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Thomas Hartung: "GEGEN VOLKES STIMME STEMMEN" — zur Thüringer Ministerpräsidentenwahl

Die Bewertungen der Erfurter Ministerpräsidentenwahl und ihrer Folgen schwanken zwischen „Demokratieabschaffung“, „rechtem Dammbruch“ und „politischer Posse“. Eine Sortierung von Thomas Hartung.



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Man kann es, soviel vorab, drehen und wenden wie man will – als übergreifender Erklärungsansatz für alles, was hierzulande nach dem 5. Februar 2020 mittags politisch passierte, bleibt nur eine These übrig: Medien und Altparteien haben sich so in ihr Narrativ der AfD als neonazistische, ja faschistische und damit nichtbürgerliche Partei hineinhalluziniert, dass bis dato keine Seite das ursprüngliche Landtagswahlergebnis als Sieg des konservativen Blocks und als Abwahl der Regierung Ramelow anerkennen will. Ohne dieses Narrativ vom „Faschismus“, der aber eigentlich ein „Kampfbegriff“ ist, dessen inflationärer Gebrauch „letztlich zu einer Verharmlosung des Faschismus“ führt, wie der Historiker Heinrich August Winkler in der WamS völlig zu Recht warnte, könnte jeder Demokrat ruhig weiterleben, denn dann gäbe es einen liberalen Thüringer Ministerpräsidenten, der jetzt eine bürgerliche Regierung zustande bringen muss. So aber erlebt jeder Demokrat seither einen Alptraum, der, um eine visuelle Metapher Goyas auszubeuten, nahezu stündlich neue Ungeheuer gebiert.


Was war geschehen? Obwohl ihm vier Stimmen fehlten, wollte sich der geschäftsführende linke Ministerpräsident Bodo Ramelow als Chef einer rot-rot-grünen Minderheitsregierung in Erfurt wiederwählen lassen. Sein Kabinett stand, der Koalitionsvertrag war unterschrieben, und er twitterte noch am Morgen: „Heute heißt es mehr Demokratie und weniger Parteibuch wagen!“ Er gehe mit großem Vertrauen in die Wahl: „Meine Hand ist ausgestreckt, um Neues zu wagen“. In den ersten beiden Wahlgängen erreichte er gegen den parteilosen AfD-Kandidaten Christoph Kindervater nicht die erforderliche Mehrheit, so dass ein dritter Wahlgang nötig wurde, in dem die einfache Mehrheit reicht. Da die AfD ihren Kandidaten nicht zurückzog, warf wie angekündigt der FDP-Fraktionschef Thomas Kemmerich seinen Hut in den Ring – die Partei war mit gerade fünf Prozent in den Landtag eingezogen. Bei einer Enthaltung gewann Kemmerich die Wahl mit 45 zu 44 Stimmen – offenbar hatten alle bürgerlichen Abgeordneten für ihn gestimmt und damit, wenn auch verspätet, ihr Wahlversprechen eingelöst, Ramelow abzuwählen. Kemmerich nahm seine Wahl an – und trat eine politische Lawine los. Von „Skandal“ und „politischer Eklat“ über „rechter Dammbruch“ bis zum „Durchbrechen einer Brandmauer“ reichte die politische und mediale Empörung.


Die ideologisch-juristische Errichtung dieser Brandmauer muss kurz erklärt werden: Am 26. September 2019 hatte das Verwaltungsgericht Meiningen entschieden, dass die Bezeichnung „Faschist“ im Fall von Thüringens AfD-Landeschef Björn Höcke nicht verboten werden dürfe (Az.: 2 E 1194/19 Me). Anlass war eine linke Demo gegen die AfD in Eisenach, die sich „insbesondere gegen den Faschisten Björn Höcke“ richten sollte. Das Motto untersagte die Stadt Eisenach als Versammlungsbehörde, wogegen die Veranstalter im Eilverfahren mit Erfolg klagten: Die Auflage der Stadt sei „nach summarischer Prüfung rechtswidrig“. Die Bezeichnung „Faschist“ sei hier weder Schmähkritik noch Tatsachenbehauptung, sondern ein Werturteil. Grundlage waren die Einschätzung von Sozialwissenschaftlern zu Höckes Dresdner Rede, in der er eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ gefordert hatte; Presseberichte über andere Höcke-Äußerungen im „faschistischen Sprachduktus“ sowie Passagen seines Interview-Buchs „Nie zweimal in denselben Fluss“. Die Stadt legte keine Beschwerde ein – Eisenachs Oberbürgermeisterin ist die Linke Katja Wolf. Und Höcke konnte keine Rechtsmittel einlegen, weil er am Verfahren gar nicht beteiligt war.


Auch Sachsens Fraktionsvize und Görlitzer OB-Kandidat Sebastian Wippel durfte in einem Tweet als „Faschist“ bezeichnet werden, entschied jüngst das Landgericht Görlitz. Und an Dresdner Gerichten wurde im Vorjahr entschieden, dass Sachsens Landeschef Jörg Urban und Sachsens Pressesprecher Andreas Harlass „Neonazi“ genannt werden dürfen. Die Urteile nahm offenbar der linke Ex-Staatskanzleichef Benjamin-Immanuel Hoff zum Anlass, seine Schlüsselübergabe an Kemmerich mit den Worten zu begleiten: „Sie müssen damit leben, ein Ministerpräsident von Gnaden derjenigen zu sein, die Liberale, Bürgerliche, Linke und Millionen weitere in Buchenwald und anderswo ermordet haben.“ Dieses hanebüchene Framing griff am Abend ZDF-Chefredakteur Peter Frey im heute-Journal dankbar auf und sprach von einem geschichtsvergessenen „Tabubruch“, den er so kommentierte:


„…denn es war ja in Thüringen, im Jahre 1924, als erstmals völkische Abgeordnete einer Regierung zur Mehrheit verhalfen. Die vertrieb zuerst das progressive Bauhaus aus Weimar, ebnete dann den Weg für die Machtübernahme der NSDAP. Endstation Buchenwald.“

Dass das nur ein fauler Zauber ist, bewies erst dieser Tage Bayerns Landtagspräsidentin Ilse Aigner (CSU), die die Grünen-Fraktionschefin Katharina Schulze für parlamentarische Verbalattacken auf die AfD rügte. Schulze habe die Thüringer AfD-Fraktion als „Neonazis“ bezeichnet und die AfD in einem Zwischenruf eine „faschistische Partei“ genannt. Diese Äußerungen seien in ihrer Verallgemeinerung derzeit nicht belegbar. Worum es also politisch korrekt geht, brachte dieser moralinsaure Satz der Westfälischen Nachrichten auf den Punkt: „Der Vorgang ist zwar zutiefst demokratisch - und im Ergebnis dennoch abscheulich und unerträglich.“



Politiker haftbar für Wähler machen


Das Verbrechen, das die helldeutsche Republik gegen das dunkeldeutsche Thüringen zu bewältigen hatte, lautete also: Politiker können haftbar gemacht werden für jene, die sie gewählt haben – da der Richtige leider von den Falschen ins Amt gehievt wurde, kann er nicht der Richtige sein. Und das, obwohl sich Kemmerich von der AfD eindeutig und unmissverständlich distanzierte und eine Minderheitsregierung mit der CDU anpeilte. Sich von „Rechtsextremisten“ wählen zu lassen, schreibt etwa Außenminister Heiko Maas (SPD), sei komplett verantwortungslos. Sein Parteikollege und Amtsvorgänger, Sigmar Gabriel, sieht die Demokratie der Lächerlichkeit preisgegeben. Für Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) wurde laut Sächsischer Zeitung die Wahl gar missbraucht, „um die freiheitliche Demokratie und ihre Vertreter der Lächerlichkeit preiszugeben“. Die Causa galt prompt als erste Kooperation bürgerlicher Parteien mit Rechtsextremen seit der Weimarer Republik: Der Gratulationshandschlag Höckes mit Kemmerich wurde in einen auch visuellen Zusammenhang mit dem Handschlag zwischen Hindenburg und Hitler gebracht. Der Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, Volkhard Knigge, hat Björn Höcke im Neuen Deutschland gar die Inszenierung dieser Pose unterstellt – als sei der für die Wahl der Standpunkte sowohl Kemmerichs als auch der Fotografen verantwortlich! Das ist so erbärmlich geschichtsvergessen und falsch, dass Benedict Neff in der NZZ von einem „Überbietungswettbewerb darum, wer in der Lage ist, die Wahl von Thomas Kemmerich am schärfsten zu verurteilen“, schreibt und die Absurdität dieser Logik trefflich zusammenfasst:


„Beunruhigend wäre es eher, wenn bürgerliche Politiker in Deutschland nicht mehr kandidieren würden, aus Angst, von der AfD gewählt zu werden. Man stelle sich vor, die Rechtspopulisten hätten sich einen Spaß daraus gemacht und Bodo Ramelow ins Amt gewählt – wäre es dann eine Schande für die Linkspartei gewesen? Gäbe es dann Rücktrittsforderungen, und wäre die Demokratie in Gefahr?“

Doch genau diese Angst ging in der CDU um: Da sie mit einem ähnlichen Szenario gerechnet hatte, verwies die Bundespartei auf die Unvereinbarkeitsbeschlüsse, weder mit Links- noch Rechtsaußen zu kooperieren, weshalb Thüringens Unionsfraktionschef Mike Mohring auf eine eigene Kandidatur verzichtete – und inzwischen ankündigte, bei der nächsten Fraktionswahl im Frühjahr nicht mehr anzutreten. Er galt als begabter Hoffnungsträger. Der AfD-Ehrenvorsitzende Alexander Gauland indes griff Neffs Idee prompt auf und schlug zwischenzeitlich vor, dass die AfD-Abgeordneten nun Ramelow mitwählen. Mit Blick darauf twitterte Ramelow:


Es muss jetzt im ersten Wahlgang genügend Stimmen der Demokratischen Abgeordneten geben, ansonsten läuft es auf ungeordnete Neuwahlen hin und bis zu 170 Tagen ohne jede handlungsfähige Landesregierung. Ich bewerte das als beginnende und ungeahnte Staatskriese.“ [sic!]

Abgesehen von der demokratischen Zumutung des bekennenden Legasthenikers, ein Wahlergebnis vor vornherein feststehen zu lassen und den Wahlvorgang damit überflüssig zu machen, sagte der Göttinger Staatsrechtler Hans Michael Heinig dem Handelsblatt: „Wenn Herr Ramelow nun sagt, alle demokratischen Kräfte müssen mich wählen, sonst liegt eine Staatskrise vor‘, setzt er den eigenen parlamentarischen Erfolg mit dem staatlichen Normalzustand gleich. Das ist eine zutiefst undemokratische Haltung.“ Böswillige könnten das Führerprinzip aus Carl Schmitts „amtscharismatischer Souveränitätslehre“ wiedererkennen. Heinig weiter:


„Die Bezeichnung Staatskrise ist eine politische Bewertung seitens Herrn Ramelow und kein juristisches Urteil. Das Staatsrecht kennt die Kategorie des Notstands – und davon sind wir in Thüringen selbst bei einem Scheitern der Regierungsbildung weit entfernt.“

Absurdität hin oder her: Die Politik ist seitdem im permanenten Ausnahmezustand. Die Erfurter Linken-Fraktionschefin und NVA-Offizierstochter Susanne Hennig-Wellsow, die Thüringen offenbar als kommunistischen Erbhof sieht, hatte Kemmerich ihren Blumenstrauß vor die Füße geknallt, es kam zu Sondersendungen, Parteiaustritten, Demonstrationen nicht nur gegen die AfD, sondern auch gegen CDU und FDP, der Ruf nach Neuwahlen wurde laut, ja liberale Politiker wie Michael Rubin in Frankfurt oder Karoline Peisker in Barth wurden angegangen, von Angriffen auf FDP-Geschäftsstellen und -Plakate ganz zu schweigen. Dass Thomas Kemmerich Personenschutz erhielt, seine Frau auf offener Straße bespuckt wurde und die schulpflichtigen seiner sechs Kinder nur begleitet dem Unterricht beiwohnen konnten, krönte die deutsche Beschämung. Hinzu kamen hektische Beratungen in den Thüringer Fraktionen, bei denen die anwesenden Parteivorsitzenden teilweise vorgeführt wurden: CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer, die mit der Maßgabe nach Erfurt geschickt wurde, Neuwahlen zu beschließen, kehrte angesichts der fehlenden Selbstmordbereitschaft der Thüringer Union unverrichteter Dinge und somit schwer beschädigt zurück; und in den Berliner Parteizentralen: FDP-Chef Christian Lindner stellte gar die Vertrauensfrage. Michael Klonowsky erkannte prompt die Analogie, dass ein AfD-Kontakt in der BRD heute ebenso verboten sei wie ein West-Kontakt zu DDR-Zeiten.


In dieser Gemengelage war genau jene Polarisierung zu beobachten, die – man kann es nicht anders beschreiben – tatsächlich am Vorabend von Systemwechseln heraufzieht – Thomas Rietzschel wähnt Deutschland auf achgut in einer Situation wie Frankreich 1789. Einerseits versucht der Apparat der Arrivierten, der sich nicht als minoritär wahrnimmt, alles, um seine Ideologie und damit seine Deutungshoheit sprich Macht zu behaupten – selbst um den Preis der Preisgabe des Systems, das er zu verteidigen vorgibt, was Distanzierung und damit Säuberung nach sich zieht: Es hagelte medial entsprechend begleitete Rücktritte und totalitäre Forderungen; dazu gleich mehr. Assistiert wurde dem Apparat von Politikwissenschaftlern wie Daniel Ziblatt und Michael Koß, die in der Zeit befanden:


„Demokratien können nur überleben, wenn man von der Macht fernhält, wer sie bedroht. In Erfurt geschah das Gegenteil. Das weckt Erinnerungen an den Aufstieg der NSDAP.“

Andererseits versuchen die Deprivierten – unter Ausnutzung aller demokratischen Spielregeln – alles, um ihre vermeintlich majoritären Interessen, natürlich medial kaum begleitet, gegen den elitär und volksfeindlich empfundenen Apparat der Etablierten durchzusetzen. Und – diesen Mechanismus nutzte aus, wer auch immer sich arriviert oder depriviert wähnte, was nochmals sonderbare Konstellationen nach sich zog.



„Ergebnis wieder rückgängig machen“


Zunächst zu den Rücktritten. Den Anfang machte nach 24 Stunden Kemmerich selbst, der mit so massivem Gegenwind, selbst aus seiner eigenen Partei, wohl nicht gerechnet hatte; die Drohungen gegen seine Familie taten sicher ihr Übriges: Er kündigte seinen Rückzug an und plädierte für Neuwahlen. Am 8. Februar trat er offiziell zurück und bekleidet das Amt geschäftsführend. Den Linken reichte das nicht – sie wollten einen erfolgreichen Misstrauensantrag, um Ramelow rasch erneut zu wählen. Die WamS berichtete, dass Kanzlerin Angela Merkel den Schritt mit der Drohung an Lindner erzwungen habe, ansonsten sämtliche Länderkoalitionen mit CDU und FDP zu beenden. Diese eigentlich justiziable Nötigung wurde bis heute nicht dementiert. Kemmerich bekannte inzwischen, den Bundesratssitzungen fernzubleiben, um durch seine Anwesenheit nicht zu provozieren. Umgekehrt bekannte Knigge, dass er Kemmerich, obwohl Ministerpräsident, an den Feierlichkeiten zum 75. Jahrestag der Befreiung des KZ Buchenwald nicht teilhaben lassen will. Das ist kein Witz.


Als nächstes traf es den Ost-Beauftragten der Bundesregierung, Christian Hirte (CDU), der Kemmerich öffentlich gratuliert hatte. Er twitterte, Merkel habe ihm mitgeteilt, dass er nicht mehr Ost-Beauftragter sein könne. Für die Welt hat die CDU seinen Kopf der SPD „als Beruhigungspille auf den Tisch gelegt“. Doch dieser Blutzoll sei noch nicht genug, um die SPD zu besänftigen. Bayerns MdB Dorothee Bär (CSU) beeilte sich prompt, ihre Gratulation öffentlich als Fehler zu bezeichnen. Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) petzte per Twitter, dass ein Minister in RLP dasselbe tat und noch keinen Kotau vollzogen habe. Dieses ebenso abartige wie infantile Verhalten hoher Volksvertreter zeigte eindrucksvoll, welche seelisch-moralischen Verkrüppelungen Macht und das Festhalten an ihr zeitigen. Dass auch Sachsens FDP-Generalsekretär Robert Malorny zurücktrat, sei der Vollständigkeit halber ebenso nur erwähnt wie der Name des Innenstaatssekretärs Marco Wanderwitz als Nachfolger Hirtes – immerhin hat der Sachse schon mal mit dem Tweet „Ein alter Mann, zerfressen von Hass und Dummheit. Die AfD und Gauland sind giftiger Abschaum“ bewiesen, dass er den richtigen Klassenstandpunkt hat.


Als vorläufig letzte musste dann Annegret Kramp-Karrenbauer dran glauben, die als CDU-Chefin und Kanzlerkandidatin hinwarf, weil sie nicht nur einsah, dass ihr die Führung ihrer Partei – so sie sie überhaupt je innehatte – entglitten war, sondern auch noch durch Angela Merkels Worte und Taten dazu förmlich genötigt wurde. Und das Verhalten dieser Gott-Kanzlerin, das nur als stalinistisch bewertet werden kann, ist der eigentliche Skandal dieser Tage, der noch manche weitere befeuerte und vehement ans Licht brachte, wie tief linke bis linksextremistische Prägungen in die Gesellschaft eingesunken sind, oder besser, nie daraus verschwunden waren. Der ungeheuerliche Vorgang nahm seinen Lauf während Merkels Afrikareise: In Pretoria bezeichnete sie die von CDU und AfD ermöglichte Wahl Kemmerichs als „unverzeihlich“, weshalb „das Ergebnis wieder rückgängig gemacht werden" müsse. Daran werde in den kommenden Tagen gearbeitet. Damit sind „gleich drei Säulen des demokratischen Rechtsstaats weggefräst worden. Erstens: Der Föderalismus der Bundesländer. Zweitens: Der Parlamentarismus. Drittens: Der Volkswille, der in Parlamentswahlen zum Ausdruck kommt“, empört sich der Schweizer Weltwoche-Chef Roger Köppel. Diese eindeutig grundgesetzwidrige Äußerung, die nicht nur ein Angriff auf die Demokratie, sondern eine politische Kriegserklärung an die eigenen Bürger war, führte nicht etwa zu einem Aufschrei in den hiesigen Medien, sondern wurde von diesen als legitimer Bestandteil des Diskurses neben anderen Meinungen zitiert und fand prompt zweierlei Mittäter.



„moralisch Höherwertige“


Die einen, vor allem Journalisten, gaben jede Zurückhaltung auf und machten ihrem Ruf als Volkserzieher, die ihre Moral über das Gesetz stellen, alle Ehre. So schrieb der Zeit-Journalist Martin Klingst bei der Darstellung konservativer Thüringer Abgeordneter:


„Seit wann sind Volksvertreter bloßes Sprachrohr und Ausführungsorgan des Volkes – oder auch nur eines bestimmten Teils des Volkes? Sie sollten ein eigenes Gewissen haben, und sich, wenn etwas völlig falsch läuft, aus eigenen Stücken gegen Volkes Stimme stemmen.“

Diese Art Demokratieverständnis, das Negieren von Ergebnissen demokratischer Abstimmungsprozesse, die Leugnung demoskopischer Tatsachen und die immer weiter fortschreitende Stigmatisierung Andersdenkender wird zu einer Eskalation führen, für die am Ende nicht die AfD und ihre Wähler verantwortlich zeichnen, sondern Menschen wie Klingst, für die die Demokratie am Ende ihres Meinungshorizonts ihre Daseinsberechtigung verloren hat. Demokratie heißt nicht Parteiendemokratie im Sinne eines Überbaus, der über allem schwebt, oder im Sinne eines Gewissen, das ewige Wahrheiten verkündet. Demokratie heißt, dass die Menschen selber denken und tun, was sie für richtig und angemessen halten. Wenn das nun bestimmten Ideologien bestimmter Parteipolitiker widerspricht, dann ist das halt so.


Parteien sind eben nicht vom Volk unabhängig – das wäre auch eine Erklärung von Politikverdrossenheit und der daraus resultierenden pseudodemokratischen Inszenierung – sondern rekrutieren sich aus Bürgern dieses Volkes. So lange eine Partei nicht verboten ist, hat sie mit und von anderen Parteien gleich behandelt zu werden. Wer sie ungleich behandelt, ohne ein Verbot von dem verfassungsrechtlich zuständigen Organ erwirkt zu haben, handelt nicht in den Grenzen unseres Grundgesetzes. Aber das von Klingst beschworene „Gewissen“ verbietet natürlich, einen Kandidaten der FDP zu wählen, der keine Absprachen oder Zugeständnisse in Richtung AfD gemacht und jede Kooperation mit der AfD ausgeschlossen hat. Und das Gewissen verbietet der CDU natürlich auch, einen eigenen Kandidaten aufzustellen, egal wofür der stünde. Pikant: ein Facebook-Posting Ramelows enthüllte nun, dass es offenbar doch Absprachen mit der CDU gab: angeblich sollten im dritten Wahlgang „4 Abgeordnete zur Toilette gehen... so war‘s durchdiskutiert“.


Das würde die Sportlichkeit erklären, warum Ramelow überhaupt antrat: Denn als geschäftsführender Ministerpräsident hatte der Politiker keinen zeitlichen Druck. Er hätte weiter regieren und währenddessen für eine Mehrheit verhandeln können. Hinterzimmerpolitik zu betreiben und dann öffentlich ihr Scheitern zu beklagen fällt dann auch unter die Kategorie Sportlichkeit.


Warum also sollte ein Konservativer künftig die CDU wählen, wenn er damit trotz bürgerlicher Mehrheit eine rot-rot-grüne Regierung ermöglicht? Das erkannte unter anderem der Vize-Chef der CDU-Fraktion im Magdeburger Landtag, Lars-Jörn Zimmer, der eine Minderheitsregierung mit Hilfe der AfD im ZDFkünftig nicht ausschloss. Man könne nicht 25 Prozent der Wähler vor den Kopf stoßen, das müsse auch die Parteispitze in ihrem „Elfenbeinturm“ akzeptieren. Der Politiker stellte sich damit nicht zum ersten Mal gegen die Linie der Parteiführung in Bund und Land. Zimmer gehört zu den Köpfen einer ganzen Gruppe von CDU-Abgeordneten, die auf eine inhaltliche und strategische Annäherung an die AfD zielen. Diese Position hatte Zimmer im vergangenen Jahr bereits in einer Denkschrift vertreten, die er gemeinsam mit dem zweiten Fraktionsvize Ulrich Thomas verfasst hat. Darin forderten die beiden Politiker, man müsse wieder „das Soziale mit dem Nationalen versöhnen“. Das Papier stieß damals zwar auf Kritik, die Parteiführung zog aber keine Konsequenzen. Die Eskalation des parteiinternen Richtungsstreits und der drohende Autoritätsverlust der Parteispitze führt nun offenbar zu einem Umdenken: Zimmer soll sich vor dem Geschäftsführenden Landesvorstand erklären.


Klingst dagegen illustriert mustergültig das abgehobene Denken einer Pseudoelite, die im Namen einer von ihr selbst definierten „reinen Lehre“ alle und alles abwertet, was dieser Lehre vorgeblich widerspricht. Da ist lässlich, einerseits mit linkskontaminierten Worthülsen wie „Anstand“ oder „Gewissen“ zu operieren und andererseits mit ständigen Vernazifizierungen und Verrassifizierungen die eigene Geschichte zu verharmlosen. Ein anderes Beispiel war die Forderung des Bonner Politologen Frank Decker in der Süddeutschen Zeitung, die geheime Wahl des Ministerpräsidenten abzuschaffen. Und ein weiteres lieferte der Publizist Peter Neumann, der erneut in der Zeit, offenbar nicht absinthtrunken, eine Traditionslinie von der Frühromantik zum Bauhaus erkennt; Benjamin-Immanuel Hoff als Nachfolger von Gropius feiert und letzteren als Adepten von Fichte sieht. Hier scheint kein Holzhammer mehr zu unförmig, um damit nicht doch Ideologie in die Köpfe der nicht „moralisch Höherwertigen“ zu schlagen, wie ein erboster Hans-Peter Friedrich (CSU) twitterte. Wer die antiken Ursprünge der Demokratie kennt, weiß, dass es sich schon damals - unter Ausschluss von Frauen, Sklaven, Metoiken und Idiotes - nur um einen elitären Bürgerzirkel handelte, der als Minderheit Personal- und politische Entscheidungen traf, die idealerweise zum Wohl des gesamten Gemeinwesens beitrugen. Heute fällt ein ebensolcher Zirkel Entscheidungen, die allein zu seinem eigenen Wohl und zur Durchsetzung seiner kruden, ja gefährlichen Ideologie beitragen sollen. Und das lässt sich das Gemeinwesen nicht mehr gefallen.



„klar von Rechts abgrenzen“


Die andere Gruppe, vor allem Politiker, relativierten die Rolle des linken Randes und verharmlosten damit nicht nur linksextremistische Gewalt, sondern verschoben aktiv die vor allem von der CDU nach links gezogene Grenze, was eine eventuelle Wahl Linker durch Konservative wahrscheinlicher werden lässt: Thüringens SPD-Chef Wolfgang Tiefensee forderte im MDR schon mal „staatsbürgerliches Stimmverhalten“ – das hätte er genauso auch vor 1989 fordern können. Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien (CDU) hat von ihrer Partei eine Neubewertung der Linken verlangt. „Unser Äquidistanz-Mantra ist die Wurzel des Übels“, sagte sie dem Spiegelmit Blick auf die Beschlusslage der CDU. „Wir werden das so nicht durchhalten“. Sie sei überzeugte Antikommunistin, aber „einen respektablen Ministerpräsidenten wie Bodo Ramelow mit einem Herrn Höcke gleichzusetzen, ist eine politische und historische Verzerrung“, sagte Prien. „Diese Realität hätten wir viel früher zur Kenntnis nehmen müssen.“ Der CDU-Oberbürgermeister von Altenburg, André Neumann, hatte schon am 30. Januar auf Twitter gezeigt, wie das gehen kann, als er den Wahltag als „historischen Tag für die CDU Thüringen“ feierte:


„Wir können beweisen, dass wir mit Niederlagen umgehen können, wir neue Wege gehen und für uns das Land zählt. Das wir uns klar von Rechts abgrenzen und die Demokratie unser höchster Wert ist. Unterstützen wir R2G! Für Thüringen!“

Genau das hat die CDU zu DDR-Zeiten auch getan: Sie hat der SED zur notwendigen Mehrheit verholfen und danach die SED-Politik stets treu und zuverlässig unterstützt, empörte sich Ex-Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld. „Geht es nach den Neumanns in der CDU, bedeutet der ‚historische Tag‘ die Rückkehr zur Blockpolitik der DDR. Die SED hätte dabei die führende Rolle zurückgewonnen, die ihr in der Friedlichen Revolution 1989 abgenommen wurde.“ Mit Blick auf die vielen SED-Altkader und Stasi-IM bei den Thüringer Linken schimpfte auch Roland Tichy: „Wer so tut, als wäre DIE LINKE eine demokratische Alternative, hat den historischen Weitblick einer knienden Ameise“. Auch der „Konservative Aufbruch“ Bayern protestierte:


„Die Basis unserer Partei hat ein Recht auf klare Antworten, da durch die bisherigen Stellungnahmen des Parteivorsitzenden der CSU zu den jüngsten Vorgängen in Thüringen keine klare Abgrenzung mehr gegenüber linksextremen Parteien erkennbar war. Als bürgerlich-konservative CSU-Mitglieder sehen wir in der fehlenden Abgrenzung zu Bodo Ramelow die Gefahr eines historischen Dammbruchs.“

Dammbruch? Wird jetzt die richtige Vokabel von den Falschen verwendet? Söder hat bis dato noch nicht geantwortet.


Zu den Relativierern von Gewalt gehörte die sächsische SPD-Generalsekretärin Daniela Kolbe. In einem Tweet, der sich mit jüngsten Angriffen auf liberale Personen und Sachen beschäftigt, schreibt sie u.a.: „Stop! Das ist vollkommen indiskutabel. Die Rechten haben auch dann gewonnen, wenn Demokraten aufeinander losgehen. Gerne hart in der Sache, aber vernünftig im Umgang!“ Das sind gleich drei Ungeheuerlichkeiten auf einmal. Mit der Aussage, dass diese Exzesse ohnehin nur den Rechten nutzen, wird erstens nicht die Gewalt an sich verurteilt, sondern nur deren politische Wirkung – was impliziert, dass es für Kolbe richtige und falsche Gewalt gibt. Zweitens ist es absurd, von aufeinander losgehenden Demokraten zu schreiben: Linke, die Gewalt ausüben, gehören in die Gruppe der Demokraten, Rechte, die keine Gewalt ausüben, dagegen nicht? In diesem Weltbild sind vermutlich auch die Steinewerfer von Connewitz Demokraten, Nazis dagegen jene, die sichere Grenzen fordern und vor Gewalt warnen. Und drittens geht niemand „aufeinander“ los, sondern linke Extremisten auf Liberale und nicht umgekehrt! Und die beziehen ihre vorgebliche Legitimation aus der durch Merkel legitimierten Antidemokratie. Nicht nur das dröhnende Schweigen Kolbes und der gesamten SPD war bezeichnend, wenn es um Reaktionen auf die Gewalttaten gegen die AfD geht. In dieser Diktion und diesem Geist entlarvt sich der Totalitarismus, der in linken Köpfen schon immer herumspukte. Es scheint, als hätten linksgrüne Politiker erst dann ein Problem, wenn nicht der politische Gegner, sondern das eigene Lager, ja ihre Person selbst angegriffen wird.


Als reziproke Facette dieses Relativierens erwies sich das Ausgrenzen eigener Kritiker, das sich bereits bei den gelenkten Rücktritten abzeichnete. Nicht nur, dass Grünenchef Robert Habeck einer Abspaltung der Thüringer CDU- und FDP-Landesverbände von oben und damit nach 30 Jahren einer erneuten deutsch-deutschen Teilung das Wort redete, Unions-MdEP Elmar Brok bezeichnete in der Welt die konservative Werte-Union der eigenen Parteifreunde gar mit einer Vokabel, die man seit Goebbels nicht mehr hörte: „So etwas muss man vornherein mit aller Rücksichtslosigkeit bekämpfen, damit ein solches Krebsgeschwür nicht in die Partei hineinkriechen kann.“ Der Bundesvize des CDU-Arbeitnehmerflügels CDA, Christian Bäumler, brachte einen Unvereinbarkeitsbeschluss ins Spiel. „Wer die Werte der CDU nicht teilt, hat in der CDU nichts zu suchen“, sagte er dem Handelsblatt. „Wir brauchen keine AfD-Hilfstruppe in unseren Reihen.“ Auch der saarländische Ministerpräsident Tobias Hans (CDU) bezeichnete ein Bekenntnis zu der Gruppierung als „eine Beleidigung für alle CDU-Mitglieder“. Die CDU mache Politik auf den Fundamenten ihrer Werte, eine WerteUnion sei daher überflüssig, sagte Hans der Rheinischen Post. Jedes Mitglied der Gruppe müsse sich überlegen, ob sein Platz noch in der Union sei. „Wenn nicht, müsste er konsequenterweise sein Parteibuch zurückgeben.“



„Maske für Lähmung“


Die Demokratieaffäre hat inzwischen weite Kreise gezogen – internationale Stimmen bleiben hier unberücksichtigt – und die Ausgrenzungsversuche der AfD ebenso weiter befördert wie die Spaltung der Gesellschaft. So fordert inzwischen die SPD im Landtag von Nordrhein-Westfalen ein Verbot von Gesetzbeschlüssen, wenn diese nur mit den Stimmen der AfD die notwendige Mehrheit erhalten. Mit dem Eilantrag soll sich der Landtag dazu bekennen, „dass es keine Zusammenarbeit und keine wie auch immer geartete Form des Zusammenwirkens der Demokraten mit der AfD im Landtag von Nordrhein-Westfalen geben darf und wird“. Dazu zählt zum einen, dass die Wahl des Ministerpräsidenten niemals von den Stimmen der AfD abhängen dürfe. Und zum anderen: „Ebenso darf es keine Gesetzesbeschlüsse im hiesigen Landtag geben, die nur durch die Stimmen von AfD-Abgeordneteneine Mehrheit gefunden haben.“ Das ist ein grundgesetzwidriger Schaufensterantrag, den das Landtagspräsidium aus gutem Grund nicht auf die Tagesordnung nahm. Laut einer YouGov-Umfrage rechnet inzwischen jeder zweite Bundesbürger mit einer AfD-Regierungsbeteiligung bis 2030.


„Die Konsenserzählung zur demokratischen Kultur in Deutschland war lange Zeit eine etwas fatale Konzentration in der Mitte: Die großen Volksparteien, die sich programmatisch kaum noch unterscheiden und dann auch noch große Koalitionen bilden, die Ersetzung von Debatte und Kritik durch politisches Marketing und Medienpopulismus,“ muss Georg Seeßlen zähneknirschend in der Zeit eingestehen. Und weiter:


„Und auch ökonomisch gesehen: eine wachsende Mitte der Gesellschaft, der es ziemlich gut geht und die kaum Interesse an Störungen des sozialen Friedens und des bescheidenen Wohlstands hat. Nun erweist sich innerhalb kurzer Zeit, dass es diese stabile und stabilisierende Mitte nie gegeben hat. Sie war eine Medienerfindung, eine Maske für Lähmung, Langeweile und sogenannte Politikverdrossenheit.“

Und die Konsenserzählung, so muss man ergänzen, erweist sich auch mit Blick auf die deutsche Einheit zusehends als Hirngespinst. „Wer den Osten noch länger mit westdeutschen Mitteln regieren will, scheitert. Mehr an sich selbst als an der AfD“, muss selbst die eher linke Publizistin Jana Hensel in der Zeit einräumen. Doch während die offizielle Berliner Lesart im Zuge des raumgreifenden allgemeinen Vereinheitlichungs- und Gleichheitsideals linke Schlagseite hat, tickt der Osten konservativer – was nach wiederum Berliner Lesart nur „rechter“ heißen kann. Zwar warnte Rüdiger Safranski im Spiegel vor „Gleichsetzungsdelirien: konservativ gleich rechts gleich rechtsextrem gleich Nazi. Das ist verantwortungslos.“ Doch das sieht nur eine relevante Zahl von Ost-Mitgliedern ebenso. Derzeit sei die Ost-CDU in einer fast ausweglosen Lage, schreibt Robert Ide im Tagesspiegel: „Eingeklemmt zwischen links und rechts findet sie ihre eigene Mitte nicht“.


Eine Erklärung liegt für ihn in der rigorosen Ablehnung alles Linken nach der Friedlichen Revolution, die ja auf die Überwindung linker Zustände zielte. Zustände, die einige Gruppierungen unter linkem Dach wie die „Kommunistische Plattform“ oder die „linksjugend solid“ bis heute in Verfassungsschutzberichten auftauchen lassen. Das Bundesamt für Verfassungsschutz führte seit 1986 - damals war er Gewerkschaftssekretär in Hessen - bis 2013 eine Akte über Ramelow wegen seiner Kontakte zur Deutschen Kommunistischen Partei (DKP). Insofern ist es nur die halbe Wahrheit zu schreiben, dass die Machtoptionen schwänden, wenn man den Unvereinbarkeitsbeschluss von 2018, übrigens initiiert von vier West-Landesverbänden, nur nach links interpretiert und die rechte Seite auslässt, gegen die in Thüringen keine vernünftige Regierung mehr, sondern höchstens eine zwangsideologische gebildet werden kann. Demzufolge würde sich die CDU in Erfurt bei einer Enthaltung oder gar Pro-Ramelow-Stimme eher der herbeigeschriebenen politischen Not als den eigenen Überzeugungen beugen, war das wichtigste Wahlversprechen doch dessen Abwahl. Für Ide ist es unter der Perspektive seines linken Wunschbilds

„offensichtlich, dass sich die CDU im Osten entscheiden muss: für eine neue eigene Mitte, die die Linke nicht mehr komplett ausschließen kann, wenn sie die AfD auf keinen Fall einschließen soll. Bei Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer, der selbst lange laviert hatte im Umgang mit der in Sachsen starken AfD, scheint sich diese Erkenntnis langsam durchzusetzen.“


Und er erkennt trotzdem richtig: „Die ostdeutsche CDU ist zerrissen und fühlt sich auf sich allein gestellt. Damit ereilt sie eine Erfahrung, die viele ihrer Wähler längst gemacht haben: Alte Gewissheiten gibt es nicht mehr. Neue muss man sich selbst erarbeiten.“ Als habe sie den Text gekannt, macht Hensel prompt eine drastische Forderung auf: „Eigentlich brauchen wir, analog dem Klimakabinett, endlich auch ein Ostdeutschland-Kabinett. Der Osten braucht radikale Veränderungen: höhere Einkommen, größere Möglichkeiten zum Vermögensaufbau, besseren Zugang zur Elite…“ FDP-Chef Christian Lindner und Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) plädierten inzwischen für einen unabhängigen Kandidaten: „Das Einzige, was jetzt in dieser schwierigen Situation hilft, ist eine neutrale Persönlichkeit, die von allen getragen wird und die in einer vereinbarten Zeit von vielleicht zwölf Monaten dafür sorgt, dass in diesem Land Neuwahlen stattfinden können", sagte Kretschmer der ARD.


Jüngster Akt der Deutungskämpfe: Die AfD will laut einem Bundesvorstandsbeschluss wegen der Vorgänge in Thüringen Strafanzeige gegen Angela Merkel stellen und zudem eine Abmahnung mit Unterlassungserklärung gegen sie einreichen. Die Strafanzeige wirft Merkel demnach Nötigung des mittlerweile nur noch geschäftsführenden Thüringer Ministerpräsidenten Thomas Kemmerich vor. In der Abmahnung mit Unterlassungserklärung werde Merkel Amtsmissbrauch zur Last gelegt. Die AfD begründet ihr Vorgehen mit Merkels Äußerungen zu Thüringen während des Südafrika-Besuchs, wo sie die Wahl als „unverzeihlich“ bezeichnet und gefordert hatte, sie „rückgängig“ zu machen. „Da Frau Merkel keine relevante Funktion mehr in der CDU bekleidet und im afrikanischen Ausland erkennbar auch nicht als CDU-Mitglied, sondern als deutsche Regierungschefin unterwegs gewesen ist, liegt hier ein klarer Fall von Amtsmissbrauch mit Verletzung der Chancengleichheit der Parteien vor“, erkläre dazu AfD-Chef Jörg Meuthen.


Welche Auswirkungen das Spektakel auf den Fortgang der Großen Koalition hat, ist völlig offen: Viele Beobachter meinen, dass ein neuer CDU-Chef – derzeit sind Merz, Spahn und Laschet im Gespräch – nur ohne sie statt mit oder neben ihr Erfolg haben könne. Dabei ist, wie Focus-Autor Alexander Wendt auf seinem Blog publicomagrichtig anmerkt, die verfassungsrechtliche Unverfrorenheit des Koalitionsausschusses mitzudenken, der auf seiner Sitzung am 8. Februar vier Beschlüsse fasste, die einen „doppelten Verfassungsbruch“ darstellen: Das Vorschreiben von Stimmverhalten auf unbegrenzte Zeit - ähnlich der SPD in NRW der Ausschluss von „Regierungsbildungen und politische Mehrheiten mit Stimmen der AfD“ - sowie die Verfügung über das Stimmverhalten von zwei Dritteln der Thüringer Landtagsmitglieder. Er bemerkt daneben, dass es bis jetzt von Merkel kein Wort gibt, mit dem sie die Übergriffe gegen FDP-Politiker verurteilen würde, und dass Ramelow gar am Ende telefonisch zugeschaltet war. Sein Fazit liest sich vernichtend: Merkels

„kollusives Zusammenwirken mit Gewalttätern entkernt das Recht von Abgeordneten, hebt die Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Legislative auf und begründet die Merkel-Doktrin von der eingeschränkten Souveränität der Bundesländer in politischen Kernfragen. Nach ihrer Definition und angesichts der realen Gewaltkulisse sind in Deutschland auf absehbare Zeit nur noch entweder ganz linke oder halblinke Regierungen möglich.“


Als einziger „Trost“ für den Konservativen scheint der berühmte, an Carl Schmitt angelehnte Satz des Rechtsphilosophen und Verfassungsrichters Ernst-Wolfgang Böckenförde übrig geblieben zu sein, wonach der Rechtsstaat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht schaffen kann. Oder einfacher: Die Bürger müssen selbst wissen, was sie bereit sind hinzunehmen – und was nicht. Der volle Titel von Goyas Gemälde lautet übrigens: „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“. Aufzuwachen ist das Gebot der Stunde.




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Über den Autor:


Thomas Hartung, geb. 1962 in Erfurt; promovierte nach seinem Lehramtsstudium in Magdeburg 1992 zur deutschen Gegenwartsliteratur und war danach als Radio- und Fernseh-Journalist in Sachsen-Anhalt und Sachsen sowie als freiberuflicher Dozent für Medienproduktion und Medienwissenschaft an vielen Hochschulen Deutschlands tätig; der bekennende „Erzliberalkonservative“ trat als Student in die LDPD ein und 1990 aus der FDP aus: von „misslungener Einheit“ nicht nur mit Blick auf die Parteienfusion spricht er bis heute; Hartung war im April 2013 Mitbegründer der AfD Sachsen und wurde zweimal zum Landesvize gewählt. Als Presse- und PR-Chef verantwortete er alle Publikate von der Pressemitteilung bis zum Fernsehspot und damit auch maßgeblich den Landtags- und vor allem den Bundestagseinzug des Landesverbands als stärkste Kraft vor der CDU.



 

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