Sie wollte postkünstlerische Wege gehen und endete in einer postideologischen Sackgasse: Die documenta 15 changierte zwischen „ästhetischer Entkunstung“ und „antisemitischem Weltkunstdebakel“.
Wenn Kunst ein Ort ist, an dem gesellschaftliche und politische Konflikte stellvertretend ausgetragen werden, war Kassel 2022 ein Schlachtfeld mit vielen Opfern: Noch nie haben so viele Beteiligte einer documenta, Teilnehmer wie Kritiker, „diese mit dem Gefühl verlassen, hintergangen, missverstanden, in etwas hineingezogen, beschädigt worden und Opfer von Stereotypisierungen zu sein“, erklärte Niklas Maak in der FAZ. Von einem „Weltkunstdebakel“ sprach gar Britta Bürger im DLF, denn aus Sicht des Anwalts Peter Raue erfüllten manche Ausstellungsstücke „in Gänze und ohne Zweifel den (…) Tatbestand der Volksverhetzung nach § 130 StGB“, weswegen sich deren Urheber nicht auf die „verfassungsrechtliche Garantie der Kunstfreiheit“ berufen könnten, sagte er in der Süddeutschen.
Immer neue Antisemitismus-Vorwürfe, Forderungen nach einem Abbruch, Debatten über Kontextualisierung und Zensur, Handlungen für und gegen Kunstfreiheit, Rücktritte und Ausstellungsverweigerungen, die vorgeblich wissenschaftliche Bevormundung von Ästhetik, ja selbst Proteste gegen die spätere Berufung von Künstlern als Honorarprofessoren: Das waren die dominierenden Themen während und nach der documenta 15. „Kunst“ blieb nicht nur weitestgehend Nebenschauplatz, sondern fand für manche gar nicht statt: „Mein Hauptproblem ist die ‚Entkunstung‘ der documenta“ kreierte der Kasseler Kunstwissenschaftler Harald Kimpel bei dpa einen vielzitierten Neologismus. „Von ausgestellten Kunstwerken kann keine Rede sein.“
Es seien nicht die drängendsten Themen der Welt thematisiert worden, sondern es habe eine einseitige Sicht des sogenannten globalen Südens gegeben, aus dessen Perspektive der westliche Kunstbegriff aus den Angeln gehoben werden sollte: „Kunst soll ersetzt werden durch kulturelle Lebensäußerungen.“ Man sitzt meistenteils herum, kocht oder wäscht seine Wäsche, während man nebenbei über Gott und die Welt palavert. Bei den Kuratoren nennt man das „Nongkrong“ – ein indonesisches Wort für „zusammen abhängen“. „Die 15. Ausgabe der Documenta in Kassel ist in ihrem Kern Politik. Und feiert das gemeinsame Abhängen für das einwandfrei Gute und das belanglose Schöne“, bilanziert Ralf Hanselle im Cicero. „Eine Ausstellung der Besänftigung sollte es werden, ohne große Namen, ohne Spektakel, dafür mit unzähligen Sitzsäcken, Couchecken, Stuhlkreisen, um alle mit allen ins Gespräch zu bringen“, spottete Hanno Rautenberg in der Zeit.
Zwei Problemkreise: Kuratierung und Geschichtspolitik
In diese vielfache Ambivalenz – Süden oder Westen, Kitsch oder Kunst, Politik oder Ästhetik, Antisemitismus oder Rassismus, Alltag oder Ritual – ist so kurz nach dem Ende der 100-Tage-Schau kaum Ordnung zu bringen; aber Einordnung tut Not. Zwei Problemkreise scheinen auf, die hier nacheinander verhandelt werden sollten: War die neue Kuratierungs- und damit Verantwortungspraxis zumal eines documenta-Konstrukts eine Sackgasse, die nur mit mehr politischem Einfluss verlassen werden kann? Und: Benötigt die Interpretation fremder Kunst im heimischen Deutschland – immer noch – eine polithistorische Brille (um die Vokabel ‚Kontextualisierung‘ zu meiden) – oder ist der Bürger kunstmündig? So kunstmündig, dass das Land auch eine documenta 16 verträgt?
Anmerkungen zur Kuratierung erfordern zunächst organisationale Transparenz: Träger der alle fünf Jahre stattfindenden Kunstausstellung ist eine gemeinnützige Gesellschaft, die „documenta und Museum Fridericianum gGmbH“. Gesellschafter und Geldgeber dieser gGmbH sind die Stadt Kassel und das Land Hessen. Der Bund ist formal nicht beteiligt, ist über die Kulturstiftung des Bundes aber als Finanzgeber mit im Boot. Im Aufsichtsrat der gGmbH sitzen nur Vertreter von Land und Stadt; 2018 hatte sich der Bund zurückgezogen, was Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) bei gleichzeitigem Festhalten an der Bundesförderung als „schweren Fehler“ bezeichnete und wieder ändern will. Aufsichtsratsvorsitzender ist der jeweilige Oberbürgermeister der Stadt Kassel.
Die Ebene darunter bilden die Geschäftsführung und die künstlerische Leitung. Geschäftsführerin – die Position nennt sich inzwischen Generaldirektorin – war seit November 2018 Sabine Schormann. Die jeweiligen künstlerischen Leitungen werden alle fünf Jahre von einer Findungskommission bestimmt. Für die documenta 15 fiel die Wahl 2019 auf ein Künstlerkollektiv aus Indonesien: „Ruangrupa“. Zum ersten Mal wurde die documenta nicht von einer Einzelperson verantwortet, sondern von einer Gruppe. Für die documenta „ist die künstlerische Freiheit konstitutiv“, sagte Schormann der HNA. „Ich habe die Freiheit des künstlerischen Programms zu garantieren. Für das künstlerische Programm selbst, also für die Kuratierung der Ausstellung, ist die künstlerische Leitung zuständig, bei dieser documenta Ruangrupa, unterstützt von einem von ihnen selbst bestimmten fünfköpfigen künstlerischen Team.“
Kimpel nennt es „das Tafelsilber der documenta: der Nicht-Einfluss der Politik auf die Kunst“. Die strikte Trennung zwischen denen, die das Geld geben, und denen, die die künstlerische Freiheit haben, es auszugeben, ist für ihn der Kern der documenta. Ruangrupa arbeitet aber nicht nur selbst als Kollektiv: „Da Kollektivität im Mittelpunkt steht, haben wir zunächst 14 Kollektive eingeladen, ein transnationales Netzwerk aufzubauen, gefolgt von der Einladung von 53 Künstlern, darunter viele Kollektive, die wiederum weitere Beteiligte einluden“, erklärte Ruangrupa dpa ihren Ansatz, der in einem zweiten indonesischen Wort aufgeht: „Lumbung“, eine gemeinschaftlich genutzte Reisscheune, in der die überschüssige Ernte zum Wohle der Gemeinschaft gelagert wird.
Die Zahl der Einzelteilnehmer wuchs laut Schormann auf über 1500 an, die offenkundig einer sozialen, ökologischen, politischen Agenda folgen: „Das heißt aber zugleich, dass Ruangrupa sich nicht primär im klassischen Sinne als Kuratorinnen und Kuratoren verstehen. Das grundlegend Neue an Ruangrupas Konzept ist demgegenüber der radikal ergebnisoffene Prozess, der den eingeladenen Künstlerinnen und Künstlern sowie Kollektiven Freiräume eröffnet und neue Erfahrungen ermöglichen will“. Dazu kommt, dass sich diese documenta mehr als ihre Vorgänger ständig wandelt. „Die Menschen in Kassel und diejenigen, die die Gelegenheit haben, die documenta mehrmals zu besuchen, werden feststellen, dass sich auch die Ausstellung im Laufe der 100 Tage verändern wird“, erklärte Ruangrupa.
Weltflucht in die Scheinhaftigkeit
Damit scheint eine erste Leerstelle auf: Das Kollektiv verstehe sich nicht als Kurator im klassischen Sinne, betonte Schormann. „Sie wollen nicht die Rolle des Bestimmers einnehmen, sondern Freiräume lassen.“ Das sei eben das Radikale und Neue am künstlerischen Konzept Ruangrupas: Im Mittelpunkt steht dabei nicht das Werk, sondern Kunst als kollektiver Prozess, der nur sehr schwer zu kontrollieren sei. Von Anfang an habe für Ruangrupa festgestanden, „keine Werke im klassischen Sinn zeigen zu wollen. Nichts, was sich teuer verkaufen lässt und dem europäisch geprägten Geniekult frönt“, erkennt Rautenberg. Die Vorstellung, Kunst dürfe zweckfrei sein, richtungslos, von jeder Vernunft entpflichtet, gilt Ruangrupa als furchtbar altbacken: „Als Weltflucht in die Scheinhaftigkeit.“
Schormann unterstrich, dass es nicht Aufgabe der Geschäftsführung sei, die Werke vorab zu prüfen und freizugeben. „Das ist Kernaufgabe der künstlerischen Leitung.“ Angesichts der Materialfülle habe sich Ruangrupa „leider nicht jedes Bild mit der Lupe anschauen können, obwohl dies hinsichtlich des sensiblen Themas Antisemitismus zugesichert war“. Auch der Vorsitzende des documenta-Forums, Jörg Sperling, lehnt solche Forderungen kategorisch ab: „Das wäre Zensur“, sagte er dpa. Angesichts der Menge der ausgestellten Objekte an mehr als 30 Standorten sei das zum einen nicht leistbar. Zum anderen widerspreche es der Idee der documenta. Auch Kimpel hält eine Vorab-Zensur weder für machbar noch für gewollt. Der Grundgedanke der documenta sei, der künstlerischen Leitung freie Hand zu lassen: „Die können dann auch eine Bierdeckelsammlung zeigen.“ Damit gehe die documenta aber alle fünf Jahre aufs Neue ein Risiko ein. „Bisher hat das immer geklappt, diesmal ist es schiefgegangen.“
Denn der Vorwurf „Antisemitismus“ stand von Anbeginn im Raum. Schon im Januar 2022 waren erste Stimmen laut geworden, die Ruangrupa und einigen eingeladenen Künstlern eine Nähe zur anti-israelischen Boykottbewegung BDS vorwarfen. Kurz nach der Eröffnung der documenta 15, an der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) angesichts der Vorwürfe nur nach einigem Zögern teilgenommen hatte, wurde das erst spät installierte Banner „People's Justice“ des indonesischen Künstlerkollektivs „Taring Padi“ entdeckt, verhüllt und nach Protesten entfernt: Eine Art Riesen-Wimmelbild, das Juden als Schweine und Monster zeigt, in der Tradition der antisemitischen deutschen Ästhetik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Als die Künstler das Bild vor 20 Jahren schufen, wollten sie die Diktatur Präsident Haji Mohamed Suhartos und seine Kontakte ins Ausland, darunter zum Mossad, mit den Mitteln der Satire aufarbeiten. Jene Jury, die Ruangrupa nach Kassel geholt hat und mehrheitlich aus Vertretern des europäischen Kunst-Establishments besteht, feierte die Schau nach diesem Bannerskandal sogar noch als „Pluriversum“.
Ruangrupa entschuldigte sich zunächst. „Wir haben alle darin versagt, in dem Werk die antisemitischen Figuren zu entdecken“, schrieb das Kollektiv auf der Webseite der documenta 15. „Es ist unser Fehler. Wir entschuldigen uns für die Enttäuschung, die Schande, Frustration, Verrat und Schock, die wir bei den Betrachtern verursacht haben.“ Und weiter: „Wie wir jetzt vollständig verstehen, knüpft diese Bildsprache nahtlos an die schrecklichste Episode der deutschen Geschichte an, in der jüdische Menschen in beispiellosem Ausmaß angegriffen und ermordet wurden. Wir nutzen diese Gelegenheit, um uns über die grausame Geschichte und Gegenwart des Antisemitismus weiterzubilden und sind schockiert, dass diese Figur es in das fragliche Werk geschafft hat.“ Das Kollektiv betonte aber auch: „Wir sind hier, um zu bleiben und entschlossen, diese Ausstellung allen Widrigkeiten zum Trotz offen zu halten.“
Ruangrupa bedankte sich für die „konstruktive Kritik und Solidarität“, betonte aber auch, dass es sich teils nicht fair behandelt fühle: „Wir haben das Gefühl, dass viele der Anschuldigungen gegen uns erhoben wurden, ohne dass zuvor ein offener Austausch und gegenseitiges Lernen angestrebt wurde.“ Es wolle den „Dialog, mit denen, die uns ehrlich unterstützt haben, an uns geglaubt haben“, fortführen. „Wir möchten auch weiterhin mit der Öffentlichkeit, Besuchern und lokalen Basisinitiativen, die unsere Arbeiten ansprechen, ins Gespräch kommen.“
„In Indonesien ist das scheinbar ein unverfängliches Bild“, sagte Schormann, „auch wenn das für uns unverständlich erscheint, zumal Antisemitismus auch außerhalb Deutschlands wächst“. Sollte es weitere antisemitische Inhalte geben, würden diese wie das umstrittene Banner deinstalliert. In kritischen Fällen müsse über das Werk diskutiert werden. Es sei aber nicht angezeigt, die gesamte documenta nun unter Generalverdacht zu stellen. Prompt betonte sie, dass die Geschehnisse aufgearbeitet würden und es nun eine „genaue und bedachte“ Prüfung der übrigen Werke auf kritische Inhalte auch mithilfe externer Experten geben werde.
Kette der Verantwortungslosigkeiten
Denn hakt man nach, wer die Tausenden von Kunstwerken begutachtet hat, „wer dafür in der Verantwortung steht, verhallt die Frage irgendwo in Kassel“, ärgern sich Jörg Häntzschel und Catrin Lorch in der Süddeutschen. „Dabei kann eine Ausstellung nur gelingen, wenn die einzelnen Werke einem Kurator bekannt sind, der sie in eine sinnvolle, funktionierende Beziehung zueinander setzt“, meinen sie. Ein echter Dialog kann nur im Austausch gelingen, „nicht, wenn man unterschiedliche Weltsichten ohne Rücksicht aufeinanderprallen lässt.“ Hessens Kunstministerin Angela Dorn (Grüne) erkannt gar im „Prinzip Kollektiv“ einen „Herrschaftsgestus, der, Harmlosigkeit vorschützend, sich der Rechenschaft entzieht.“ Auch Claudia Roth stellte eine „Kette der Verantwortungslosigkeiten“ fest, von der Deutschlands oberste Kulturhüterin sich selbstverständlich ausnahm. Man fragt sich, wozu es dann eine Bundesbehörde für Kulturpolitik überhaupt braucht. Um Berliner Plätze zu Ehren von Rio Reiser umzubenennen?
Die Kuratoren von Ruangrupa reagierten sehr schnell beleidigt, als die Fragen hartnäckig wurden, befand Claudia Schwartz in der NZZ, „in einer Art Schwarmverhalten tauchten sie auf und ab, ständig gab jemand anderes schwadronierend Auskunft.“ Über „Pressearbeit als Kunstform“ mokiert sich gar Ralf Balke in der Jüdischen Allgemeinen und zitiert die Antwort auf die Anfrage, ob nun israelische Künstler nach Kassel eingeladen waren oder nicht: „Es gibt Beteiligte aus Israel, Einladungen erfolgten jedoch nicht aufgrund nationaler oder anderer Zugehörigkeiten, sondern aufgrund der Praxis der eingeladenen Beteiligten und deren Relevanz für und Kompatibilität mit der Lumbung-Praxis der documenta fifteen. Aus diesem Grund wurden beispielsweise bei der Verkündung der beteiligten Künstler*innen auch Zeitzonen statt Angaben von Nationalitäten kommuniziert.“ Das ist die Fortsetzung des Dadaismus mit anderen Mitteln.
Für Balke blieben israelische Künstler unauffindbar, eine Recherche unter dem Begriff „GMT + 3“, also der Zeitzone, in der sich Israel befindet, führte zu keinem Ergebnis. Einer weiteren Bitte, doch Namen der angeblich eingeladenen israelischen Künstler zu nennen, weil man an einem Interview Interesse hätte, wollte die Pressestelle, die nach indonesischen Straßencafés „warung kopi“ benannt wurde, nicht nachgehen: „Insofern nationale, religiöse oder anderen Zugehörigkeiten von beteiligten Personen nicht für deren künstlerische Praxis zentral sind oder aus anderen Gründen von den Beteiligten aktiv kommuniziert werden, werden diese Zugehörigkeiten mit Blick auf die beteiligten Personen weder offengelegt, noch als Gegenstand oder Grundlage von Interviews angeboten“, hieß es. Stefan Trinks fand die Argumentation eines die Documenta-Leitung unterstützenden Kunstmagazins „aberwitzig“, wonach es auf der documenta 15 sehr wohl jüdische Künstler gebe, „sie würden sich nur nicht als Juden offenbaren wollen. Schlimm genug und eine Schande, wenn dem so wäre.“
Ein Spiegel-Kolumnist hatte schon früh von der „Antisemita“ geschrieben. Es gibt also wieder eine Sehnsucht nach einer starken Kuratorenfigur, folgert zunächst Monopol. Dabei zog der gesamte Berufsstand nach der letzten documenta, die mit ihrem Leiter Adam Szymczyk den Etat überzog, pauschal Häme und Hetze auf sich. Die Zeit forderte: „Schafft die Kuratoren ab!“ Die NZZ wollte die „abgehobene und intellektuell verstiegene Kuratoren-Kaste“ entmachten. Vom Versenken „Unsummen deutscher Steuergelder“, ja „kuratorischem Amtsmissbrauch“ sprach die Welt. Die Schau zählte 738.000 Besucher, das waren 17 % weniger als 2017. Dazu kam, dass die Kollektive feste Budgets hatten, die sie verwalten konnten. Sie konnten selbst entscheiden, welchen Anteil sie für die Ausstellung nehmen und welchen etwa für Projekte in ihren Heimatländern. Ob Kassel defizitär war, zeigt sich frühestens im November.
Potenziell aufhetzende Wirkung
Die Kuratorendiskussion als logistischer Teil übertüncht aber den eigentlichen politischen Teil. Denn es gerieten weitere Werke unter Verdacht. Zum Beispiel ein Bild der palästinensischen Gruppe „Eltiqa“, auf dem durch Uminterpretation von Picassos „Guernica“-Gemälde letztlich Israel mit dem Naziregime gleichgesetzt wurde. Rücktritte und die vorzeitige Schließung wurden gefordert. Letzteres kam für die Stadt Kassel und das Land Hessen nicht infrage; sie sind die eigentlichen Ausrichter des Weltereignisses, das in diesem Jahr zur Weltblamage zu werden drohte. Stattdessen schickten sie nach blamabler Kommunikation Schormann mit einem Auflösungsvertrag weg, nachdem sich auch der Leiter der Bildungsstätte Anne Frank, Meron Mendel, als Berater der documenta zurückgezogen hatte: Er sollte Teil einer Expertenkommission sein, die die verbliebenen Werke der documenta auf weitere antisemitische Inhalte prüfen sollte. Schormann habe ihren Ansagen aber keine Taten folgen lassen, kritisierte er. Interims-Geschäftsführer der Schau wurde Alexander Farenholtz.
Ruhe kehrte nicht ein, im Gegenteil: Im August beschimpfte der Londoner Künstler Hamja Ahsan den deutschen Kanzler auf Facebook als „neoliberales Faschistenschwein“, das er auf „meiner documenta“ nicht sehen wolle. Ahsan wurde daraufhin verboten, im Rahmen der Schau aufzutreten. Und: Der nun berufene Expertenbeirat, der bis Jahresende ein Gutachten über den Antisemitismus der Schau verfassen soll, meldete sich vorzeitig zu Wort, warnte insbesondere vor dem Beitrag „Tokyo Reels“. Diese Zusammenstellung alter propalästinensischer Propagandavideos habe eine „potenziell aufhetzende Wirkung“, Israel werde „ein ‚faschistischer‘ Charakter vorgeworfen“. Weil an dieser documenta aber nichts einfach sein kann, verschickte der Beirat gleich zwei Mitteilungen: eine kurze, die alle mittrugen, sowie eine lange und noch schärfere, die nur von fünf der acht Mitglieder unterzeichnet wurde. Dieser ausführlicheren Fassung zufolge bilden der Israel- und Judenhass das nicht zu überhörende Hintergrundraunen der Schau, es sei „eine antizionistische, antisemitische und antiisraelische Stimmung“ zugelassen worden. Alle Ebenen hätten daran ihren Anteil.
Doch Ruangrupa sowie die documenta-Spitze wiesen die Forderungen der Wissenschaftler zurück. Ruangrupa wolle der Empfehlung nicht nachkommen, hieß es in einer Stellungnahme für Monopol. Ruangrupa warf dem Gremium zudem in einem auch von anderen Künstler-Kollektiven unterzeichneten Brief an den Oberbürgermeister von Kassel und Aufsichtsratsvorsitzenden der documenta, Christian Geselle (SPD), der Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) und der hessischen Kunstministerin Angela Dorn (Grüne) den Versuch der Zensur sowie „eine rassistische Tendenz“ vor. „Wir sind verärgert, müde, traurig, aber vereint“, erklärte das Kollektiv. Sie selbst seien seit Monaten Opfer von Rufmord und Drohungen. Damit war die Spaltung in diejenigen, die der Kuratorengruppe Antisemitismus vorwerfen, und Ruangrupa selbst, die sich als Opfer von Rassismus darstellte, perfekt. „Wer die klare Feststellung des Expertengremiums der documenta einfach abtut und antisemitische und antizionistische Filme weiter zeigt, die noch dazu Israelhass und die Glorifizierung von Terrorismus legitimieren, der handelt selbst antisemitisch“, teilte der hessische Antisemitismusbeauftragte Uwe Becker mit.
Andreas Fanizadeh erkannte in der taz einen „Taschenspielertrick“: Die indonesischen Kuratoren erklärt man qua Abstammung aus dem „globalen Süden“ für unangreifbar und authentisch. Wer sich darüber beschwerte, dass ruangrupa aus politischen – und keineswegs künstlerischen! – Erwägungen, völkisch-arabischen und islamistischen Positionen in Kassel Raum gaben, wird des Rassismus bezichtigt. „Es ging um solche Setzungen, Definitionsmacht, nicht um Austausch. Auf dieser Weltkunstschau sollten Propagandabilder gezeigt werden, wollte man Israel als Faschistenstaat beschimpfen.“ „Immer öfter ist zu hören, dass doch genug an die Opfer der Shoah gedacht worden sein, jetzt seien endlich andere Opfergruppen dran“, stellt der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates Olaf Zimmermann in Politik & Kultur entgeistert fest. „Vielen Unterstützern dieser These scheint nicht klar zu sein, dass diese Haltung der Schlussstrichdebatte aus dem rechtsextremen Lager ähnelt.“
Eine andere Qualität
Der Beirat wies die Vorwürfe entschieden zurück. Die Äußerungen Ruangrupas bezeichnete dessen Vorsitzende Nicole Deitelhoff gegenüber dpa als verstörend. „Dass man unserem Gremium vorwirft, unsere Stellungnahme sei rassistisch oder deutsch-zentriert, ist lächerlich“, sagte die Leiterin des Leibniz-Instituts Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung. Fast die Hälfte der Mitglieder des achtköpfigen Gremiums seien nicht einmal deutsche Staatsangehörige. Der Beirat zensiere auch nicht, betonte Deitelhoff. „Das ist nicht unser Mandat. Wir sind weit davon entfernt, etwas zu zensieren.“ Die Experten seien lediglich für einen Stopp der Filmvorführung, solange es keine neue Kontextualisierung gebe, unterstrich sie. „Das Zeigen der Filmsequenzen an sich ist nicht problematisch.“ Problematisch sei die Art der Präsentation ohne Erläuterung des historisch-politischen Zusammenhangs. „Die bisherige Rahmung, die Ruangrupa selbst in Auftrag gegeben hat, ist völlig unzureichend“, so Deitelhoff.
Hito Steyerl ließ unterdessen ihre documenta-Beiträge, eine Installation und eine Videoarbeit, abbauen, weil sie nicht ertragen konnte, dass über Antisemitismus keine Auseinandersetzung geführt wurde. Sie habe sich gefühlt, als müsse sie sich entscheiden, „ob ich gegen Rassismus oder gegen Antisemitismus bin“, sagte sie der FAZ. „Ich dachte: Das ist verrückt“. Andere Künstler dagegen fühlten sich unfair behandelt, sagte die Kubanerin Tania Bruguera, die mit dem Kollektiv „Instar“ auf der documenta vertreten ist. Die Entfernung des Banners von Taring Padi sei richtig gewesen, erläuterte sie Monopol. Es habe sich aber so angefühlt, als ob alle Teilnehmer in eine Diskussion hineingezogen worden seien, die nicht ihre gewesen sei. Man müsse berücksichtigen, dass andere Länder in der Welt eine andere Geschichte mit Israel hätten als Deutschland. Als Staat habe Israel Dinge getan, die man auch kritisieren könne. „Plötzlich mussten wir alle befürchten, als antisemitisch abgestempelt zu werden, weil wir in dieser Ausstellung waren“, sagte Bruguera.
Damit sind wir mitten im zweiten Problemkreis. Das Internationale Auschwitz-Komitee zog eine verheerende Bilanz. „Das trotzige Beharren vieler Verantwortlicher und der Rückzug hinter die Mauern der eigenen Arroganz“ sei zur traurigen Realität der Documenta geworden, sagte Exekutiv-Vizepräsident Christoph Heubner. Die immer wieder inszenierte Kritik an der Existenz des Staates Israel habe „tief im altbekannten Sumpf antisemitischer Vorurteile“ gesteckt, so Heubner. Es sei nie begriffen worden, dass auch Menschen verletzt, diffamiert und ausgegrenzt würden, die dies in ihrer Familiengeschichte schon einmal bis zum bitteren Ende hätten erleben müssen. Die Documenta markiere eine Zeitenwende in Deutschland und entlarve viele politische Äußerungen als Lippenbekenntnisse. Michel Friedman erstattete Anzeige. Philipp Peyman Engel forderte in der Jüdischen Allgemeinen gar den Rücktritt von Claudia Roth. Die Grüne, die anfangs die documenta-Macher verteidigt hatte, antwortete auf die Frage, ob sie zu leichtgläubig gewesen sei, mit dem Satz, sie habe „vertraut“. Von anderen gebrochenes Vertrauen, das ist ihre Botschaft, kann für sie selbst kein Rücktrittsgrund sein.
Das Expertengremium werde den Vorwürfen ungeachtet seiner Arbeit weiter nachgehen. „Wir sind nicht von der Künstlerischen Leitung oder der Geschäftsführung der documenta berufen worden. Wir beraten die Gesellschafter“, sagte Deitelhoff. Dieser Auftrag bleibe unberührt. „Wir geben aufgrund unserer wissenschaftlichen Einschätzung Empfehlungen. Dazu müssen sich die Gesellschafter verhalten.“ Deren Stellungnahme begrüßte der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster. Er habe sich aber deutlich früher ein derartiges Zeichen der Gesellschafter gewünscht. „Ich erwarte von den Verantwortlichen, dass sie Sorge dafür tragen, dass der hier zur Schau gestellte, staatlich alimentierte Antisemitismus unverzüglich, noch vor dem 25. September beendet wird“, betonte Schuster. „Wenn die documenta-Leitung jetzt nicht handelt, zeigt sich, dass die Einrichtung des Expertengremiums nur ein Feigenblatt war, das nicht einmal diesen Namen verdient.“ Oder anders interpretiert: Wären Schwarze in rassistischen Motiven dargestellt worden, wäre die documenta längst abgebrochen worden.
Der Antisemit will den Tod des Juden
Die Antisemitismus-Debatte wird der documenta nicht schaden, glaubt der Vorsitzende des documenta-Forums. Skandale hätten von Beginn an zu dieser Ausstellung gehört: „Die documenta bietet als Weltkunstschau alle fünf Jahre einen neuen Blick auf Kunst und Kultur“, sagt Sperling. Dass dieses Neue manchmal auf Widerstand stoße, gehöre zum Konzept. „Es wäre äußert langweilig, wenn wir eine documenta hätten, über die nicht diskutiert würde.“ Bei jeder der 14 Schauen hätten Kritiker „das Ende der documenta beschworen“, sagte Sperling. Am Ende sei sie jedes Mal gestärkt draus hervorgegangen. Kimpel ist sich diesmal nicht so sicher. Die bisherigen „Skandale“ waren aus seiner Sicht eher „Provokationen“, bei denen sich Einzelne über Einzelaspekte aufgeregt haben. Diesmal habe der Skandal „eine andere Qualität“: Die Debatte habe die Kunst verlassen und sich in die Politik verschoben. Man habe es jetzt mit einer „entkunsteten, politisierten documenta“ zu tun. „Nicht die Kritiker des Antisemitismus wollen den Tod der Antisemiten, der Antisemit will den Tod des Juden“, erkannte einst messerscharf Jean-Paul Sartre. Dieses Statement sollte man heute bestimmten linksgrünen Politikern zu schmecken geben.
So hält Sperling die Debatte um Taring Padis Wimmelbild für überzogen: „Eine freie Welt muss das ertragen.“ Eva Menasse hysterisierte dagegen im Spiegel: „Der nächste Anschlag à la Halle ist bestimmt längst in Planung. Deren Netzwerke reichen bekanntlich bis in Polizei und Bundeswehr. Aber lasst uns noch ein wenig über Wandteppiche aus Indonesien reden.“ „Wenn die Kunst vor allem dienen soll, nämlich der guten Sache, dann ist es im Grunde egal, wie sie gestaltet ist, Hauptsache, sie wirkt“, befindet Rautenberg und erkennt einen „mangelnden Immunschutz“: In vielen Skandalfällen brauchten Künstler nur darauf hinweisen, „dass man die Darstellung nicht mit dem Dargestellten verwechseln dürfe. Das Bild eines Apfels ist kein Apfel. Und also muss auch die Zeichnung eines antisemitischen Stereotyps nicht zwingend Antisemitismus sein.“ Taring Padi hätten das Bild als historisches Dokument verteidigen können, als Ausdruck ihrer künstlerischen Freiheit, in jedem Fall aber als eine Einladung zum Nachdenken. Das unterblieb, denn „die Kunst primär als Kampfmittel begreift, muss sich schließlich für semantische Feinheiten nicht interessieren.“ Kann in Deutschland Antisemitismus als Kunstfreiheit definiert werden?
Dass zwischenzeitlich die Hoffnung bestand, ergänzende Erläuterungen seitens der Kollektive zu Kunstwerken könnten in der Ausstellung für ein besseres Verständnis sorgen, sei in der Rückschau einigermaßen naiv, meint Johannes Schneider in der Zeit. Denn diese Kontextualisierungen postulierten eigentlich wenig überraschend schließlich, dass kritische Betrachter nur die Kontexte dieser Werke nicht richtig verstanden hätten, einerseits bezüglich ihrer Entstehung und andererseits bezüglich der künstlerischen oder dokumentarischen Rahmung ihrer Inhalte. „In der Gegenwart von Juden zu erklären, warum man jetzt mutmaßlich antisemitische Darstellungen als Teil von Kunst akzeptieren muss und ansonsten vielleicht einfach nicht an die Metaebene heranreicht: Das sieht halt nie wirklich glücklich aus“, so Schneider.
Ruangrupa-Mitglied Indra Ameng räumt rückblickend ein, dass das Kollektiv mit der Debatte auch schlicht überfordert gewesen sei. „Um ehrlich zu sein, ist Antisemitismus nicht unser Spezialgebiet, wir sind da keine Experten“, sagt er: „Als das in den Medien hochkochte, war das Ganze außerhalb unserer Kontrolle.“ Diese haben die Kuratoren im Verlauf der aufgeheizten Debatte nie zurückgewonnen. Für Niels Betori Diehl sind Taring Padis Hakennasen „der authentische Ausdruck des naiven Stumpfsinns des edlen Wilden, der vom Kunstbetrieb, den politischen Institutionen, den Akademien und den Medien hygienisch verpackt und als Vertreter des ‚globalen Südens‘ gebrandet wurde“.
Claudia Roth reagierte im Juni mit einem „Fünf-Punkte-Plan“ gegen Antisemitismus. Der sieht nicht nur vor, dem Bund künftig mehr Einfluss auf die documenta einzuräumen, sondern auch, die Verantwortlichkeiten zwischen der Geschäftsführung sowie den Kuratoren wie auch dem Aufsichtsratsvorsitzenden und den Gremien zu klären. Schormann hatte das noch begrüßt: „Auf jeden Fall tut es einer Ausstellung, die einen weltweiten Anspruch hat, gut, wenn es entsprechende überregionale Fachkompetenz auch in den Aufsichtsgremien gibt.“ Ob das durch den Bund oder andere Fachexperten ausgeführt werde, sei dabei zweitrangig. „Aber eine Unterstützung von dieser Seite ist sicher positiv zu bewerten.“
Mit der Einführung von angekündigten Kontrollgremien verliere die documenta ihre Autorität und ihre Glaubwürdigkeit, befürchtet dagegen Kimpel im HR. Wenn die Politik in Zukunft inhaltlich in die documenta eingreifen wolle, werde es „ganz und gar gefährlich“ und sei eine nie da gewesene Zäsur. „Dann sehe ich eine riesige Gefahr für das Renommee der Schau.“ Er wünscht sich eher eine Rückbesinnung auf die Idee der prestigeträchtigen Ausstellung: Es sei die Aufgabe der documenta, provokant zu sein und den Kanon zeitgenössischer Kunst zu zeigen – deswegen kämen die Menschen nach Kassel. Nicht die Diskussionen um Antisemitismus seien der Skandal gewesen, findet Kimpel, sondern das „glücklose Agieren aller Teilnehmer, das Wegducken und Schuldzuweisen“.
Verantwortung sei nur hin und her geschoben worden. Auch Deitelhoff ist vorsichtig: „Wir wollen nicht, dass Kunst und Künstler die ganze Zeit einem Gesinnungstest unterzogen werden.“ Sie warnt, das würde „Kunst auf Dauer ersticken“. „Es kann nur zu einem Bruch kommen zu dieser antisemitisch gebeutelten und auch ästhetisch mangelhaften documenta“, sagte er dem hr.
Neigung zur Eskalation stark begünstigt
„Diese documenta hatte es angesichts der sie begleitenden Antisemitismusdebatte nicht leicht, ihre eigentlichen künstlerischen Anliegen zu platzieren“, bilanzierte Farenholtz bei dpa. „Ich wünschte mir, dass die Ausstellung in der Retrospektive auch als das wahrgenommen werden kann, was sie in der Wahrnehmung vieler Besucherinnen und Besucher auch war: nämlich ein künstlerisches Unterfangen, das drängendste Fragen unserer Zeit adressiert“. Die ästhetische Seite der documenta sei von der Antisemitismus-Debatte vollkommen überdeckt worden und zu kurz gekommen. Er bedauert, er habe beide Seiten bis zuletzt nicht ins konstruktive Gespräch bringen können: „Dieser Dialog hat aus meiner Sicht gar nicht erst begonnen, der ist schon in seinen Ansätzen gescheitert.“
Es sei „angebracht, selbst ernannten Auslegungsmonopolen mit Misstrauen zu begegnen“, wiederspricht Thomas Schmidt in der Zeit: „Diese Documenta wollte ein postkolonialistisches Lernwerk sein und mit Schäferspielen Ideenpolitik betreiben“. Und hinter dem Schlagwort der „Perspektive des globalen Südens“ – früher hätten wir gesagt: aus Entwicklungsländern, bestenfalls aus der Dritten Welt – verbarg sich eine „dann doch ziemlich autoritäre Aufforderung, von Deutschland aus auf Israel endlich anders zu blicken, nämlich so, wie Israels Feinde das tun.“ Claudius Seidl brachte es in der FAZ auf den Punkt: „Solange aber die Juden, der Holocaust und der Staat Israel ein Problem für den Postkolonialismus sind, so lange muss der Postkolonialismus ein Problem für den Westen bleiben.“
Hier wolle ein den Postkolonialisten nahes Milieu entsprechend dem progressiven Diversitätsprinzip alles radikal gleichmachen, ärgert sich Schwartz. „Bezüglich Deutschlands Geschichte lautet die Forderung dann vereinfacht: Erst wenn Deutschland zugibt, dass der Kolonialismus ein genauso schweres Verbrechen war wie der Holocaust, wird es sich auch mit der eigenen unrühmlichen kolonialen Vergangenheit auseinandersetzen.“ Denn der „globale Süden“, das sind – im linken Verständnis – die durch den „globalen Norden“ Unterjochten, durch den Kapitalismus – bis heute – Ausgebeuteten, denen nun auf dieser documenta Gerechtigkeit widerfahren durfte. So weit, so naiv. Da die documenta für diese und weitere „Werte“ steht und wirbt, wurde jede Kritik an der Ausstellung nicht als ästhetisches Urteil verstanden. „Vielmehr geht es immer gleich ums Grundsätzliche, um die richtige Gesinnung“, ärgert sich Rautenberg. „Und vermutlich ist das der eigentliche, der größte Nachteil dieser Art von Anti-Kunst: dass ihr Sehnen nach Harmonie paradoxerweise eine Neigung zur Eskalation und Lagerbildung stark begünstigt.“
Eine Ausstellung, die auf der Seite der Gerechten stehen will, setzt alle, die sie kritisieren, ins Unrecht und lässt jede Debatte über die Angemessenheit bestimmter Motive oder Formen in den Strudel eines unentrinnbaren Gut-oder-böse-Konflikts geraten. Und dies umso mehr, als Harmonisierung und Entindividualisierung zusammenfallen: Wer die Kunst kritisiert, kritisiert damit zugleich – pauschal? – die Gemeinschaft und ihre Werte. Alle fühlen sich gleich gemeint und im Zweifel gekränkt, was jede sachliche Debatte verhindert: „gruppenbezogene Identität“ muss man diese Kehrseite vorgeblich „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ wohl nennen. Weil ich versichere, Antisemitismus abzulehnen, kann eine Nichtakzeptanz dieser Selbstbeglaubigung letztlich nur rassistisch motiviert sein.
Rautenberg erkennt – hier eine Etage für behinderte Künstler, dort ein Saal für Roma – gar einen „Authentizitätskult“: Im Namen der Gerechtigkeit – endlich sollen auch diese Menschen anerkannt werden – fällt man zurück auf Klassifikationen der Mehrheitsgesellschaft und nimmt sogar in Kauf, dass Roma-Künstler ihre Bilder mit prallbusigen Schönheiten und anderem Sexismus vollpinseln. Frei nach dem Motto: Die sind halt so, die dürfen das. Hier führt aber die vorgebliche Befreiung von den Konventionen eines westlichen Kunstbegriffs direkt hinein in ein neo-reaktionäres Denken, das ein Verlangen nach Ab- und Ausgrenzung begünstigt. Und damit steht auch die documenta für den schlimmsten politischen Auswuchs unserer Zeit: Identitätspolitik.
Konflikte sind überbewertet
Diehl hatte bereits zur documenta 14 orakelt, die kommende werde wohl ganz auf Kunst verzichten, da diese schließlich nur dazu führt, den Aktivismus zu verwässern. Für ihn ist die documenta 15 kein „böser Unfall“, sondern spiegelt einen willentlich von ideologischer Seite erzwungenen Konsens wider: Der links-grüne Zeitgeist überrollt gerade, was Angela Merkel 2008 noch vor der Knesset als „historische Verantwortung Deutschlands“ und „Teil der Staatsräson“ bezeichnet hat. Doch schon die letzte documenta sollte laut Kurator Adam Szymczyk „der Versuch einer ganz neuen Existenzweise“ sein. Cathrin Lorch meinte damals in der Süddeutschen schon eine „sanfte Utopie“ zu erkennen, einen exterritorialen Ort, „an dem die Künste und die Künstler miteinander arbeiten, ausstellen und feiern“ und an dem „weder Kunst-Stile noch Gattungen von Belang“ seien. „Wer alle Autoritäten abschafft, inszeniert sich selbst als letzte Instanz. Die documenta in Kassel erreicht diesen Effekt mit gezielter Einseitigkeit in der Präsentation“, erkannte in derselben Zeitung Kia Vahland: „Anteilnahme aber genügt diesmal nicht, jetzt geht es um Parteinahme.“ Insofern kann, was 2022 am selben Ort geschah, nur als folgerichtig gelten.
„Konflikte sind überbewertet“, behauptete prompt der Aktivist Reinaart Vanhoe, der über Ruangrupa ein Buch geschrieben hat und in Kassel selbst ausstellte. „Ruangrupa wurde nicht ernst genommen, auch weil sie von woanders kommen“. Es habe eine Art Angst gegeben, sich auf das Konzept von Ruangrupa einzulassen und etwas anders zu machen: „Die Idee war, die Saat zu verteilen, aber man erwartete von uns fertige Blumen auszustellen“. Alles war Symbol und sollte doch Handlung sein, muss man das interpretieren, alles war volitiv und sollte doch naturalistisch scheinen: „Make friends, not art“, war ein Motto. „Und so ist dieser Tage in Kassel vieles einfach nur das, was es eben so ist: eine Hose als Hose, eine Party als Party“, ärgert sich Hanselle. „Mit dieser Methode hat Ruangrupa die Dinge in ihre nackte Diesseitigkeit hinein entblättert: Was am Ende noch übrig bleibt, ist eine Welt, der letztlich nichts mehr heilig, würdig oder auch nur im Entferntesten poetisch ist.“ Aber wenn Leben endgültig Kunst geworden ist und die Kunst Politik, meint er in Anlehnung an C.G. Jung, wenn Anschauung nur noch kollektive Einübung und Ästhetik nur soziale Praxis ist, „dann bleibt kein Raum mehr für das letzte Geheimnis.“
„Die documenta fifteen ist ein einziges Missverständnis. Sie markiert eine Zäsur und hinterlässt einen Scherbenhaufen“, lautet Fanizadehs Fahzit. „Unter Ausschluss von Kunstmarkt und individueller Urheberschaften sollte sie neue Maßstäbe setzen. Und zeigte am Ende vor allem, wie manche Kulturfunktionäre agieren: ignorant gegenüber künstlerischen Szenen, ahnungslos bei komplexen politischen Vorgängen.“ Egal wie ein Kollektiv aus dem Süden in Deutschland behandelt wird, es wird eben immer von Deutschen behandelt, befindet Johannes Schneider. Die Mitglieder des Kollektivs sollen nach dem Willen der Deutschen Lehren aus jener historischen Schuld ziehen – die doch die Deutschen auf sich geladen haben. „Die Deutschen als Unterweiser in Erinnerungskultur für linke Kollektive aus Schwellenländern: Dieser Anspruch bleibt unauflöslich schräg“.
Allerdings kritisiert Schneider zu recht, dass sich ruangrupa durch ihre Orientierung an einem globalen Gleichheitsdiskurs einerseits und ihrer Hinwendung an hyperlokale Gesprächsräume andererseits der nationalen Diskussion entzogen hat. Aber er verweist auch auf eine neue Perspektive, die sich linke Politiker sofort zunutze machen: Nämlich welche Anforderungen an eine Erinnerungskultur in einer von Einwanderung geprägten Gesellschaft gestellt werden, ob und wie Erinnerung pluraler und vielstimmiger werden müsse. Drastisch: Müssen sich auch islamische Einwanderer am Holocaust „schuldig“ fühlen oder „dürfen“ die schon länger hier Lebenden ihre „Schuld“ mit diesen teilen?
Damit ist die documenta ebenso gründlich antisemitisiert worden wie die documenta-Geschichte im letzten Jahr entnazifiziert wurde, muss man konstatieren. Zur Erinnerung: „Die Geschichte der documenta muss neu geschrieben werden“, dekretierte Anfang 2021 auf DW die Kunsthistorikerin Julia Voss, die an der Kunsthochschule Kassel „das unheimliche Fortwirken von völkischen, antisemitischen, rassistischen und patriarchalen Mustern in Kunst und Kultur, Ausstellungs- und Bildungsinstitutionen bis heute“ (sic!) erforscht. Die dazu passende akademische Prosa raunte von „braunen Schatten“, erschauderte vor dem „Flüstern der Fußnoten“ und machte als Hauptschuldigen den documenta-Initiator Werner Haftmann (1912-1999) aus (vgl. https://www.tumult-magazine.net/post/thomas-hartung-impr%C3%A4gnierung-durch-den-nationalsozialismus).
Und nun? „Ganz von vorne“ müsse man nun anfangen, sagte Steyerl. Mit weniger Freiraum? Braucht es mehr Autoritäten? Wenn ja, auf Kuratoren- oder Künstlerseite? Dorn ist von einer Zukunft der documenta fest überzeugt: „Die Voraussetzung dafür ist allerdings, dass wir die Fehler der jetzigen documenta schonungslos aufarbeiten und dann echte Reformen einleiten. Wir müssen uns auch die Frage stellen, ob die jetzige Konstruktion mit Aufsichtsrat und Gesellschafterversammlung zukunftsfähig ist.“ Wo die Würde des Menschen verletzt wird, endet für Dorn die Kunstfreiheit. „Die Politik muss der Kunst diesen Vertrauensvorschuss geben. Aber es wäre verheerend, wenn jetzt die Politik in irgendeiner Form die Kontrolle übernehmen würde.“ Wer soll wie viel Einfluss haben auf die Weltkunstschau, das dürfte eine der dominierenden Fragen ab 2023 werden. „Lieber keine documenta als eine Bundesdocumenta“, postulierte Ulrike Knöfel schon mal im Spiegel. „Staatsausstellungen sind in Deutschland zum Glück mit der DDR untergegangen.“ Ist Staatskunst nicht immer ein Zeichen von Staatsversagen? Auf Instagram postete jemand aus der Kunstszene diese Idee: „Die nächste Documenta sollte von einer Maschine kuratiert werden.“ Fraglich, ob das die Rettung wäre. Es käme ja darauf an, wer die Maschine programmiert.
PS. Was viele befremdete, hat ausgerechnet bei der Industrie- und Handelskammer Kassel-Marburg Wirkung gezeigt: Hier wird seit der documenta „Lumbung“ gemacht – in einer Scheune auf dem Land. „Wir haben dort einen Stuhlkreis aufgestellt, recht spartanisch“, erklärt Hauptgeschäftsführer Arnd Klein-Zirbes im HR. „Wir haben uns davon frei gemacht, dass man eine Tagesordnung, ein Protokoll oder Moderation braucht und haben sozusagen die Gäule laufen lassen“. Schöne neue Welt.
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Über den Autor: Thomas Hartung, geb. 1962 in Erfurt; promovierte nach seinem Lehramtsstudium in Magdeburg 1992 zur deutschen Gegenwartsliteratur und war danach als Radio- und Fernseh-Journalist in
Sachsen-Anhalt und Sachsen sowie als freiberuflicher Dozent für Medienproduktion und Medienwissenschaft an vielen Hochschulen Deutschlands tätig; der bekennende „Erzliberalkonservative“ trat als Student in die LDPD ein und 1990 aus der FDP aus: von „misslungener Einheit“ nicht nur mit Blick auf die Parteienfusion spricht er bis heute; Hartung war im April 2013 Mitbegründer der AfD Sachsen und wurde zweimal zum Landesvize gewählt. Seit März 2020 ist er Pressesprecher der AfD-Fraktion Baden-Württemberg. Hier können Sie TUMULT abonnieren. Für Einzelbestellungen klicken Sie bitte hier.