Eine regionale Klimaschutzgruppe lädt eine weiße Musikerin aus, weil sie sich eine „schwarze“ Frisur „angeeignet“ habe. Wird Rassismus mit Rassismus bekämpft, läuft die Gesellschaft aus dem Ruder.
*
Als gebildeter weißer Mensch weiß man, dass mit dem Abschneiden alter Zöpfe und der Abschaffung filziger Allongeperücken die erfolgreicheren Revolutionen begonnen haben. Als gebildeter konservativer weißer Mensch kann man wiederum mit der Erfindung des Kamms, des Föhns und des Seitenscheitels grundsätzlich einverstanden sein, da mit diesen Utensilien ein grundsätzliches kulturell-ästhetisches Körperbewusstsein ausgedrückt werden mag. Oder umgekehrt: Wer mit diesen Utensilien auf Kriegsfuß steht und eher dem Typ „Filzmatte“ zuneigt, wird meist mit Individualität, Unangepasstheit und linker Rebellion verbunden.
Nun also die Rebellion der Rebellen, obwohl Fasching und damit das Thema „kulturelle Aneignung“ etwa per „Blackfacing“ oder Indianerkostüm längst vorbei sind. Denn während es in der Vergangenheit eher um die Verteidigung „kolonialrassistischer“ Verkleidungen von Kindern und ihren Eltern ging, stand jüngst eine Haarfrisur im Zentrum: „Dreadlocks“ an weißen Menschen. Konkret an Folk-Pop-Sängerin Ronja Maltzahn. Diese veröffentlichte Ende März auf ihrem Instagram-Account eine E-Mail, in der sie von der Hannoverschen „Fridays for Future“-Gruppe von einer Kundgebung ausgeladen wurde, wo sie hätte performen sollen. Der Grund: Man wolle bei diesem „globalen Streik auf ein antikolonialistisches und antirassistisches Narrativ setzen“ und könne es daher nicht vertreten, eine weiße Person auf der Bühne zu haben, die sich Schwarze Kultur aneigne – ohne die systematische Unterdrückung dahinter erlebt zu haben.
Wir bekämen „als weiße Menschen für dieselbe Frisur Komplimente, für die Schwarze Menschen rassistisch angefeindet werden“, teilen die Klimakinder auf ihrer Homepage mit. Deshalb haben „schwarze Widerstandssymbole […] auf weißen Köpfen nicht zu suchen.” Gerade deshalb ist es „uns als Fridays for Future Hannover wichtig, BiPoC’s (Schwarze, indigene und People of Color) Raum innerhalb der Klimagerechtigkeitsbewegung zu geben, der ihnen bis jetzt nicht genug eingeräumt, aber schon häufig genug eingefordert wurde.“ Und dies müsse konsequent passieren, „weil das Auftreten einer weißen Person mit Dreadlocks auf unserer Bühne für BiPoC’s den Eindruck erwecken kann, dass diese Bewegung für sie keinen Safer Space darstellt.“ Das ist kein Witz. „Der Schreibstil von FFF erinnert mich stark an die Bekennerschreiben der RAF“, erregt sich eine Leserbriefschreiberin der taz.
Die Protestbewegung habe in der Vergangenheit ‚immer wieder in der Kritik für ihre eurozentristische Herangehensweise an eine globale Katastrophe‘ gestanden, erklärt Fatma Aydemir in der taz. „Man kann diese Ausladung also durchaus als Bemühung begreifen, die Bewegung insgesamt inklusiver zu gestalten“. Moment, durch die Ausgrenzung bestimmter Menschen wird man inklusiver? Das ist auch kein Witz. Der Vergleich zur ebenfalls Locks-tragenden Seenotretterin Carola Rackete hinke, befindet Aydemir. Denn Maltzahn sei „in erster Linie Performerin. Und damit profitiert sie von ihrem Look. Lady Gaga, Justin Bieber und Pink sind zwar wesentlich bekannter und reicher, aber auch sie eigneten sich den Haarstil phasenweise an, um Kapital daraus zu schlagen.“ Fremde Haare für den eigenen Umsatz? Das ist ebenfalls kein Witz.
„jakobinischer Tugendterror“
Seither hagelt es negative Google-Bewertungen für die Lokalgruppe, viele Menschen sind empört, die Klimaaktivisten werden mit Rechtsextremen verglichen. Dabei sollte es bei der Demo doch um „People not Profit“ gehen, um die Menschen statt um Profit, sie sollte gegen Ausbeutung und Unterdrückung durch Kolonialismus und Kapitalismus sein. Und dann wird einer Sängerin wegen Äußerlichkeiten abgesagt? HAZ-Chef Hendrik Brandt twitterte „Wer bei FFF in Hannover auftritt, wird vorher einer Frisurenkontrolle unterzogen. Echt.“ Bild und NDR belustigten sich ebenfalls. Anders dagegen Tübingens grüner OB Boris Palmer auf Facebook: „Die Identitätspolitik hat bereits Formen eines jakobinischen Tugendterrors angenommen, weil der Zweck scheinbar die Mittel heiligt“, erregt er sich.
„Unser Anliegen ist der Klimaschutz, nicht die Umerziehung und die Überwindung der liberalen Gesellschaft“, wettert er weiter. „Wenn das nicht gelingt, scheitert entweder die Klimaschutzbewegung oder die liberale Gesellschaft.“ Dass die Musikerin als weiße Person Dreadlocks trage, ist nach Auffassung des Bistums Hildesheim kein Grund, sie nicht auftreten zu lassen: „Die Bewertung der Sängerin allein aufgrund ihrer Frisur ist überzogen und intolerant.“ Rassismus mit Rassismus zu bekämpfen ist ein Fass ohne Boden, erkennt auch Anna Schneider auf Welt.tv. Denn wer ein bestimmtes Verhalten – zumal das Tragen einer Frisur – von der Hautfarbe abhängig macht, verhält sich selbst wie ein lupenreiner Rassist.
Wir leben in einer Welt, in der Kinder keine Indianer darstellen dürfen, aber erwachsene Männer eine Frau? Das Geschlecht dürfen Woke frei wählen, ein biologischer Mann darf im Bundestag zur Frau werden, sobald er es sich einbildet - nicht jedoch eine Frau eine Wursthaar-Frisur tragen, die schwarzen Patriarchen vorbehalten ist? „Antifaschismus und Antirassismus waren mal Haltungen, die einem aufgeklärten Denken entsprangen“, so Matthias Iken im Hamburger Abendblatt. „Inzwischen erinnern einige hauptamtliche Rechtsextremismusbeauftragte in ihrer Unerbittlichkeit, ihrer Radikalität und Hysterie eher an den staatlichen Antifaschismus der DDR.“ Ronja Maltzahn, Gewinnerin des „Udo Lindenberg Panikpreis für deutsche Newcomer 2021“, sagte zu BILD, dass die Nachricht von FFF sie „persönlich schockiert“ habe. „Es ist schade, weil wir gern bei dem Konzert dabei gewesen wären.“
In einem später veröffentlichen Instagram-Video schlug die Musikerin deutlich versöhnlichere Töne an. Es habe ein persönliches Gespräch mit FFF gegeben, in dem sich die Organisation entschuldigt habe, für den „eher unsensiblen Tonfall“ in der schriftlichen Absage. Sie nehme das Angebot an, in der kommenden Woche in einen ausführlichen, strukturierten Austausch über das Thema Diskriminierung zu treten. Die Sache dürfe auf keinen Fall ausarten „in eine Art Shitstorm oder in irgendeine Art Schlechtmachung dieser Organisation, in irgendeine Form von Streit“. Denn eigentlich sei FFF eine Organisation, von der sie „eine Menge halte“. „Die Revolution frisst ihre Kinder“, belustigten sich prompt viele Kommentatoren in Sozialen Medien; nein, sie verdaut sie bereits, konterten andere.
Auch Thilo Schneider gewinnt der Causa auf Achgut zunächst eine komische Seite ab: „Was, wenn Frau Maltzahn ein Kopftuch getragen hätte? Und was, wenn es auf islamische Art gebunden wäre? Würde es helfen, wenn die Dreadlocks verdeckt wären? Beispielsweise auch durch einen lustigen Hut? Oder einen Stahlhelm? Oder wäre das eine sexistische Aneignung von toxisch-männlicher Kopfbedeckungstragekultur? Und warum behauptet Frau Maltzahn nicht einfach, sie fühle sich als PoC? Immerhin darf sie sich ja auch als Mann fühlen? Oder wäre es eine gute Idee, Ronja Maltzahn flechtet sich Zöpf… Obwohl… Nein, doch keine gute Idee! Das wäre ja erst recht eine kulturelle… Obwohl… Egal. Und warum muss ich das vorschlagen und nicht FFF oder Frau Maltzahn? Sind die doof und kennen die eigenen Narrative nicht?“
„völkisches Denken von links“
Das dahinter verborgene Problem brachte der Ex-SPD-Bildungsminister (!) Mecklenburg-Vorpommerns, Mathias Brodkorb, im Cicero auf den Punkt: Das der „kulturellen Authentizität“. Er verweist auf das Buch „Who owns culture?“ (2005) der amerikanischen Moderechtlerin Susan Scafidi, die ein eigentumsrechtliches Problem lösen wollte: Wem gehören, so fragt sie, die in der Geschichte erschaffenen kollektiven Kulturleistungen? Und wer profitiert von ihnen? Gemeint sind dabei jene Kulturleistungen, aus denen die Unesco seit einigen Jahren ihr „immaterielles Kulturerbe“ (intangible cultural heritage) fischt. Es geht um Handwerkskünste, Kleidungsstile, kulinarische Traditionen, Tanz, Sport – und eben auch Körperkulturen wie Dreadlocks. Frisuren lassen sich aber nicht per Copyright schützen, schon gar nicht, wenn sie einer ethnischen Gruppe zugeordnet werden.
Scafidis Antwort lautet also: Diese Kulturleistungen gehören jenen, die sie „authentisch“ verkörpern. Ein Indianerkostüm könne „authentisch“ eben nur von einem Indianer getragen werden und Dreadlocks nur von Schwarzen. Wer sich über diese Schwelle der „authenticity“ – das Wort fällt in Scafidis Text mehr als 100-mal – hinwegsetze, betreibe illegitime „kulturelle Aneignung“, einen rassistischen Akt. „Authentisch“ könne jemand eine Kultur nämlich nur dann verkörpern, wenn der Träger selbst zu dieser Kulturgemeinschaft gehöre. Und über diese Zugehörigkeit entscheidet nach Scafidi die Frage, ob in dem jeweiligen Exemplar der wahre „Volksgeist“ schlummere. Die gesamte Argumentation Scafidis basiert auf der Überzeugung, dass schon dem Träger eines „kulturellen Produktes“ ähnliche Ansprüche auf die wirtschaftliche Vernutzung und öffentliche Anerkennung zustehen wie dem Schöpfer herkömmlichen geistigen Eigentums.
So, wie dem Genie als dem Schöpfer eines genialen Werkes alle daraus resultierenden wirtschaftlichen wie symbolischen Gratifikationen zufließen, müsste es demnach auch bei den Ursprungsgemeinschaften aufgrund einer „Autorenschaft der Gruppe“ sein. Den Unterschied zwischen Schöpfer und „Anwender“ versucht sie mit dem Rückgriff auf Heideggers „Eigentlichkeit“ aus der Welt schaffen. Strukturell seien die Parallelen zur faschistischen Denkschule ‚bis hinein in die Begrifflichkeiten so verblüffend, dass sie zu intellektueller Unruhe Anlass geben könnten“, sorgt sich Brodkorb: Das sei die Rückkehr ins „völkische Denken von links“.
So schrieb schon Hitlers Haus- und Hofphilosoph Alfred Rosenberg: „Kunst ist immer die Schöpfung eines bestimmten Blutes, und das formgebundene Wesen einer Kunst wird nur von den Geschöpfen des gleichen Blutes wirklich verstanden (…).“ Auch der Nationalsozialist Rosenberg zahlte seine Begründungen in der Währung der Authentizität. Was das Judentum „auf dem Gebiete der Kunst leistet, ist entweder Verballhornung oder geistiger Diebstahl“, befand prompt Hitler. Der Jude sei bloß „Nachäffer“ und „nicht der geniale Gestalter“. Die Anverwandlung des Juden an den Arier bleibt für ihn daher rein äußerlich und unecht.
Und genau in dieser Äußerlichkeit liegt die Gefährlichkeit dieses ideologischen Fundaments. Denn FFF entblödeten sich in Richtung der Musikerin nicht des folgenden Satzes: „Solltest du dich entscheiden deine Dreadlocks abzuschneiden, würden wir dich natürlich auf der Demo begrüßen und spielen lassen.“ Und es ist eben dieser Satz, der die Ausladung auf eine symbolische Geste reduziert und dem Anliegen seine Glaubwürdigkeit nimmt, muss zähneknirschend selbst Aydemir zugeben. Was hat ein Bekenntnisritual mit dem Bekenntnis selbst zu tun? „Unsere Kultur wurde durch den Kolonialismus ohnehin ausradiert“, erklärte dagegen in anonymer schwarzer Aktivist in der FAZ. „Wenn Weiße dann einfach die Eigenschaften übernehmen, die ihnen gefallen, ist das verletzend.“
„der kulturellen Aneignung bezichtigt“
Doch nicht für das absurde Dreadlock-Verbot entschuldigten sich die Schulschwänzer, sondern „nur“ für die übergriffige Formulierung, „dass durch ein Abschneiden der Haare ein Auftritt bei uns wieder möglich wäre.“ Dies sei ein Eingriff in die Privatsphäre, der so nicht hätte passieren dürfen, „vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass Frauen in dieser sexistischen Gesellschaft häufig aufgrund ihres Aussehen zurechtgewiesen werden“. Auch das ist kein Witz. Früher hätten diese „Dienstleistung“ noch die Lager-Aufseher erledigt, heute muten die neuen Khmer den Frauen schon zu, ihre Haare selbst abzuschneiden. „Man kann sich vorstellen, wie eine Gesellschaft aussähe, in der Bewegungen mit einer derartigen Verachtung für die individuelle Entfaltungsfreiheit zu politischer Macht kämen“, entsetzt sich Jörg Wimalasena in der Welt. Man mag da wirklich nicht weiterdenken…
Schon die rund 30.000 Jahre alte Venus von Willendorf trägt übrigens Braids, es handelt sich bei ihr um einen der ältesten Belege für die Flechtfrisur. Und es ist ja nicht das erste Mal, dass eine Frisur für Empörung sorgt. Gerade für die verfilzten Strähnen namens Dreadlocks gibt es aus allen Ecken der Welt historische Belege. Wikinger, Azteken oder Hindus trugen sie schon – aus praktischen oder aus spirituellen Gründen. Oft werden sie aber mit den Kulturen schwarzer Menschen assoziiert. Für die Rastafari, die frauenverachtende und schwulenfeindliche jamaikanische Pseudoreligion, fungierten die Dreadlocks unter anderem als Abgrenzungsmerkmal von der britischen Kolonialkultur. Die Rastas haben es von den muslimischen Derwischen oder hinduistischen Sadhus; selbst Wikinger, vermuten Historiker, haben die Haarkämme gehasst.
2016 schmückte der amerikanische Modedesigner Marc Jacobs überwiegend weiße Models wie Gigi Hadid mit künstlichen Dreadlocks in Pastellfarben. Nach anfänglichem Unverständnis entschuldigte sich der Designer später dafür. Justin Bieber zeigte sich 2021 auf Instagram mit Dreadlocks. Schon 2016 wurde er für seine blondierten, verfilzten Haare der kulturellen Aneignung bezichtigt. Der Musiker scheint von der Kritik unbeeindruckt. Hinzu tritt das spezifisch europäische Problem, dass Dreadlocks nicht immer so hießen, sondern jahrhundertelang als „Plica polonica“, polnische Zöpfe, bekannt waren. Die Besonderheit dieser Bezeichnung: Sie steht sowohl für eine Frisur als auch für ein Krankheitsbild.
Larry Wolff zitiert in seinem 1994 erschienenen Inventing Eastern Europe: The Map of Civilization on the Mind of Enlightenment unter anderem William Coxe, der 1784 in einem Bericht über seine Reisen nach Polen, Russland, Schweden und Dänemark berichtete. In Polen war dem Historiker besonders die verfilzte Haartracht vieler Einwohner aufgefallen, die er als Überbleibsel der skythischen und tartarischen Vorfahren beschrieb – Wolff merkt dazu allerdings an, dass Coxe sehr daran gelegen war, die Einwohner des Landes als Nachfolger von Barbaren zu schildern, die mit Mittel- und Nordeuropäern kaum etwas gemein haben. Dabei teilten Ost- und Westeuropäer einen besonderen Aberglauben, der sich auch in manchen Bezeichnungen widerspiegelt und zum Krankheitsaspekt der in Deutschland als „Weichselzopf“ bekannten Frisur gehört.
In Skandinavien wurden verfilzte Haare unter anderem nach nordeuropäischen, meist weiblichen Sagenwesen, „marefletter“ benannt, die dem Volksglauben zufolge nachts herumgingen und schlafende Menschen und Tiere quälten. Oft setzten sie sich ihren Opfern auf die Brust, so dass diese dann schweißgebadet und panisch aus ihren Albträumen aufwachten und nach Luft rangen. Eine der ersten schriftlichen Erwähnungen der Mara, wie die Mehrzahl von Mare im Norwegischen lautet, stammt aus der schwedischen Sammlung Sjalinna thröst (Seelentrost) aus dem 14. Jahrhundert. Im englischen Volksglauben war dagegen die Elfenkönigin Mab für verfilzte Haare verantwortlich, in Shakespeares Romeo und Julia (1597) heißt es dazu: „This is that very Mab That plaits the manes of horses in the night, And bakes the elflocks in foul sluttish hairs“.
Der Besuch eines solchen Wesens war etwas zutiefst Verstörendes, mit einer Ausnahme: Manchmal hinterließen die bösen Wesen unter anderem Läusenissen in den Haaren der Schlafenden und das war, inklusive der folgenden Verfilzungen, dem herrschenden Aberglauben zufolge ein unerhörter Glücksfall. Krankheiten, so war man damals nämlich sicher, verließen den Körper durch die Haare, und wenn die sich strähnig zusammenklumpten, konnte das nur Gesundheit bedeuten. Entsprechend durften in vielen Gegenden Europas die Flechten keineswegs abgeschnitten werden. Der dänische Dichter und Arzt Johan Clemens Tode (1736–1806) beschrieb allerdings schon recht früh die Auswirkungen des „Plica polonica“, eines Ekzems, das die großflächige Verfilzung der Haare bewirkte und unter den praktisch verwebten Haaren zu lebensgefährlichen Entzündungen führen konnte.
„Das wäre diktatorisch“
Mitte des 19. Jahrhunderts begannen Mediziner den Kampf gegen den Weichselzopf, der, den Gepflogenheiten der damaligen Zeit entsprechend, nicht zimperlich geführt wurde: Oft wurde der Zopf einfach abgeschnitten, ohne den Leuten genau zu erklären, warum sie keine Angst vor einem Leben ohne Filzhaare zu haben brauchten. Ob die Zöpfe der in den dreißiger Jahren begründeten Rastafari-Bewegung, die sich besonders auf das Alte Testament berief, die jüdischen Payot-Locken zum Vorbild hatten, ist übrigens ungeklärt – Samson verliert jedenfalls in den ihnen sicher bekannten Schilderungen von Joshua seine Stärke, nach dem Delilah ihm seine sieben Locken abschnitt. Viel von diesen Überlieferungen steckt auch im Namen „Dreadlocks“, das von „to dread something“ kommt, also von „sich vor etwas fürchten“.
Und so könnte man versuchen, die gesamte Kulturgeschichte der verwahrlosten Köpfe zu überblicken, und käme endlich am Anfang aller Sittengesetze an, im vierten Buch Moses, wo geschrieben steht, dass, wer Dreadlocks trägt, heilig sei, bilanziert Claudius Seidl in der FAZ: „Wenn sich jemand dem Herrn geweiht habe, ‚soll kein Schermesser über sein Haupt fahren. Bis die Zeit um ist, für die er sich dem Herrn geweiht hat, ist er heilig und soll das Haar auf seinem Haupt frei wachsen lassen‘.“ Das Schweigen Luisa Neubauers ist übrigens laut, vermutlich hält sie das für eine „rechte“ Kampagne, meinte Sandro Serafin in der Jungen Freiheit. Wo diese Ideologie anfängt und wo sie aufhört, wissen vermutlich nicht einmal deren Vertreter selbst zu beantworten: Dürfen eigentlich noch Kartoffeln in unseren Küchen verkocht werden, obwohl sie einstmals aus Amerika eingeführt wurden?
Egal wie gut ein Argument ist, gleichgültig, mit welchen Fakten man es belegen kann: Die Anhänger der Postmoderne lehnen es ab, auf einer wissenschaftlichen Basis zu argumentieren, denn Wissenschaft ist für sie nur eine Form weißer Macht, die es zu zerstören gilt, meint Stefan Laurin auf Ruhrbarone. Dabei handele es nicht um einen Spaß einiger Nachwuchsakademiker, „sondern um eine radikale Ideologie, deren Ziel die Vernichtung der offenen Gesellschaft ist“. Gleichzeitig sei es aber auch richtig, die Protagonisten der Postmoderne lächerlich zu machen, „denn sonst bringt man ihnen ein Maß an Respekt entgegen, das sie nicht verdient haben: Jemand kann nun einmal zugleich gefährlich und der Dorftrottel sein.“
„Derlei Verirrungen stehen sinnbildlich für das verquere Gesellschaftsbild einer woken Bürgerkinder-Generation, die materielle Konflikte komplett in die Sphäre kultureller und irrelevanter Anerkennungsfragen verlagert – mit einer Verfolgungslust, die sich auch jederzeit gegen die eigenen Mitstreiter richten kann“, befindet Wimalasena: Wie man von der brutalen europäischen Kolonialgeschichte in Afrika einen Bogen zu der Frisur einer Pop-Sängerin schlagen kann, dürften nur Eingeweihte verstehen. Er erkennt aus machttheoretischer Perspektive eine „Selbstkannibalisierung“: „Wie will man jemals Mehrheiten für eine progressive Politik schaffen, wenn man jeden fortstößt, der nicht die neuesten Umdrehungen der politischen Korrektheit beherrscht.“
Im September 2016 entschied ein Berufungsgericht in Alabama, dass das Tragen von Dreadlocks am Arbeitsplatz ein Kündigungsgrund sein kann. Sprich: Schwarze müssen sich in den USA, um Geld verdienen zu können, ihre Dreadlocks abschneiden. Manche Expats in Berlin, die durch die Black-Lives-Matter-Bewegung und die Diskussionen um „Cultural Appropriation“ politisiert sind, scheinen der Ansicht zu sein, dass sich Diskussionen aus den USA eins zu eins auf Deutschland übertragen lassen. „Die Debatte nervt mich, denn sie wird von den falschen Leuten geführt“, sagt die 31-jährige schwarze Ethnologin Maimouna Jah auf BuzzFeed. „Was passiert, ist eine Kontextverschiebung.“
„Verfilztes Haar finden wir in allen Kulturen wieder, es gibt keine Kultur, die das für sich beanspruchen kann“, räumt Jah ein. „Je mehr Menschen Locs tragen, desto besser!“, findet sie. Denn es sei auch wichtig, dass kulturelle Grenzen überwunden werden und solch eine Frisur immer repräsentativer werde. Fragt man etwa Abrehet Ghebreghiorghis, die halberitreische Geschäftsführerin des Flechtateliers „Magic Style“ in Leingarten bei Heilbronn, was sie von solchen Diskussionen hält, zeigt sie wenig Verständnis: „Ich schreibe doch niemandem vor, was für Haare er zu tragen hat. Das wäre diktatorisch!“, sagte sie der Süddeutschen Zeitung.
„nur verdeckter Machtanspruch“
Sascha Lobo, der linke Elbindianer aus Hamburg, hatte noch nie eine Aneignungsdebatte um seinen Irokesenschnitt auszustehen. Selbst die ehemalige grüne Kulturministerin Schwedens, Amanda Lind, trug die Haare verfilzt und wurde deshalb „Ministerin der kulturellen Aneignung“ genannt. Doch die Nachahmung, sagte Oscar Wilde, sei die ehrlichste Form der Schmeichelei. Und die westliche Popmusik schmeichelt seit der Erfindung des Jazz der afroamerikanischen Musik. Über Elvis Presley schrieb der schwarze Aktivist Eldridge Cleaver, er habe den weißen Kids ihre Körper zurückgegeben. Mehr noch: Als weiße Teenager wie Elvis zu zucken begannen, kollabierte die rassistische Lügenmär, die Weißen seien den Schwarzen überlegen, weil sie ihre Instinkte im Griff hätten. Genau genommen ist die Fähigkeit zu kultureller Aneignung genau das, was den Menschen von allen anderen Tieren unterscheidet, und galt zu Zeiten der Aufklärung einmal als Glücksfall, meint Brodkorb.
Wenn heute aber eine weiße Person Dreadlocks trägt, um schöner auszusehen, besser dazustehen, finanziell zu profitieren, übernehme sie einen Teil schwarzer Kultur, ohne deren Leid und Unterdrückung erfahren zu haben: „Everything but the burden“, alles außer der Bürde, schrieb der US-Kulturtheoretiker Greg Tate 2003 in seinem gleichnamigen Buch. Und die Bürde ist: jahrhundertelang verweigerte Bürgerrechte, Rassismus, Armut. Jazz und Hip-Hop, Sprinttechniken und Dichtkunst, Humor und basisdemokratische Mobilisierungsformen in sozialen Bewegungen – aus allen Bereichen Schwarzen Schaffens hätten weiße Menschen geschöpft, um ihr eigenes Ansehen und ihren eigenen Besitz aufzuwerten, so der Vorwurf. Dieses Tun, das manche Ungerechtigkeit nennen, alles an kulturellen Bräuchen und sozialen Errungenschaften genommen zu haben, ohne jenen, denen es zugestanden hätte, etwas zu geben, ist der Ursprung der Kritik an kultureller Aneignung.
Ähnlich argumentieren gegenwärtig indigene Frauen in Mexiko und Guatemala, die kritisieren, dass die Muster ihrer in stundenlanger Arbeit gestickten Kleider von transnationalen Modekonzernen kopiert und profitabel ausgeschlachtet werden. Nur ist Filzhaaren nun mal nicht anzusehen, welche Gedanken durch den Kopf gehen, auf dem sie wachsen; das trifft auf Kleider-Trägerinnen ebenso zu. Auch das Argument, dass sich Kulturen gegenseitig annähern, und Schwarze ja auch ihre Haare glätten oder blond färben würden, muss in diese Debatte eingebracht werden. Der Wiener Soziologe Jens Kastner behauptet im Standard eine „semiotische Signifikanz“: es käme wohl niemand durch mit der Aussage „Ich verwende dieses Hakenkreuz nur als Sonnensymbol“. Warum eigentlich nicht?
Das „nicht festgestellte Tier“ (Arnold Gehlen) bedarf des Lernens vom Mitmenschen, des Einübens von Normen und Verhaltensweisen, der Aneignung bisher hervorgebrachter Kulturbestände, um sich in der Welt überhaupt zurechtfinden und auf dieser Grundlage an der Welt weiterarbeiten zu können. Und dies alles ist nicht zu haben ohne das Nachahmen und Kopieren bereits bestehender Kulturleistungen: „Früher nannten wir ‚kulturelle Aneignung‘ daher aus gutem Grund einmal schlicht ‚Bildung‘“, erkennt Brodkorb. Die ist zuungunsten von Ideologie in den letzten 20 Jahren verloren gegangen. Der Vorfall zeigt, wie ein in vorgeblich bester Absicht ersonnenes Konzept zu einem ideologischen Machtinstrument werden kann, wenn es in die schlechtesten Hände gelangt. „Der Anspruch auf Besitz der Einen wahren Vernunft ist nur verdeckter Machtanspruch“, erkannte schon Hobbes. Diesen Anspruch gilt es mit aller Kraft abzuwehren.
*
Über den Autor:
Thomas Hartung, geb. 1962 in Erfurt; promovierte nach seinem Lehramtsstudium in Magdeburg 1992 zur deutschen Gegenwartsliteratur und war danach als Radio- und Fernseh-Journalist in Sachsen-Anhalt und Sachsen sowie als freiberuflicher Dozent für Medienproduktion und Medienwissenschaft an vielen Hochschulen Deutschlands tätig; der bekennende „Erzliberalkonservative“ trat als Student in die LDPD ein und 1990 aus der FDP aus: von „misslungener Einheit“ nicht nur mit Blick auf die Parteienfusion spricht er bis heute; Hartung war im April 2013 Mitbegründer der AfD Sachsen und wurde zweimal zum Landesvize gewählt. Seit März 2020 ist er Pressesprecher der AfD-Fraktion Baden-Württemberg.
Hier können Sie TUMULT abonnieren.
Für Einzelbestellungen klicken Sie bitte hier.