleichendes Gift, das sich im Körper ablagert, sammeln sich über die Jahre letale Dosen von Resignation, Vertrauens- und Legitimitätsverlust im Organismus des Gemeinwesens an.“ Friedrich Merz rief prompt eine „nationale Notlage“ aus – und wurde erwartbar als „rechts“ diffamiert.


Mit juristischem Halbwissen, moralischer Einschüchterung und dem Nazi-Vorwurf hat eine Minderheit die Macht über eine existentielle Frage inne, bringt Stegemann die Migrationsmisere auf den Punkt. Er verweist vor allem auf den Paragraph 16a des Grundgesetzte, der besagt, dass das Grundrecht auf Asyl nicht gilt, wenn jemand aus einem sicheren Drittstaat einreist. Würde die Regierung dem Grundgesetz folgen, gäbe es keinen Rechtsanspruch auf politisches Asyl in Deutschland, da das Staatsgebiet von sicheren Drittstaaten umgeben ist. Die seit Angela Merkels Alleingang 2015 ausgesetzte Regelung wird von Linksgrün seitdem für faktisch nicht mehr existent erklärt, ja gilt die Benennung der Fakten inzwischen als „rechts“, empört sich der Autor: „In der absurden Welt des grünen Milieus gilt noch immer die Formel: Wer als Flüchtling gewalttätig wird, wurde von der deutschen Gesellschaft zu wenig geliebt.“ Integration gilt jetzt offenbar als Bringschuld der Deutschen.


Wenn sich genau dieses Milieu nun darüber empört, dass Menschen an der Wahlurne verzweifeln und darüber nachdenken, wie sie sich von den Absurditäten befreien können, ist der Höhepunkt der Heuchelei erreicht. Polizeigewerkschaftschef Wendt schimpft wenig diplomatisch im Cicero: „Die größte politische Hürde für das konsequente Vorgehen gegen Gewalttäter ist die Blase, in der unsere Politiker leben. Abgeschirmt durch Sicherheitskräfte und gepanzerte Dienstwagen, eingelullt von schulterklopfenden ‚Experten‘ und häufig genug gehätschelt von Journalisten, die ihre Arbeit als Vorbereitung auf die Anstellung als Regierungssprecher verstehen, nehmen sie die Realität nicht einmal mehr verschwommen wahr.“


Dass es anders geht, zeigte jüngst der sozialdemokratische Minister für Ausländer- und Integrationsangelegenheiten Kaare Dybvad Bek in Dänemark, das 1951 übrigens zu den Erstunterzeichnern der Genfer Flüchtlingskonvention gehörte: „Unsere Ausweisungszentren sind nicht dafür gemacht, dass man gerne in Dänemark bleiben will. Sie sollen klarmachen: Du bist hier unerwünscht. Akzeptiere, dass du in diesem Land keine Zukunft hast.“ Die Migration ist in Dänemark seit 2015 um 90 Prozent zurückgegangen und lag im Vorjahr bei 2470 Einreisen. Nach Deutschland sind im selben Jahr 352.000 Migranten gekommen. „Dänemark ist kein faschistischer Staat, sondern eine sozialdemokratische Gesellschaft, die verstanden hat, dass ihre Lebensweise nur funktioniert, wenn sie sich vor illegaler Migration schützt“, so Stegemann. „Und man möchte anfügen, Dänemark hat durch seine klare Migrationspolitik verhindert, ein faschistischer Staat zu werden.“ 


Wir! Hassen! Ostdeutschland!


Von anderen sicher wahlbeeinflussenden Ereignissen seien nur noch vier genannt. Erstens haben tausende Schalker beim Zweitligaspiel in Magdeburg den Schmähgesang „Wir! Hassen! Ostdeutschland!“ angestimmt – was selbst die linke ZEIT als „dümmsten Fangesang der Stunde“ kritisierte. Zweitens hatte Nancy Faeser versucht, Jürgen Elsässers Zeitschrift compact zu verbieten – das Verbot wurde juristisch kassiert. Drittens ist der Fall „Wannseekonferenz 2.0“ juristisch noch immer nicht abgeschlossen: der NDR erlitt für die von ihm produzierte Tagesschau eine Schlappe beim Oberlandesgericht Hamburg. Ihm wurde unter Androhung eines Zwangsgeldes im Juli verboten, weiterhin zu behaupten, bei einer privaten Zusammenkunft in der Nähe des Wannsees im November 2023 sei „verfassungswidrig“ über die Ausweisung „deutscher Staatsbürger“ diskutiert worden. Da die eigentlich verbotenen Behauptungen bis August weiterhin verbreitet wurden, hat der Staatsrechtler Ulrich Vosgerau sowohl Programmbeschwerde eingereicht als auch einen Ordnungsmittelantrag vor Gericht gestellt. Nun droht eine Strafzahlung von bis zu 250.000 Euro – auf Kosten der Beitragszahler – oder ersatzweise Ordnungshaft.


Und viertens hat die EDEKA-Zentrale in einer albernen Marketing-Aktion ganzseitige Anzeigen in ZEIT und FAZ geschaltet und darin mit einem Obst- und Gemüsevergleich erklärt, „warum bei Edeka Blau nicht zur Wahl steht“ – das Logo der Kette ist übrigens auch blau. Zwischen Obst- und Gemüsefotos wird in mehreren Absätzen erläutert, weshalb blaue Lebensmittel schädlich seien. Die Evolution lehre uns nämlich, dass Blau keine gute Wahl sei, denn dies weise auf eine Unverträglichkeit hin. Darum solle man die „Warnhinweise“ richtig lesen und bei den kommenden Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg für ein „verträgliches Miteinander“ sorgen. Kunden und Lieferanten reagierten empört, in den sozialen Medien türmte sich eine Welle von Boykottaufrufen auf. Aber auch innerhalb des dezentral und genossenschaftlich organisierten Unternehmens brodelte es gewaltig: Die Edeka-Gruppe wird von 3.600 selbstständigen Einzelhändlern getragen, die in sieben Regionalgesellschaften organisiert sind. Keine war in die Entscheidung der Hamburger Zentrale, die politischen Werbeanzeigen zu schalten, eingebunden.


Mit dem Anti-AfD-Alleingang habe die Edeka-Zentrale wesentliche Unternehmensgrundsätze übergangen. Schon am Abend distanzierten sich einige Marktbetreiber per Facebook von den Werbemaßnahmen ihrer Zentrale. In identischen Stellungnahmen lehnen vornehmlich Edeka-Einzelhändler aus dem Osten die Politisierung ihrer Dachmarke ab: Man sei kein Politiker, sondern Einzelhändler, und werde sich mit seinem Markt nicht in solche Themen einmischen. Einige Betreiber sprechen von geschäftsschädigenden Maßnahmen und müssen sich zurzeit mit vielen Beschwerden sowie Anfeindungen auseinandersetzen. Auch die regionalen Pressestellen erfahren einen großen Ansturm an Empörung. Lob und Rückendeckung erhält Edeka hingegen von Grünen-Politikern wie der aus Thüringen stammenden Katrin Göring-Eckardt – die ursprünglich Küchenhilfe ist, aber von Blau-, Brom- oder Heidelbeeren, Blaukraut oder Auberginen offenbar noch nie gehört hat; von bestimmten Kartoffel-, Blumenkohl-, Zwiebel-, Spargel- oder – wenn auch schimmligen – Käsesorten ganz zu schweigen.


Intellektuelle Infantilisierung


Diese Politisierung verweist, womit sich der erste Kreis schließt, zurück auf das Problem der „normativen Demokratie“. Die Idee dahinter interpretiert Wolfgang Streeck im Cicero anhand von Philip Manows „Unter Beobachtung“ so: „Wenn Demokratien solche bleiben sollen, muss der Bereich des mit Mehrheit Beschließbaren eingegrenzt sein. Indem Demokratie über den Formalismus freier Mehrheitsbildung hinaus substanzielle Rechte garantiert, die der Willkür des populistisch politisierenden Volkes entzogen sind, wird sie zu liberaler und damit erst zu wirklicher Demokratie. … Wertepolitischer Eigensinn des Souveräns wird als Krisenerscheinung wahrgenommen, die durch staatliche Eingriffe repariert werden muss.“ Manow zufolge kann die Liberalisierung der Demokratie diese in Verruf bringen, weil sie einmal getroffene Wertentscheidungen festschreibt, die ihre Plausibilität verlieren, aber kaum revidiert werden können.


Die Demokratie erscheint dann als Bastion politischer Klassen, die ihre Mehrheit verloren haben und sich, wie Zeh erkannte, in Überregulierung und Übergriffigkeit flüchten: „Habeck und viele andere Politiker glauben, dass ihre Aufgabe darin besteht, den Leuten ständig etwas zu erklären, sie abzuholen, mitzunehmen, auf Augenhöhe zu adressieren und so weiter. Das ist ein pädagogischer Ansatz für Politik und damit eben auch eine Topdown-Methode. Das kommt bei vielen Leuten nicht gut an. … Ich entgegne jedes Mal: Ihr müsst nicht besser kommunizieren, ihr müsst bessere Politik machen. Aber das ist das weitverbreitete Verständnis: Wir machen ja alles richtig und wissen, wie es geht. Wir müssen es nur richtig erklären. Dieser Ansatz geht letztlich davon aus, dass die Bürger nichts verstehen oder irgendwie renitent sind. Und dass es gleichzeitig Alternativlosigkeiten gibt, die dazu zwingen, diese vermeintliche Unwilligkeit der Bürger zu überwinden – kommunikativ, pädagogisch, therapeutisch.“


Nach diesem normativen Demokratieverständnis ist Demokratie nicht einfach ein Verfahren, sondern auch an eine Reihe von Inhalten gebunden, die nicht zur demokratischen Disposition stünden, meint Alexander Grau. Aus dieser normativ-demokratischen Sicht sei es etwa unmöglich, auf demokratische Weise die Schließung von Grenzen zu beschließen, da geschlossene Grenzen einem imaginierten demokratischen Wertekanon widersprächen. Auch der basisdemokratischste Beschluss zu Grenzschließung ist nach dieser Logik demokratiefeindlich. Grau weitete dann Zehs Vorwurf auf bestimmte Medien wie den Spiegel aus, der sich „nicht entblödete“, Björn Höcke, Marine Le Pen und Donald Trump „im Stil realsozialistischer Ästhetik auf sein Cover zu heben“ unter dem Titel „Wie Faschismus beginnt“. An dem Cover sei so ziemlich alles Unsinn: „die Gestaltung, die Botschaft, die Schlagzeile“. Denn weder ein Trump noch eine Le Pen oder ein Höcke seien Faschisten. Eine solche Etikettierung „ist historisch falsch und wird durch Wiederholung nicht besser“.


Höcke zum „heimlichen Hitler“ zu stilisieren, seit so weit weg von jeder historischen Kenntnis, „dass es einem nur noch graut. Und dass ein angeblich renommiertes Nachrichtenmagazin von ‚dem Bösen‘ schreibt, das es zu erkennen gelte, zeigt nur, wie weit die intellektuelle Infantilisierung um sich gegriffen hat.“ Was auch am Wahltag passiert, ist „das Ergebnis von freien und geheimen Wahlen. Wem das Ergebnis nicht passt, der sollte entweder Wahlen abschaffen, in jede Wahlkabine einen Wahlbeobachter stellen oder gleich das Endergebnis festlegen. Nebenbei: Es gibt natürlich noch eine weitere Möglichkeit, ein solches Ergebnis zu verhindern: Man könnte einfach die Politik machen, nach der die Menschen verlangen. Aber das ist natürlich ein reichlich kühner Gedanke.“ Die Demokratie ist also nicht aufgrund irgendwelcher Populisten in Gefahr, im Gegenteil. Deren Erfolg sei Ausdruck eines zutiefst demokratischen Wunsches nach Kurskorrekturen einer verfehlten Politik: „Wenn die Demokratie erodiert, dann wegen ihrer normativen Aufladung, die ganz demokratische Begehren für illegitim erklärt!“


Mehr als eine bloße Störung


„Ich will nicht, dass ihr mir dauernd reinredet, was ich zu wählen, zu sagen, zu denken, zu lesen und sonst wie zu meinen habe!“, wird Uwe Tellkamp auf Nius sehr deutlich und spricht von einem „Freiheitswillen im Sinne einer Demokratie, wie viele Menschen sie jetzt nicht mehr sehen und nicht mehr erfahren.“ Und weiter: „Das Stichwort ‚Protestwahl‘ wird eine Rolle spielen. Aber hier geht der Frust tiefer. Das ist eine Politik, die in den letzten Jahren, sagen wir mal grob seit 2015, begann. Mit der Migrationswelle, mit der Energiewende greift man sehr tief in den Alltag von Menschen ein. Auf eine Weise, die viele inzwischen nicht nur irritiert, sondern verstört und die ja wirklich etwas kostet. Sie kostet bürgerlichen Wohlstand. Sie kostet in der Gesellschaft auch sozialen Wohlstand, sozialen Rückhalt und alle diese Dinge, also das Gefühl, dass sich das Land auf eine Weise verändert, die als nicht gut empfunden wird. Das ist mehr als eine bloße Störung atmosphärischer Art.“


Für Ben Krischke wiederum ist der Wahlausgang mit Rekurs auf Hegels dialektisches System von These, Antithese und Synthese „das bisher stärkste Indiz dafür, dass sich die Berliner Republik, wie wir sie seit der Wiedervereinigung kannten und lange auch schätzten, in der Auflösung befindet. Nicht geografisch oder dahingehend, dass tatsächlich die Demokratie kurz vor dem Untergang stehen würde. Sondern als Prinzip, weil all das Etablierte, das sich unter ‚Berliner Republik‘ subsumieren lässt, gerade kollabiert. Die etablierte Politik verliert massiv an Zuspruch, etablierte Medien immer mehr an Vertrauen.“


Als eine Ursache macht er im Cicero aus, „dass formulierter Anspruch und faktische Wirklichkeit in zu vielen politischen Bereichen nicht deckungsgleich sind.“ Und „wer mit dem Finger auf sie zeigt, weil sie sagen, was sie sagen, und weil sie wählen, wen sie wählen, bekommt als Reaktion eben den ausgestreckten Mittelfinger zurück.“ Ähnlich sieht es Marc Felix Serrao in der NZZ: „Die Bundesregierung in Berlin, die vor den Wahlen in Sachsen und Thüringen auf der Intensivstation lag, ist klinisch tot. SPD, Grüne und FDP haben dem Land ‚mehr Fortschritt‘ versprochen und eine gefährdete Energiesicherheit, eine drohende Deindustrialisierung und eine erodierende innere Sicherheit geliefert.“


Dass die Ansprüche der Migrationspolitik mit der faktischen Wirklichkeit etwa des Solinger Anschlags zu den primären Inkongruenzen gehören, dürfte eine kaum bestreitbare These sein, wie Knauss anhand des „Migrationsgipfels“ zwischen Friedrich Merz und Olaf Scholz analysierte. Das zentrale Wort für ihn das „rechtliche Problem“ aus Justizminister Marco Buschmanns (FDP) Kommentar „Dass wir pauschal für die ganze EU oder Deutschland sagen, dass wir bestimmte Menschen gar nicht mehr aufnehmen, das ist ein rechtliches Problem... Wir müssen über die Menge reden, wir müssen über die Verteilung in Europa reden, wir müssen über den Schutz der Außengrenzen reden, aber wir können nicht einfach sagen, niemand darf mehr zu uns kommen“. Und so wundert er sich: „Der promovierte Jurist Buschmann spricht da wie ein Rechtsanwalt, der er nebenbei auch noch ist, und nicht wie ein Abgeordneter und Minister, der er doch im Hauptberuf sein sollte. Anwälte müssen die Interessen ihrer Mandanten im Rahmen der existierenden Gesetze verfolgen, aber Minister und Abgeordnete verfolgen üblicherweise das Ziel, Gesetze im Sinne derer zu ändern, die sie repräsentieren.“


Ungebremste Dummheitsepidemie


Das gelte auch für das Grundgesetz, das mit einer Zweidrittelmehrheit im Bundestag, über die die Ampel zusammen mit der CDU/CSU-Fraktion verfügen würde, schon sehr oft Änderungen erfuhr – weil es eben nicht auf mosaischen Tafeln überliefert wurde. Und die Erfahrungen aus der Corona-Zeit belegen, dass solche Änderungen oder de facto Außerkraftsetzungen sehr schnell geschehen können, wenn der berühmte politische Wille dazu vorhanden ist. Merz habe genau diesen Willen signalisiert. Aber die Einwände aus der Ampel mit dem „rechtlichen Problem“ sind „vermutlich nicht nur ein kommunikativer Kniff, um zu verschleiern, dass es im Gegensatz zur Corona-Zeit in Sachen Migration am politischen Willen zu so etwas wie einer Zeitenwende mangelt.“ Darin stecke durchaus auch ein Überzeugungskern, den die Regierenden bei sich selbst und ihrem Publikum voraussetzen und einer modernen Interpretation des Mottos „Fiat iustitia, et pereat mundus“ (Es soll Gerechtigkeit geschehen, und gehe darüber die Welt zugrunde) entspräche: eine „altbekannte deutsche Unbedingtheit“, ja die „unbedingten Prinzipientreue unter Einsatz des eigenen und auch anderer Leute Gut und Leben“ – man könnte auch Gesinnungsethik sagen. 


Der Erhalt des konkreten inneren Friedens und Wohlstands im eigenen Land muss im Zweifelsfall politischen Vorrang vor abstrakten, universellen Prinzipien haben. Und damit schließt sich der zweite Kreis: Der zu Knauss‘ „Renitenz aus Dummheit“ der Altparteien. In seinem lesenswerten Cicero-Essay „Die Dummheit als moderne Epidemie“ verallgemeinert der Kölner Psychologe Michael Klein mit Rekurs auf Schillers „Mit der Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens“ („Die Jungfrau von Orleans“) sicher zu Recht, das derzeitige Führungspersonal gebe einen erschreckenden Einblick in die möglichen Folgen einer „ungebremsten Dummheitsepidemie. Den kommenden Dummheits-Tsunami abzuschwächen, ist vielleicht schon bald nicht mehr möglich.“


Auf der Grundlage der Big-Five-Persönlichkeitstheorie ist für ihn Rigidität, Engstirnigkeit, Mangel an Einsichtsfähigkeit ein Korrelat großer Dummheit: „Je mehr Macht eine dumme Person hat, desto gefährlicher wird sie für ihre Mitmenschen und auch ganze Völker.“ Dummheit nicht zu bemerken, kann passieren. „Aber Dummheit, nachdem man sie erkannt hat, nicht zu bereuen und nichts zu verändern, ist der Kern des Problems der Dummheit.“ Es sei etwa eine unfassbare Dummheit, politisch Andersdenkende mit Hass und Hetze statt mit Argumenten zu überziehen und sich gleichzeitig als Ritter gegen „Hass und Hetze“ zu inszenieren. Dieses Verhalten ist nicht nur offensichtlich unglaubwürdig, sondern von größter psychologischer Naivität. 


Während einfache Dummheit über Jahrtausende als ein Mangel an Intelligenz und Begabung verstanden wurde, gestalte sich die postmoderne Dummheit in der Multimediagesellschaft schwieriger: „Sie stellt eine Mischung aus verschiedensten Bestandteilen dar: Konformismus, Zugehörigkeitsstreben, mangelnde Wissensstrukturen, selektive Informationsauswahl, Ignoranz gegenüber anderen Informationen und übertriebene Emotionalität bis hin zur Hysterie sind die wichtigsten dieser modernen Ingredienzien von Dummheit.“ Diese Mischung amalgamiert zusammen mit dem Truth-Effekt der Wiederholung und dem Mehrheitskonformismus der Masse zu einem Zustand der chronifizierten Dummheit und grenzenlosen Unmündigkeit.


Tiefgreifende Entdummungsstrategie


Die repräsentative Parteiendemokratie unserer Tage sei vom athenischen Ursprungsmodell der Demokratie meilenweit entfernt. „Derzeit produziert sie besonders viele dumme Exemplare in Führungspositionen. Dies hängt mit der Tendenz zu egalitären Strukturen, Quoten und sonstigen Zwangshandlungen zusammen.“ Zwei Wahlperioden abzuwarten, um schwerwiegende politische Fehler zu korrigieren, ist viel zu lange und kann das Land empfindlich schädigen. Dafür müssen die Strukturen der direkten Demokratie gestärkt und die Macht der Parteien eingegrenzt werden. Die zunehmende Zahl nicht mehr zu verbergender dummer Menschen in politischen Führungspositionen schaffe glücklicherweise noch ein deutliches Unbehagen in großen Teilen der Bevölkerung. Sein Fazit: „Ohne eine tiefgreifende Reform des Parteienstaats mit weitgehender Entmachtung der Parteien wird die Malaise der heutigen Demokratie nicht zu lösen sein.“


Denn es kämen Personen an die Spitze von Staat und Parteien, die dort nichts zu suchen haben: „Sie zeigen weder Mut noch Weisheit, dafür jede Menge Ideologiehörigkeit, Naivität und Gefallsucht, kurz: Dummheit. Die neue Dummheit tarnt sich vordergründig mit einer vermeintlich tieferen Klugheit. Man glaubt, das besondere Wissen und den ultimativen Durchblick der Erwählten zu haben: Dass Männer menstruieren und Kinder bekommen können, dass das Klima bald unwiederbringlich kippt oder dass die zuwandernden Migranten das Land bunter und besser machen werden, sind Beispiele dieser Weisheiten, die in Wirklichkeit nur Bullshit-Ideologien sind.“ Dass es in Zukunft einer tiefgreifenden Entdummungsstrategie bedürfen wird, wenn dieses Land jemals wieder an frühere Glanzzeiten anknüpfen will, wird noch geflissentlich verdrängt, so Klein abschließend: „Viele von denen, die man jetzt noch als Schwurbler, Rechte, Umstrittene und sonstwas stigmatisiert, werden dem Land einmal sehr helfen müssen.“ Was für ein Eingeständnis.


Knaus beweist die offenkundige Richtigkeit der These mit Kühnerts Wahlabend-Auftritt, auf dem er „werben, erklären, erläutern, viel mehr als wir das bisher tun“ wollte: „Anders gesagt: Kühnert hält die Wähler für allzu schwer von Begriff, um seine ‚seriöse Politik‘ zu kapieren. Vermutlich wird er sich künftig dafür einsetzen, die Kommunikationsbudgets der SPD-Ministerien aufzustocken und die NGOs von ‚Demokratie leben‘ noch üppiger mit Steuergeld zu versorgen. Arroganz und Überheblichkeit sind bekanntlich keineswegs ein Kontraindikator für Dummheit.“ Aber auch die Grüne Ricarda Lang bekommt ihr Fett weg. Sie hatte die auf die Journalistenfrage, ob die grüne Migrationspolitik hier in Sachsen und Thüringen nicht klar gescheitert sei, geantwortet: „Nein, ich glaube nicht, dass das das Thema ist, das die Menschen hier am meisten umgetrieben hat“. Euphemistisch konstatiert Zeh: „Es gibt auch eine starke Bürgerverdrossenheit in den Eliten“.

Knaus trocken: „So etwas Realitätsverweigerung zu nennen, ist eine Untertreibung. Wenn der Mangel an Einsichtsfähigkeit in das Offensichtliche und die Nutzung unreflektierter Phrasen und Euphemismen zu den Merkmalen der Dummheit gehören, so kann man solche Reaktionen kaum anders nennen als: dumm.“ „Sie kapieren es einfach nicht“, untertreibt wiederum Welt-Chef Ulf Poschardt, klagt „Die Lernkurve im Elfenbeinturm bleibt flach“ und flucht über herrische „Moral-Oligarchen“. Inzwischen hat sich mit Brandenburgs SPD-Vizechefin Katrin Lange erstmals eine amtierende Ministerin kurz vor der Wahl gegen eigene Parteikollegen gewandt: „Fürs Erste wäre schon einiges gewonnen, wenn bestimmte Leute grundsätzlich nicht mehr an Talkshows teilnehmen würden“, sagte sie Bild. „Es ist nämlich unerträglich.“ Gemeint war ihre Parteichefin (!) Saskia Esken, die eisern an Olaf Scholz festhält – und öffentlichkeitswirksam an seinen Wahlsieg 2025 glaubt.


Apropos Entdummungsstrategie: In zwei Wochen wird Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke zeigen müssen, dass seine Partei doch noch Wahlen gewinnen kann – wenn auch mit Ach und Krach. Sollte sie dort jedoch den Ministerpräsidentenposten verlieren, gäbe es bei den Sozialdemokraten auch im Bund kein Halten mehr – insbesondere mit Blick auf Olaf Scholz. Denn: Als anlässlich der Landtagswahlen 2005 die CDU in NRW rund 45 Prozent der Stimmen erreichte und die SPD „nur“ noch 37, riefen Gerhard Schröder und Franz Müntefering auf Bundesebene Neuwahlen aus. Ein Rückgang des Stimmergebnisses für die SPD um sechs Prozentpunkte im größten Bundesland galt ihnen als Misstrauensvotum für ihre Politik. Wenn der Grundsatz „Erst das Land, dann die Partei“ daher noch etwas gelten soll, wird nach den Wahlen in Brandenburg die Zeit gekommen sein, die Notbremse zu ziehen – nicht nur in der Flüchtlingspolitik – und Neuwahlen anzusetzen. Oder Krischke behält mit seiner Endzeitprognose Recht. Entdummungsstrategien brauchen wir dann nicht mehr.


   *


Über den Autor: Thomas Hartung, geb. 1962 in Erfurt; promovierte nach seinem Lehramtsstudium in Magdeburg 1992 zur deutschen Gegenwartsliteratur und war danach als Radio- und Fernseh-Journalist in Sachsen-Anhalt und Sachsen sowie als freiberuflicher Dozent für Medienproduktion und Medienwissenschaft an vielen Hochschulen Deutschlands tätig; der bekennende „Erzliberalkonservative“ trat als Student in die LDPD ein und 1990 aus der FDP aus: von „misslungener Einheit“ nicht nur mit Blick auf die Parteienfusion spricht er bis heute; Hartung war im April 2013 Mitbegründer der AfD Sachsen und wurde zweimal zum Landesvize gewählt. Seit März 2020 ist er Pressesprecher der AfD-Fraktion Baden-Württemberg.



                                                Hier können Sie TUMULT abonnieren.                                    

                                            Für Einzelbestellungen klicken Sie bitte hier.

Comments


bottom of page