Dass Walter Ulbricht in der DDR Kirchen sprengen ließ, galt als Willkürakt proletarischer SED-Diktatur. Wie muss man es nennen, wenn ein SPD-Politiker das Berliner Maifeld „abtragen“ will?
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Sie hat es wieder getan. Die Zeit hatte bereits Ende 2014 dem Jenaer Historiker Norbert Frei ausgiebig Raum gegeben, seine Idee zu erläutern, warum in Nürnberg „Macht- und Repräsentationsbauten der Täter“ – es ging um die Zeppelintribüne – „aufgegeben“ werden sollten. Sechs Jahre später darf Peter Strieder, bis 2004 SPD-Senator für Stadtentwicklung in Berlin, im selben Blatt darlegen, warum das Maifeld samt Führertribüne „abgeräumt und nutzbar gemacht werden [sollte] für neue Sportfelder, Trainingsplätze, Spielwiesen.“ Beide eint der süffisante Verweis auf die „Theorie vom Ruinenwert“, die Hitlers Leibarchitekt Albert Speer - manche meinen, erst in seinen Memoiren 1969 – entwickelt hatte: „Die Verwendung besonderer Materialien sowie die Berücksichtigung besonderer statischer Überlegungen sollte Bauten ermöglichen, die im Verfallzustand, nach Hunderten oder (so rechneten wir) Tausenden von Jahren etwa den römischen Vorbildern gleichen würden.“
Allerdings unterscheiden sich, partiell, die Motivationen beider. Frei fragt, „was der florierende Erinnerungstourismus noch mit historisch-kritischer Aufklärung, gar mit der Förderung eines reflektierten Geschichtsbewusstseins zu tun hat“. Er befindet berechtigt – ob so intendiert, sei dahingestellt –, es sei „an der Zeit, einmal innezuhalten und sich zu fragen, wo man eigentlich hin will mit dieser infrastrukturell immer weiter perfektionierten, gedanklich jedoch zusehends leerlaufenden Erinnerungspolitik, die keine Gegner mehr kennt, niemanden mehr berührt – und in Gefahr ist, bestenfalls noch gehobene Unterhaltung, medial gesprochen: Infotainment zu produzieren.“ Hintergrund war, dass es „Hitlers Aufmarschplatz im Herbst 2013 in den schwarz-roten Koalitionsvertrag geschafft“ hatte, der nun mit einem knapp dreistelligen Millionenbetrag saniert werden sollte.
Frei will erkunden, ob es wirklich sinnvoll, ja moralisch angemessen ist, „die natürlich nicht allein in Nürnberg reichlich vorhandenen Zeugnisse nationalsozialistischen Größenwahns unter Hinweis auf den Denkmalschutz und unter Einsatz aller Möglichkeiten moderner Material- und Bautechnik vor dem Verfall zu retten? Und gilt das auch dann, wenn die Gebäude – im Unterschied etwa zum Berliner Olympiastadion – keinerlei Zweck mehr erfüllen?“ Für ihn kann sich der nicht nur finanzielle Aufwand nicht mehr überzeugend rechtfertigen. Auch findet er keine vernünftigen politischen, gesellschaftlichen oder ästhetischen Gründe für die Restaurierung „architektonischer Banalitäten und Monstrositäten, an denen sich bis heute diejenigen ergötzen, die immer noch die Aura des ‚Führers’ suchen?“
„das faschistische Erbe unter Denkmalschutz gestellt“
Bei diesem Satz schließt Strieder fast direkt an. Nach dessen Worten würde hier „mit Unterstützung des Denkmalschutzes die Propaganda der Nazis fortgesetzt, und keiner der Nutzer des Geländes erhebt sich dagegen.“ Er konstatiert „selbstkritisch“, nicht genau genug hingeschaut zu haben: „Wir haben nicht berücksichtigt, dass das Stadion Teil des Olympiageländes ist und mit dem Olympiagelände auch das faschistische Erbe unter Denkmalschutz gestellt wurde.“ So sei die Friesenallee benannt nach einem „nationalistischen Eiferer, der zusammen mit ‚Turnvater’ Jahn die ‚Leibeserziehung’ zu einem Programm der ‚sittlich-nationalen Erneuerung’ machte“ und heute Namensgeber einer Stiftung der AfD Sachsen-Anhalt ist. Auf dem Areal fänden sich auch Skulpturen wie der Boxer von Josef Thorak oder die Siegerin von Arno Breker. Und die Übungsplätze auf dem Olympiagelände ehrten immer noch Anhänger des deutschen Faschismus wie Ferdinand Hueppe, Eugeniker und Fußballfunktionär.
Die an ein bekanntes Brecht-Bonmot angelehnte Beweisführung, die er daraus entwickelt, zeugt nicht nur von verblendeter Ideologie, sondern auch der unreflektierten Übernahme eines sinnentleerten Mainstream-Vokabulars, das außer Floskeln keinerlei Inhalte mehr transportiert. So fragt Strieder rhetorisch, ob man sich Anfang des 21. Jahrhunderts zu sicher wäre, dass „der Schoß doch nicht mehr fruchtbar“ sei und Europa für immer frei und vereint sein werde? Und dekretiert: „Nationalismus und Rechtsextremismus sind in Europa wieder erstarkt. Der NSU-Terror, die Morde von Halle und Hanau, die Wahlerfolge der AfD lehren uns, dass das Sommermärchen vorbei ist.“ Die Zusammenhänge der drei Themenkreise bleibt er natürlich schuldig.
Ergo bilanziert er: „Der Geist des Rechtsextremismus und des Nationalismus – wie er sich auf dem gesamten Olympiagelände manifestiert – ist fruchtbar noch! Die gesamte Anlage, alle Bauten, alle Benennungen, alle Skulpturen entsprangen der Ideologie der Nazis. Und wir sollten begreifen, dass dies die ideologische Symbolik ist, auf die sich heutige Akteure wie Höcke, Gauland und Kalbitz berufen. Die Skulpturen, Wandgemälde, Reliefs müssen weg. Zusätzlich gehörten alle Namen der Gebäude und Straßen und Trainingsplätze aus der Zeit der Nazis revidiert, künftig sollten sie beispielsweise nach Opfern der jüngsten rechtsterroristischen Gewalttaten benannt werden.“
„letztlich hat die Politik zu entscheiden“
Das ist kein Witz, sondern die Halluzination eines roten Parteisoldaten auf dem Niveau des Kalten Krieges. Es reichte schon, dazu Altbundespräsident Richard von Weizsäcker zu zitieren: „Wer vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart.“ Hier ist nicht der Platz zu mutmaßen, warum der architektonische Fokus des Themas NS-Kultur gerade jetzt auf die Agenda gelangte. Wohl aber, ein paar polithistorische Zusammenhänge herzustellen, die ihm, und nicht nur ihm, inhärent sind. Denn Strieder bringt am Ende seines Textes erstmals dezidiert die Zwangsideologie auf den Punkt, die spätestens nach den Straßenumbenennungs- und Glockenabhängungsorgien in Deutschland nicht mehr als machtpolitisches Geraune angesehen werden darf: „Was schützenswert ist und als Denkmal gilt, ist mitnichten lediglich eine Frage der Kunst, der Geschichte oder sozialer Relevanz. Letztlich hat die Politik zu entscheiden, ob etwas die Wertschätzung als Denkmal erfährt. Sie muss verantworten, ob … es nicht an der Zeit ist, das gesamte Gelände und den Denkmalschutz einer kritischen Revision zu unterziehen und das Gelände zu entnazifizieren, zu modernisieren und zu transformieren…“.
Allein diese Passage müsste einen Aufschrei nicht nur aller Kultur- und Geschichtswissenschaftler nach sich ziehen, sondern auch aller künstlerischen Zünfte mit den Architekten an der Spitze, ja eigentlich aller Demokraten – bliebe er aus, ließe das tief ins politisch alimentierte und damit ideologisch funktionalisierte Wissenschafts- und Kulturverständnis blicken. Denn diese politische Definition nicht nur bürgerlicher Alltagspraxen, sondern überhaupt des humanen Selbst- und Weltverständnisses liefe jedem Freiheitsbegriff zuwider, der im Individuell-Angeeigneten statt im Kollektiv-Verordneten wurzelt.
Die DDR lieferte dafür mit ihren Kirchensprengungen den im Wortsinn schlagenden Beweis für Verordnung. „Das Ding muss weg! (...) Wenn ich aus der Oper komme, will ich keine Kirche sehen“- mit diesen Worten soll SED-Chef Walter Ulbricht die Sprengung der Paulinerkirche 1968 in seiner Heimatstadt Leipzig persönlich auf den Weg gebracht haben. Es „war der symbolische Akt, mit dem die Diktatur des Proletariats seine Weihen erhalten und die Züchtung des neuen, von der ‚Vormundschaft’ der Kirchen befreiten Menschen ausgerufen werden sollte“, befand Dankwart Guratzsch in der Welt. Auch die Sprengung der Magdeburger Katharinenkirche am Breiten Weg vier Jahre zuvor soll auf Ulbricht zurückgehen, der auf einem Pappmodell des künftigen Aussehens der völlig zerstörten Innenstadt die Straße einfach mit den Händen weiter verbreitert und die Kirche förmlich weggewischt haben soll.
Dieser Anmaßung, natürliche Wurzeln zu kappen und durch Geist- und damit Luftwurzeln zu ersetzen, begegnen wir heute, zumal in Berlin, wieder: Die Bundeskanzlerin verbannte zwei Gemälde von Emil Nolde aus ihrem Amtszimmer, nachdem sein Antisemitismus manifest wurde. Wie viele Juden durch diesen heroischen Akt vor Auschwitz gerettet wurden, ist nicht überliefert. Der Bunker von Hitlers Fahrbereitschaft wurde verfüllt, damit niemand auf die Idee kommen möge, den Ort zu heroisieren. Das Gefängnis in Spandau wurde nach dem Selbstmord von Rudolf Heß 1987 dem Erdboden gleichgemacht, der Bauschutt pulverisiert und in der Nordsee verklappt. Erhält jetzt die Diktatur der selbsternannten Pseudoelite ihre Weihen, wird jetzt die Züchtung des neuen, von der ‚Vormundschaft’ der Demokratie befreiten Menschen ausgerufen, wie gerade Corona zeigt? Dass die Wahrheit dem Menschen zumutbar ist, gilt inzwischen als Hirngespinst einer durchgeknallten österreichischen Weltliteratin?
„Wort aus Stein“
„Wenn Völker große Zeiten innerlich erleben, so gestalten sie diese Zeiten auch äußerlich“, sagte Hitler anlässlich der ersten Architektur- und Kunstausstellung im „Haus der Deutschen Kunst“ in München am 22. Januar 1938: „Ihr Wort ist dann überzeugender als das gesprochene. Es ist das Wort aus Stein!“ Magnus Brechtken, stellvertretender Direktor des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, spricht von „Beeindruckungsarchitektur“, von einer „Rassenideologie in Stein“, die zum einen die Überlegenheit der Deutschen demonstrieren und zum anderen den Deutschen selber einer Möglichkeit zur Identifikation geben sollte. Prompt entbrannte Ende 2016 um die millionenschwere Sanierung des Gebäudes, übrigens das einzige Kunstmuseum, das während des dritten Reichs errichtet wurde, ein wilder Streit. Denn es „ist nicht ganz unumstritten, ob es so etwas wie eine Architektur des Nationalsozialismus überhaupt gegeben hat oder ob es ganz einfach die Merkmale der vorherrschenden Stilrichtungen jener Zeit waren, die den Bauten der 1930er Jahre ihre Form gaben“, muss Katia Meyer-Tien in der Mittelbayrischen Zeitung MZ eingestehen.
„70 Jahre nach dem Ende des dritten Reiches ist es vielleicht nun an der Zeit, das Haus der (Deutschen) Kunst nicht ausschließlich als Ausdruck einer menschenverachtenden Ideologie zu sehen, sondern auch als ein herausragendes Baudenkmal der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts, als einen der signifikantesten Repräsentationsbauten des faschistischen Neoklassizismus. Wir sehen uns deshalb in der Verantwortung, diesen Zeugniswert authentisch zu erhalten, anstatt durch bauliche Interventionen dem gängigen Prinzip der Störung und Kommentierung zu folgen“, sagt Martin Reichert, der Berliner Partner des beauftragten Chefarchitekten David Chipperfield, der MZ. Eine Meinung, die nicht wenige Fürsprecher in München findet. Die Kommentierung, so Reichert weiter, wolle man der Nutzung überlassen.
Auch die Berliner Denkmalschützer erklärten dem rot-rot-grünen Senat, das Olympiagelände sei „als monumentale Sportanlage der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein überragendes Zeugnis der Olympischen Idee. Zugleich steht es als mahnendes Symbol der Bau- und Kunstpolitik in der Zeit des Nationalsozialismus.“ Das Maifeld sei „ein Geschichtszeugnis von überragender historischer, künstlerischer, wissenschaftlicher und städtebaulicher Bedeutung“. Das führt zur Frage, inwiefern und vor allem wie wir heute mit einer Architektur umgehen (wollen), die einst vor allem zur „Manipulation von Räumen und damit Instrumentalisierung von Menschen“ als regulierter Masse geschaffen wurde, wie der Historiker Wolfgang Benz im Tagesspiegel meinte: „Herrschaftsarchitektur wurde errichtet, um Menschen gleichzeitig zu unterwerfen, zu überwältigen und zu verführen, indem ihnen die Emotion der Überlegenheit über andere, „minderwertige“, vermittelt wurde“.
„Viele Gebäude sind aber weitergenutzt worden. Das entsprach in den 50er Jahren einer pragmatischen Haltung, weil man nicht ohne diese Bausubstanz ausgekommen wäre“, so Axel Drecoll, Leiter der Dokumentation Obersalzberg beim Institut für Zeitgeschichte, auf dem Portal web.de. Dazu gehören die beiden „Führerbauten“ in München, die Institute und die Musikhochschule beherbergen, der Zentralflughafen Berlin-Tempelhof, der bis 2008 in Betrieb war und in dem heute „Events“ stattfinden, oder das Wehrkreisdienstgebäude in Kassel, heute Bundessozialgericht. Aber auch Teile des VW-Werks in Wolfsburg und die Feriensiedlung Prora auf Rügen muss man hinzurechnen.
„Magie der Monumentalbauten des Nationalsozialismus brechen“
Nach der Wiedervereinigung konstatiert Strieder einen intensiven Diskurs, ob die baulichen Hinterlassenschaften aus der Zeit des Faschismus oder der DDR (!) wegen ihrer historischen Kontaminierung abgerissen werden sollten und aus dem Stadtbild verschwinden müssten, ja „ob Gebäude aus den beiden Diktaturen überhaupt von demokratischen Institutionen genutzt werden dürften... Beim heutigen Außenministerium, dem früheren Reichsbankgebäude und späteren Sitz des Zentralkomitees der SED, zeigt sich beispielhaft, wie eine moderne Ergänzung den Ort verändert hat und die Strenge des Baus mindern konnte“, lobt Strieder und schimpft zugleich: „Es gibt keinerlei gesellschaftliche Rechtfertigung für den Erhalt des Status quo auf dem ehemaligen Reichssportfeld.“ Die damals erfolgte Anbringung von Erklärtafeln empfinde er jetzt als unzureichend. „Im Umfeld eines Stadions, in das die Fans in freudiger Erwartung eines Fußballspiels strömen, bleiben sie unbeachtet und stellen allenfalls ein halbherziges Alibi dar.“
Aha. Das hat nicht nur etwas mit guten und schlechten Diktaturen, sondern – noch – viel mehr mit guten oder schlechten Erinnerungen an dieselben zu tun. „Nicht jedes Relikt des zwölfjährigen nationalsozialistischen Regimes ist erhaltungswürdig. Was nur als Faszinosum oder als Sensation taugt, verschwindet besser, wie der Bunker unter der Reichskanzlei, in der Hitler zugrunde ging“, meint Benz. Profane Bauten aus der NS-Zeit seien auch nicht nur daran zu messen, ob sie authentisch und historisch sind, sondern daran, welchen Wert als Lernort oder als Symbol der Gewaltherrschaft sie haben. Was aber, wenn eben diese Lernorte, womit sich der Kreis schließt, nur noch Relikte sind einer „leerlaufenden Erinnerungspolitik, die keine Gegner mehr kennt, niemanden mehr berührt“?
Grundsätzlich sei kontrollierter Verfall durchaus eine Option im Umgang mit NS-Bauten und oftmals sogar die bessere als der Abriss oder die vollständige Rekonstruktion, befindet Benz. Doch gleichzeitig müssten Wege gefunden werden, die „inszenierte Magie der Monumentalbauten des Nationalsozialismus zu brechen und sie fruchtbar zu machen“ für das aktive Gedenken an die Gewaltherrschaft. Das aber ist aus mindestens drei Gründen ein ganz schwieriges Kapitel. Der erste, profanhistorische liegt auf der Hand: „…ein Bau spricht nur zu uns, wenn wir auch Informationen über diesen Bau haben und wenn wir uns auch darum kümmern, dass dieser Bau diese Information weitergibt. Das heißt also, wenn wir ihn teilweise abreißen oder verkommen lassen, dann kann er diese Geschichte nicht mehr weitervermitteln“, erklärt der Architekturhistoriker Winfried Nerdinger im DLF unter teilweisem Rekurs auf Freuds Psychoanalyse.
Damit verbunden ist die Frage der „gesellschaftlichen Abwägung“, über die laut Nerdinger schlecht einer alleine bestimmen könne: „Geschichte hat ja schon im deutschen Wort die Schichtung implizit. Das heißt also, es lagert sich immer wieder neues Geschehen ab. Das geschieht natürlich auch an Bauwerken, aber gerade bei Bauwerken, wenn sie uns eine bestimmte Geschichte vermitteln sollen, muss man eben auch darauf achten, dass sie nicht vollständig von anderen Ereignissen später überlagert werden oder dass dann die eigentliche Geschichte, um die es geht, eben nicht mehr ablesbar ist.“ Das berührt auch Fragen nach einer stattdessen etablierten Gedenkstättenkultur: „Wenn es notwendig erscheint, wird schnell ein Denkmal hingestellt und dann ist die Sache erledigt und dagegen habe ich gewisse Bedenken“, erklärt der Kunsthistoriker Detlef Hoffmann in Hamburg. Heute könne eine Denkmalsetzung die soziale Strategie sein, „ein Problem abzuhaken“. Das sieht auch Nerdinger so: „Das Problem ist eben häufig, dass etwas errichtet wird, was dem Zeitgeist entspricht, also einer bestimmten vielleicht abstrakten Architektur- oder Skulptursprache und oft auch, dass diese Denkmäler an Orten errichtet werden, die mehr oder weniger zufällig sind.“
„Erinnern und Erklären statt Entfernen“
Der zweite, touristische und damit ökonomische Grund rückt die Ambivalenz zwischen „Dark Tourism“ oder „Bildungstourismus“ ins Bewusstsein. So ist seit der Jahrtausendwende der Trend zu beobachten, dass Veranstalter und Städte ihr touristisches Programm mit Gruselerlebnissen ausbauen. Das 2012 an der englischen Universität Lancashire gegründete Institute for Dark TourismResearch (iDTR) definiert diese Art des Reisens als Besichtigung von Orten, die mit Mord, Tod, Gewalt, Schmerz, Leid und dem Makaberen assoziiert werden: nicht nur der Kernzone von Tschernobyl oder den ehemaligen Kriegstunneln in Sarajewo, sondern eben auch der Bunker- und anderer Anlagen der NS-Zeit.
Die Emotionen der Besucher reichen von Mitleid über Voyeurismus, von Grusel bis zur Gier, etwas Sensationelles und Dunkles zu beobachten. „Verwandt und gleichzeitig ein Gegenbegriff zum ‚Dark Tourism‘ ist die politische Bildungsreise“, ordnet der Berliner Historiker Rüdiger Hachtmann auf DW ein. Nach seiner Einschätzung wolle sich dieser andere Touristentyp mit besonders düsteren Epochen der Vergangenheit nicht rein emotional, sondern vor allem intellektuell konfrontieren: „Es kann sein, dass sich ‚Dark Tourism‘ und ‚kulturbeflissener Bildungstourismus‘ zu NS-Gedenkstätten beim einzelnen Touristen manchmal mischen, zum Beispiel bei der Besichtigung von Auschwitz.“ Rund 200.000 Menschen aus aller Welt besuchen jährlich allein das Dokumentationszentrum des ehemaligen NS-Reichsparteitagsgeländes in Nürnberg. Diese Einnahmen lässt sich niemand gern entgehen.
Der dritte Grund nun ist ein rein ideologischer: „Erinnern und Erklären statt Entfernen - dieser Weg ist nicht unumstritten“, befindet Fabian Busch auf web.de. Einerseits werden von bestimmten Gruppen Vorwürfe der „Respektlosigkeit vor allen Opfern des Nationalsozialismus“ erhoben wie von Josef Schuster, dem Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, etwa als er erfuhr, dass die Glocke im Turm der Protestantischen Kirche im pfälzischen Herxheim am Berg, versehen mit einem Hakenkreuz und der Aufschrift „Alles fuer‘s Vaterland - Adolf Hitler“, in der Kirche bleibe. Eine Facette dabei bildet die Nichtverwert- im Sinne der Nichtverkaufbarkeit der Stätte: so scheiterte 2015 der dritte Versuch, die ehemalige Hochschule der Freien Deutschen Jugend (FDJ) der DDR im Wandlitzer Ortsteil Lanke (Barnim) zu verkaufen – weil sich darauf das Liebesnest von Joseph Goebbels befand. Das Land Berlin befürchtet, dass Neonazis verdeckt das Gelände erwerben und eine Wallfahrtsstätte daraus machen könnten. „Unser Problem ist, dass wir bei einem Verkauf für maximal zehn Jahre die Nutzung festschreiben können“, schildert Birgit Möhring, Geschäftsführerin der Berliner Immobilienmanagement GmbH (BIM), die Zwangslage. „Wir können nicht dauerhaft Einfluss nehmen, wer die Immobilie nutzt. Und da haben wir Bauchschmerzen.“
Anderseits schaffen linksextreme Kräfte Fakten wie im niedersächsischen Schweringen, wo es ebenfalls eine umstrittene Kirchenglocke mit einem Hakenkreuz gibt. Dort schliffen Unbekannte Anfang April 2018 das Symbol einfach ab. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Sachbeschädigung. Drecoll ist dagegen, Gegenstände aus der NS-Zeit einfach zu zerstören: „Es handelt sich dabei um Quellen der Zeitgeschichte.“ Die Vergangenheit vergessen zu machen sei kontraproduktiv, stattdessen sollte man solche Plätze öffnen, beleben und an Ort und Stelle historisch angemessen kommentieren, zitiert die Welt schon 2010 Volker Dahm vom Ausstellungszentrum Obersalzberg. Sind Steine unschuldig, inwieweit können sie schuldig sein? Die Debatte darum wird weitergehen. Sie in Strieders Sinne zu beenden kann nicht der richtige Weg sein. „Wir sind gereift genug, die Spannung zwischen dem faschistischen Bauwerk und einer zeitgenössischen Museumsnutzung auszuhalten“, erklärte Reichert in der MZ. Wir brauchen mehr Architekten und weniger Ideologen.
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Über den Autor:
Thomas Hartung, geb. 1962 in Erfurt; promovierte nach seinem Lehramtsstudium in Magdeburg 1992 zur deutschen Gegenwartsliteratur und war danach als Radio- und Fernseh-Journalist in Sachsen-Anhalt und Sachsen sowie als freiberuflicher Dozent für Medienproduktion und Medienwissenschaft an vielen Hochschulen Deutschlands tätig; der bekennende „Erzliberalkonservative“ trat als Student in die LDPD ein und 1990 aus der FDP aus: von „misslungener Einheit“ nicht nur mit Blick auf die Parteienfusion spricht er bis heute; Hartung war im April 2013 Mitbegründer der AfD Sachsen und wurde zweimal zum Landesvize gewählt. Seit März 2020 ist er Pressesprecher der AfD-Fraktion Baden-Württemberg.
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