Laut politmedialem Komplex bewegt sich Literatur für die Abiturstufe mindestens im Südwesten zunehmend zwischen Rassismus und Unverständlichkeit, weshalb sie entweder getilgt oder wenigstens erklärt werden müsse. Das aber verhindert Bildung ebenso wie es Geschichte verschwinden lässt.
„Die Differenz zwischen der moralischen und emotionalen Meinung ist oft nur gering. Emotionalisierung verleitet den Einzelnen vielmehr dazu, die eigene Meinung dem Anderen als faktisch zu vermitteln – mehr noch: sie ihm so aufzuzwingen, wie es die rein rationale Meinung wohl nie könnte. Hinzu kommt, dass Moralität kein Faktum, sondern ein Zusammenspiel aus Meinung, Erfahrung und Interpretation ist. Oftmals hat sie einen kulturellen, familiären oder religiösen Ursprung. Und deshalb kann man in der konkreten Frage keine moralische Allgemeingültigkeit finden und sie schon gar nicht künstlich schaffen.“ Der das 2022 im Cicero schrieb, heißt Sebastian Nötzel, war damals 17, Gymnasiast aus Bremerhaven und genervt von „Schule als Biotop des Linken“, wie er seinen Text betitelte.
Ein Jahr später muss man vermerken: Die auf Hannah Arendt rekurrierende Darstellung betrifft nicht nur die Bildung, sondern hat „Moralität“ längst in alle Bereiche des sozialen, medialen und natürlich politischen Lebens metastasiert. Wurde in der letzten Kolumne das konstatierte Bevormundungs-Amalgam aus Nudging, Entkontextualisierung, Simplifizierung, Einordnung, vereinseitigender Erklärung, Rechtfertigung und Übertreibung bis hin zur Lüge, ja der moralisierenden Tilgung als Cancel Culture noch unter dem Aspekt der „Warnorgie“ im betreuten Fernsehen untersucht, lassen jüngste Ereignisse nur noch den Schluss zu, dass es sich um die Potenzierung allgegenwärtiger Umerziehung handelt. Die Indizien sind sowohl didaktischer als auch publizistischer Art und heben sich manchmal sogar in die Dimension des Politischen: betreutes Lesen, betreutes Denken, betreutes Handeln.
Vom Didaktischen ins Politische gehoben wurde etwa die von Baden-Württemberg ausgehende Debatte um Wolfgang Koeppens (1906–1996) Roman „Tauben im Gras“ (1951), der ab diesem Schuljahr im Südwesten Abiturstoff und die Diskussion darum bis 2025 anhalten wird. Das Buch sei ein „brutaler Angriff“ auf ihre Menschenwürde und die ihrer Schüler, die ein Recht auf eine diskriminierungsfreie Lernatmosphäre hätten: „Wenn ich mit dem N-Wort konfrontiert werde, dann hält für mich einen Moment die Welt an. Ich fühle mich sofort hineingezogen in historische Kontexte uns stelle meine Beziehung zu anderen Menschen in Frage“. Das schreibt Jasmin Blunt, schwarze Deutschlehrerin aus Ulm, für die das Wort „Neger“ eine „Art Menetekel“ zu sein scheint, „ein böses Wort, was an und für sich die Aura dunkler Magie verbreitet, eine giftige Aura, die nur durch Ausradieren getilgt werden kann“, ärgert sich der Tübinger Lektor Rolf Geiger auf dem Portal philab. Allein die Tatsache, dass dieses Wort rund hundertfach in dem berühmten Nachkriegsroman auftaucht, bewog sie offensichtlich dazu, sich nicht nur freistellen zu lassen, um den Stoff nicht unterrichten zu müssen, sondern auch eine Petition mit dem Ziel zu initiieren, das Buch von der Leseliste für Schüler zu streichen.
Darin wird dem Kultusministerium abgesprochen, das Grundgesetz und die Unantastbarkeit der Menschenwürde zu vertreten, da „menschenverachtende Inhalte in die Unterrichtssituation, die einen geschützten Raum darstellen soll, aufgenommen und dort reproduziert werden“ sollen. Damit würde billigend in Kauf genommen, „dass eine ganze Generation, in diesem Fall vollkommen berechtigt, das Vertrauen in unsere Politik dadurch verliert, dass Grundrechte mit Füßen getreten werden, und junge Individuen konstant emotionalen Verletzungen ausgesetzt sind, die reale traumatische Folgen haben. … Das wurde anscheinend aufgrund mangelnder Expertise im Bereich des Anti-Schwarzen Rassismus nicht erkannt. Ein regierungspolitischer Fauxpas dieses Ausmaßes ist gravierend und darf nicht geduldet werden. … Wir wollen keine literarische Zensur, aber erreichen, dass Minderheiten geschützt werden und sich Nicht-Weiße Menschen aussuchen können, ob sie sich mit dieser Sprache konfrontieren wollen.“ Das ist kein Witz. Der Protest gegen das Buch hat es bis in die ARD-Tagesthemen geschafft, was sich dessen legendär scheuer Autor vermutlich nie hätte träumen lassen.
Gewisse Robustheit in der Auseinandersetzung
„Tauben im Gras“, dieser erste Band der „Trilogie des Scheiterns“, war für Marcel Reich-Ranicki „künstlerisch der beste deutsche Roman der deutschen Nachkriegsliteratur“, hatte aber kaum Einfluss auf diese, da er auch ob seiner gewagten Montagetechnik als zu avantgardistisch galt: Weder huldigte der Autor einem „Wir sind wieder wer“-Gedanken, noch verfiel er in die Weinerlichkeit der Trümmerliteratur. Zur Erinnerung an den verkannten Autor und zur Betreuung seines Nachlasses hatten Günter Grass und Peter Rühmkorf 2000 die Wolfgang-Koeppen-Stiftung mit Sitz in seiner Geburtsstadt Greifswald gegründet, die im Literaturzentrum Vorpommern residiert und alle zwei Jahre den „Wolfgang-Koeppen-Preis“ vergibt.
Der Roman – für Mathias Grefrath in der taz „eine atemlose wie präzise Verdichtung einer Epoche auf einen Tag, ein existentialistisches Welttheater“ – entwirft in 105 episodenhaften Sequenzen um das Leben von mehr als 30 Protagonisten ein düsteres Panorama aus dem – als solches interpretierbaren – München der Aufbaujahre mit zwei Paaren im Zentrum, darunter einer alleinerziehenden Kriegswitwe, die vom Wehrmachtsbüro zur US-Transporttruppe gewechselt ist und in einer unklärbaren Mischung aus Not und Zuneigung mit dem schwarzen Sergeant Washington Price zusammenlebt; der vielleicht einzig uneingeschränkt positiven Figur. Es geht um Liebe in allen Varianten, ums Überleben in einer „Atempause auf einem verdammten Schlachtfeld“, geschrieben im gehetzten Koeppensound per Stream of Consciousness mit O-Tönen zwischen Radionachrichten und alltäglicher Gossensprache, „alles vermengt mit dem Assoziationsschatz eines mit allen Motiven der europäischen Geistesgeschichte ausgestatteten Autors und seinem an Sinn und Moral verzweifelten Blick“, so Grefrath. Am Ende schmeißt der Mob mit Steinen, es gibt Tote und es bleibt der Traum des guten Helden Price von einer „Welt, in der niemand unerwünscht ist“ – in einer Zeit, in der die Menschen ziellos durch die Stadt irren – eben wie Tauben im Gras.
Entsprechend hoch schlugen die Wellen. „Das ist der Triumph individueller Empfindsamkeit über die jahrzehntelange Sozialität tradierter Nationalliteratur; ein Musterbeispiel für die Irrwege, die eine subjektiv überhöhte Identitätspolitik einschlagen kann, wenn ihr nicht ein Mehrheitsriegel vorgeschoben wird“, erregt sich der bildungspolitische AfD-Fraktionssprecher Baden-Württemberg, Dr. Rainer Balzer MdL. „Schule ist Lebensstätte, kein ‚sicherer und rassismusfreier Ort für alle‘! Und der Gipfel dieses Irrwegs ist die Erpressung, mit einem Antrag auf Beurlaubung ohne Besoldung das Petitionsziel koste es was wolle zu erreichen. Eine infantile Betroffenheitsaktivistin will per Streik ihren Willen durchsetzen. Da frage ich mich ernsthaft, wie solche Personen hierzulande überhaupt Lehrer werden durften. Wer so eindimensional durch den Schuldienst läuft und seine Emotionen nicht im Griff hat, sollte nicht in diesem Beruf arbeiten.“
„Eine gewisse Robustheit in der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit gehört doch auch dazu. Wir können doch Dinge, die die Wirklichkeit ausmachen, nicht ausklammern, weil Leute sagen, sie sind von ihr psychisch überfordert“, plädiert der selbst schwarze Literaturwissenschaftler Ijoma Mangold im NDR uneingeschränkt für die Lektüre. „Das ist ja eigentlich das Traurige, das Öde, das Fade unserer Gegenwart, dass wir immer mehr zu so einer konformistischen Moral neigen und die dann auch durch Verwaltungsakte von Universitäten über Theater bis Museen umsetzen. Es wird sehr darauf geachtet, dass man im Orwell‘schen Sinne immer zu das richtige Neusprech spricht mit der Begründung, dass sonst tausend Gefühle verletzt werden würden. Aber das verunmöglicht dann eine eigentliche Auseinandersetzung in der Sache.“ Und so findet er am Ende „eine Welt wenig erstrebenswert, die versucht, alle kulturellen Hervorbringungen der Vergangenheit über den Scheitel der Moral der Gegenwart zu schlagen“ – ein weiteres Indiz für James Sweets „Presentism“, der schon in der letzten Kolumne eine Rolle spielen musste.
„Genaue Leser werden zum Ergebnis kommen, dass die von Blunt und ihren Unterstützern inkriminierten Begriffe im Roman eine Funktion haben, die weit darüber hinaus geht, lediglich zeitgenössisch gängige, rassistische Bezeichnungen widerzuspiegeln. Dort, wo sie in erlebter Rede oder inneren Monologen fallen, kritisieren sie eben jenen Rassismus, der ihnen nun quasi sprachmagisch zugeschrieben wird“, verteidigt die Lektüre Mladen Gladić in der Welt. „Blunts Kritik nun mangelt es an Differenziertheit schon wegen der alle Kontextunterschiede nivellierenden Annahme, bestimmte Wörter seien per se gewalttätig. … Angst vor Wörtern zu schüren, ist dabei der falsche Weg in der Schule.“
Hier wird – wie in „Manhattan Transfer“ oder „Berlin Alexanderplatz“ – „Welt in ihrer bestürzenden Realität mit den Mitteln der Literatur, etwa erlebter Rede und innerem Monolog, unmittelbar und authentisch erfahrbar. Eine bessere Wahl für einen Deutschunterricht, der literarische Analyse mit vertiefter thematischer Diskussion verbinden will, ist kaum denkbar“, schwärmt der Göttinger Ex-Gymnasialrektor Wolfgang Schimpf in der FAZ. Denn im Literaturunterricht vor allem der Oberstufe war bisher unbestritten, dass es sich lohnt, komplexe literarische Texte zu behandeln: „Fremdheitserfahrung und zugleich Überzeitlichkeit der Sujets wurden als Teil ihrer bildenden Wirkung betrachtet, die Bewältigung von Hindernissen beim Verstehen galt als motivierender Anspruch.“ Da die Unterzeichner der Petition aber nach außerästhetischen Kriterien urteilen, plädieren sie unausgesprochen für eine neue Zensur – obwohl sie das natürlich, siehe oben, bestreiten.
Lehrer sind eigentlich unfähig
„Der Text war ja schon in anderen Bundesländern Teil des Zentralabiturs, mehrfach in Nordrhein-Westfalen und ich meine auch in Berlin. Soweit ich das verfolgt habe, gab es da keine Einwände dieser Art“, beginnt Koeppen-Archivar Eckhard Schumacher in den Stuttgarter Nachrichten seine eher vage Verteidigung. Es gehe dem Autor darum, „mit literarischen Mitteln darzustellen, wie die Situation zu dieser Zeit in München war. Da können Sie schlecht einzelne Begriffe ersetzen, die genau das transportieren, was transportiert werden soll, nämlich Sprechweisen und Haltungen. Sie können das nicht abmildern, ohne den Charakter des Textes zu entstellen.“ Er beklagt das Fehlen eines Aufsatzes, „der sich damit auseinandersetzt, dass das N-Wort dort so gehäuft auftritt und was das für die heutige Lektüre heißt“, plädiert aber zugleich für eine „eine angemessen anspruchsvolle und wohl auch enorm aufschlussreiche Auseinandersetzung mit Fragen, die 1950 relevant waren, aber nur von wenigen gestellt wurden, und die auf andere Weise heute wieder oder immer noch relevant sind.“
Gertrud Rettenmaier (SPD) vom Arbeitskreis Kolonialgeschichte der Stadt Mannheim begründete ihre Ablehnung in der Jungen Welt mit einem Kriterienkatalog an „gute“ Schullektüre. Die erfülle ihre Anforderungen, wenn in ihr erstens keine irritierenden Konflikte vorkommen, sie zweitens keine „komplexe“ Sprach- und damit Inhaltsanalyse erfordert, drittens aus der zugleich erweiterten wie verengten Perspektive der Identitätspolitik geschrieben ist und viertens auf Identifikation statt auf Auseinandersetzung mit fremden Haltungen setzt. Gänzlich fehlt jeder Hinweis auf literarische Qualität. Entsprechend schlägt sie „Romane aus der zweiten und dritten Generation eingewanderter Arbeitsmigranten“ vor. Literarisches spielt bei einem solchen Literaturunterricht keine Rolle, „die Texte sollen möglichst umstandslos fürs Empowerment jenes Teils der Schülerschaft, der eine Migrationsgeschichte vorzuweisen hat, eingesetzt werden können“, entgegnet ihr der ebenfalls linke Literaturwissenschaftler Kai Köhler. „Es dürfte sich darum drehen, ob das Buch den eigenen Erfahrungen entspricht, was man daraus über die Gesellschaft lernen kann und wie Rassismus und Sexismus zurückzudrängen sind.“
„Das Opfer hat immer Recht. Nicht der, der beleidigt, definiert, was eine Beleidigung ist, sondern der, der sich beleidigt fühlt“, dekretiert Bernhard Horwatitsch im Literaturcafe und beklagt zugleich: „Ändern lässt sich der Roman wohl nicht mehr.“ Das ist kein Witz. Dann allerdings schlägt auch er sich auf die Seite der Lektürebefürworter, da ihn ein Interview der Paderborner Literaturwissenschaftlerin Magdalena Kißling stört. „Die Lehrkräfte seien oft nicht dafür ausgebildet, Rassismus in der Literatur zu erkennen“, sagte sie dem SWR: „Es gibt zu wenig Sensibilität dafür, was die Macht von Sprache ausmacht, und da werden Erfahrungsberichte zu wenig ernst genommen.“ Außerdem seien entsprechende Konzepte für den Unterricht noch nicht ausgereift genug. Auch die Literaturwissenschaftlerin Andrea Geier beklagte im DLF, Unterrichtskonzepte für den Umgang mit rassistischer Sprache fehlten. „Ich bin der Meinung, dass jede gymnasiale Lehrkraft imstande ist, das ihren Schülern entsprechend zu vermitteln“, sagte dagegen Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne), der früher selbst Lehrer war.
„Nicht nur die Schüler, auch die Lehrer sind eigentlich unfähig. Die Lehrer verfügten nicht über die Ausbildung, Rassismus zu erkennen und die Differenz zwischen Literatur und Realität an undifferenzierte Schüler zu vermitteln“, resümiert Horwatitsch. Zu einem ähnlichen Befund kommt Harry Nutt in der Frankfurter Rundschau: „Aber erweisen sich die Versprechen der Aufklärung nicht als fatale Illusion, wenn Akademiker, die mit der Vermittlung von Kunst und Literatur betraut sind, vor einer zeitgenössischen Rezeption lieber kapitulieren, anstatt einen Ansporn darin zu sehen, das Handwerkszeug zu schärfen und es zur Geltung zu bringen? Anlass zur Sorge bereitet die anhaltende Diskussion um ‚Tauben im Gras‘ auch deshalb, weil selbst erfahrene Vertreterinnen der Literaturwissenschaft scheinbar nur bedingt Zutrauen in die Fähigkeit von jungen Menschen vor dem Abitur haben, eigene Antworten auf derlei Fragen zu finden.“
Dazu muss man wissen: Einerseits ist der Anteil von Quer- und Seiteneinsteigern in den Lehrerkollegien deutscher Schulen in den letzten zehn Jahren auf 8,6 % gestiegen – andererseits ist die Zahl der Lehramtsabsolventen mit Master- oder Staatsexamensabschluss im selben Zeitraum um mehr als zehn Prozent gesunken. Der Verdacht liegt also durchaus nahe, mit dem Lektüreverzicht auch die Lehrerschaft nicht nur zu entlasten, sondern gar einer ungewollten „falschen“ Deutung von Begriffen wie Neger und Narrativen wie Rassismus von vornherein einen Riegel vorzuschieben – falls nicht sogar Blunt ihre individuelle Unwilligkeit bis Unfähigkeit (oder Überforderung?), den Stoff zu vermitteln, im Angriffsmodus der Petentin übertünchen will. Indirekt gab sie das in einem ZDF-Interview sogar zu mit dem Satz „Ich möchte gerne, dass Frau Schopper mir konkret sagt, was sie denkt, wie ich mit diesem Buch umgehen soll.“ Theresa Schopper ist die grüne Kultusministerin des Landes.
Auch Grefrath spricht sich trotz der Würdigung der literarästhetischen Verdienste des Romans gegen die Schullektüre aus und stützt damit Horwatitschs These. Zwar fragt er sich, ob Blunts „Sensibilität nicht auch eine Verarmung nach sich zieht: den Verzicht auch der Verletzten, sich über die Empfindung hinaus auf eine durchwachsene Realität einzulassen … Machen semantische Schonzonen nicht wehrloser?“ Die Wahrnehmung schwarzer Menschen könnte auch „als Kompositionsmittel zum Ausdruck einer gesteigerten Fremdheitserfahrung“ dienen, unterstellt er und fährt dann schweres Geschütz auf: Die scheinbar obsessive Verwendung des N-Worts „zeugt gewiss auch von einer zeitgenössischen literarischen Beschränktheit“. Und letztlich sei der Roman nicht geeignet für Abiturklausuren: „Nicht wegen des N-Wortes, sondern weil der mit literarischen, mythischen und historischen Bezügen gesprenkelte und durchsetzte Text für heutige Abiturienten einfach zu komplex ist, weil auf jeder Seite ein paar Fußnoten stehen müssten.“
Nicht als Mehrheitsgesellschaft entscheiden
„Unser Thema war ‚eine Welt im Umbruch‘: Beziehungsprobleme, Scheitern, Projektionen in die Zukunft, Gewalt. Wie gehen Menschen in solchen Situationen mit anderen Menschen um? Das war unser Grund für den Doppelpack Koeppen“ mit Katharina Hackers „Die Habenichtse“, erklärt ein Stuttgarter Mitglied der Auswahlkommission, das anonym bleiben will (!), in der Schwäbischen. Dabei sollten die Lehrer zuvor „mit ihrer Klasse klären, wie mit dem N–Wort umgegangen wird. Es soll nicht laut vorgelesen und auch sonst nicht genutzt werden.“ Wie dann Textarbeit geleistet werden soll, erschließt sich auch beim mehrfachen Lesen dieses Satzes nicht. „Wer sucht, wird finden – und sich womöglich verletzt fühlen. Man muss kein Prophet sein, um zu sehen, dass die Debatte weiter Kreise ziehen wird“, so Gerrit Bartels im Tagesspiegel.
Stimmt – doch leider keine positiven. So fragen viele Autoren, ob man Schülern oder Studenten überhaupt noch Texte zumuten könne, „in denen Nazis auftreten, die wie Nazis reden, und keine Filme mehr, die Rassisten zeigen, die sich wie Rassisten benehmen“, so Geiger. Filmklassiker wie „Mississippi Burning“ oder „In the heat of the night“ müssten nach dieser verqueren Logik genauso auf den Index wie Rolf Hochhuths „Stellvertreter“ oder Brechts „Furcht und Elend der Dritten Reiches“. Aber auch eine Analyse von Goebbels Sportpalastrede im Fach Geschichte oder eine Kritik der Eugenik am Beispiel eines Textes von Francis Galton im Biologieunterricht wäre tabu. Das ist die Auslöschung von Geschichte.
Über 12.000 Unterstützer sammelten Blunt & Co. für ihr ideologisches Machwerk ein, darunter die Marburger Geschichtsdidaktikerin Christina Brüning. Sie hält dieses Buch „nicht nur aufgrund der rassistischen Sprache“ für ungeeignet, die Gruppe 47 und die Nachkriegsgesellschaft zu thematisieren, „sondern aufgrund des komplett rassistischen Weltbildes, was darin transportiert wird“, sagt sie dem NDR. „Es handelt sich hier nicht um einzelne Begrifflichkeiten, über die wir diskutieren, sondern um ein grundsätzlich von extremen Anti-Schwarzen-Rassismus, Antisemitismus und Sexismus gekennzeichnetes Buch. Es würde selbst in einer editierten Version, wo bestimmte Begrifflichkeiten geändert würden, immer noch traumatisierend für Betroffene sein, die Rassismuserfahrungen haben.“ Das ist kein Witz. Aber selbst Mangold zog diese Alternative in Betracht: „Ich finde Texte in ihrer Ursprünglichkeit immer faszinierender als glattgeschliffene Texte, aber ich habe auch nichts dagegen, wenn mehrere Versionen im Umlauf sind. Eltern können dann entscheiden, in welche Welt sie ihre Kinder entlassen wollen.“
In diesem Interview lassen sich mustergültig die inzwischen hochschulisch etablierten Narrative erkennen, mit denen die Gesellschaft als Ganzes auf Linie gebracht werden soll. Nicht nur, dass eine Universitätsprofessorin einen rund 70 Jahre alten Roman nicht aus seiner Zeit heraus begreift, sondern nachweislos mit Worthülsen wie Rassismus oder Sexismus belegt; nein, sie erwartet von ihren „Studierenden“ bei entsprechenden Texten explizit, „dass sie eine kommentierende Fußnote daran machen und sagen: ‚Aufgrund der Situation in der Quelle zitiere ich das hier, ich distanziere mich aber von dieser Sprachverwendung und so weiter.‘“ Entscheidend dann der Satz: „Wenn es Menschen gibt, die sich negativ davon betroffen fühlen, kann man doch nicht als Mehrheitsgesellschaft entscheiden, dass das okay ist, weiterhin diese Begrifflichkeiten zu verwenden.“ Ja wer denn dann? Dass sie den Pflichtlektürekanon daneben für „sehr weiß und sehr männerlastig“ hält, fällt da kaum noch ins Gewicht.
Andere Lebenserfahrungen privilegieren
Ähnlich holzhammerhaft argumentiert eine Sigrid Köhler in der taz (übrigens ihrem einzigen Text in dem Medium): „Wenn der Roman für seine Rassismuskritik jedoch im Modus der Verdichtung arbeitet, dann reproduziert er Rassismen (und Sexismen) in konzentrierter Form. Das macht ihn sehr gewalttätig“, befindet sie. Und weiter: „Wenn Menschen in unserer Gesellschaft nun sagen, dass sie sich durch die Sprache des Romans verletzt fühlen, haben sie möglicherweise Diskriminierungserfahrungen, die beim Lesen des Romans aktualisiert werden. Das nicht ernst zu nehmen, bedeutet, ihre Erfahrungen nicht ernst zu nehmen und andere Lebenserfahrungen und Lernbiografien bei der Auswahl der Pflichtlektüre zu privilegieren: solche, in denen Diskriminierung keine Rolle spielt. Das widerspricht dem Grundsatz der Chancengleichheit und nimmt in Kauf, dass sich Schüler:innen mit Diskriminierungserfahrung erst durch ihre verletzenden, vielleicht traumatischen Erfahrungen hindurcharbeiten oder sie verdrängen müssen, bevor sie sich analytisch mit dem Text auseinandersetzen können.“ Das ist auch kein Witz, sondern unterstreicht zum wiederholten Male in der Geschichte dieser Kolumne, dass das Fremde heutzutage für wichtiger gehalten wird als das Eigene.
Ein kleiner Exkurs weg von den politischen hin zu den publizistischen Indizien ist dazu an dieser Stelle passend, weshalb ihn sich der Autor stillschweigend gönnt. Die betroffene Minderheit in diesem Falle ist die Gruppe indigener Nordamerikaner, früher unbedarft Indianer genannt. „Keiner versteht, warum die Geschichte eines guten Indianers für diejenigen, die im Mittelpunkt stehen, eine schlechte Geschichte sein könnte“, beginnt Jonathan Stock im Spiegel seine Abrechnung mit der 2023er Saison der Karl-May-Festspiele. „Man macht sich in Bad Segeberg Gedanken über alles, über die Sicherheit der Schauspieler, über das Befinden der Pferde, über das Wohlergehen der Adler und den Schlaf der Fledermäuse. Nur über die Gefühle der Indigenen, den Kern des Stücks, redet man ungern. Sie sind eine Leerstelle.“ Das begründet er natürlich mit kultureller Aneignung: Die „heißt im engeren Sinne, etwas aus einer anderen, vor allem systematisch unterdrückten Kultur zu übernehmen, insbesondere ohne die Erlaubnis dafür zu haben. Und die Erlaubnis des Stammes der Apachen, einen Teil Bad Segebergs als ihr Land auszugeben, mit ihnen Werbung zu machen, ihnen Worte in den Mund zu legen, gibt es nicht“. Das ist ebenso kein Witz wie die Forderung, die Indianer zu beteiligen, wenn mit „indianischem Eigentum“ ungefragt Geld verdient wird.
Zwar zitiert Stock zustimmend Mays Winnetou: „Schaut nicht auf die Farbe der Haut, sondern auf die Farbe der Herzen.“ Das könne doch kein Rassismus sein. Und tatsächlich war Karl May mit seinem Pazifismus und seinem positiven Bild einer unterdrückten Kultur seiner Zeit voraus. „Allerdings ist das jetzt auch schon mehr als 100 Jahre her.“ Der ganze Text liest sich wie ein Manifest zur Abschaffung der Phantasie, der Kindheitsgeschichten und zugleich zur Heiligsprechung, ja geldwerten Unterstützung aller – überdies ausländischen – Minderheiten, die wir hierzulande kulturell „benutzen“, verbunden mit der Aufforderung, doch gefälligst ständig das eigene Leben in Frage zu stellen und alles Liebgewordene, das Abschaffung und Heiligsprechung noch im Weg stehen könnte, umgehend über Bord zu werfen: „Das monströse Gesellschaftsexperiment des ‚Multikulturalismus‘ bürdet die Anpassung den Alteingesessenen auf. Sie sollen ihren Horizont erweitern durch Bewunderung bis hin zum Kniefall vor dem Fremden“, bilanziert Tichy.
Da verwundert nicht, dass Ende September tatsächlich eine Diskussion zum Song Indianer (1993) der Band Pur aufkam: die Band will auf Konzerte daran und Sänger Hartmut Engler an seinem Indianerkostüm festhalten. „Es geht nicht um die Nöte der nordamerikanischen Ureinwohner, sondern um Kindheitserinnerungen, die wir uns auch nicht nehmen lassen“, erklärte er laut Der Westen vor 68.000 Fans. „Deshalb kann ich die Kritik an unserem Lied auch nicht ganz ernst nehmen. Ich hätte das Lied auch über Robin Hood oder Captain Kirk machen können. Dann würde ich mich dabei eben anders verkleiden“. Zählt man eins und eins zusammen, ist der Progress von vor einigen Jahrzehnten heute zum kulturellen Hemmnis mutiert, müssen alle Betroffenen vorher erlauben, ob sie so oder anders dargestellt werden wollen, und gilt natürlich ihr Urteil als absolut und unfehlbar – oder besser das Urteil jener, die sich als Minderheitenversteher oder ihre Interessenvertreter ausgeben. Klar, dass Koeppen aus dieser Perspektive, zumal er sich nicht mehr wehren kann, heute keine Chance hat.
Weitere Verletzungen verhindern
Das aber führt schnell zur entscheidenden Frage: Wie viele der über 300.000 betroffenen Schüler in Baden-Württemberg sind überhaupt schwarz, „fühlen“ sich bei der Lektüre des Romans „verletzt“, und welche Rolle dürfen/sollen diese Gefühle im Unterricht spielen? Die Frage steht bis heute im Raum – ohne dass sie beantwortet wurde. Selbst Blunt redete sich im ZDF mit dem Satz heraus „Schwarze Lehrerinnen und Lehrer existieren. Genauso wie schwarze Schülerinnen und Schüler.“ Hat das jemand bestritten? Entsprechend wiederholt sie Richtung Kultusministerium die Forderung der Resolution: „Aber es wird Zeit, dass man die Sicht von Betroffenen mit einbezieht. Das ist die Aufgabe des Kultusministeriums: Dafür zu sorgen, dass Unterrichtsmaterialien diskriminierungsfrei sind. … Es gibt auch andere Werke, mit denen man wahnsinnig gut Rassismus aufarbeiten kann - ohne, dass man eine Gruppe dehumanisiert. Wenn man Unterricht für alle machen möchte, dann muss man auch diese Perspektive berücksichtigen.“ Der Unterricht in Deutschland „dehumanisiert“? Das ist ebenfalls kein Witz. Zudem: Will sie die Schülerschaft spalten in „Betroffene“, denen geholfen wird, und „Nichtbetroffene“, die das Ganze als politische Bildung erfahren? Da bekommt die Prophezeiung Stefan Kisters in der Stuttgarter Zeitung, dass „soziale Nebeneffekte das aufklärerische Anliegen des Autors zu verkehren drohen“, gleich eine ganz neue Facette.
Schopper erklärte, dass Werke und ihre Inhalte stets umfassend in Fortbildungen für Hunderte von Lehrkräften vorbereitet werden. Das wäre auch bei einer Alternative für das Koeppen-Buch aus dem Jahr 1951 der Fall. „Die Pferde zu wechseln ist jetzt nicht so eine Frage, die von Montag auf Dienstag läuft“. Allein zum Koeppen-Roman seien 60 Fortbildungen für die Lehrkräfte angeboten worden, 800 hätten auch daran teilgenommen. Ein möglicher Tausch der Lektüre sei daher keine Entscheidung, „die da aus der Hüfte geschossen wird“. Auch Ministerpräsident Kretschmann will an der Pflichtlektüre festhalten. Natürlich müsse man historische Texte in ihren Kontext einordnen. „Es scheint eine notwendige Debatte zu sein, wie wir andere Zeiten beurteilen, zu denen ganz andere Maßstäbe galten. Zu welchem Verständnis von Geschichte kommen wir, wenn wir das nicht mehr machen.“ Er wolle historische Texte mit rassistischer Sprache nicht von vorneherein aus Schulen und Öffentlichkeit verbannen.
Die SPD warf Schopper prompt vor, sich wegzuducken und dem Thema auszuweichen. „Niemand verlangt, dieses Buch abzuschaffen, doch seine Auswahl als Prüfungslektüre war und ist ein Fehler“, sagte Partei- und Fraktionschef Andreas Stoch. „Es ist nicht zu verantworten, dass Menschen mit anderer Hautfarbe durch dieses Buch diskriminiert werden. Die Landesregierung muss hier handeln, um weitere Verletzungen zu verhindern“. Kein Wunder, dass Schopper einknickte und einen Kompromiss verkündete: Statt Koeppens Roman soll ab 2025 im Abitur Anna Seghers „Transit“ zur Auswahl stehen. Die Entscheidung, welches Buch gelesen wird, liegt bei den Lehrkräften vor Ort. Schopper sagte dem SWR, man habe Handlungsbedarf erkannt, „um vulnerable Gruppen im Unterricht zu schützen“. Sprache verändere sich, auch wenn dieser Begriff für Schwarze Menschen früher häufig benutzt worden sei. Ganz im Sinne der Auswahlkommission appelliert sie an die Lehrkräfte, keine diskriminierenden Worte im Unterricht zu benutzen. Schülerinnen und Schüler, die das N-Wort nicht aussprechen oder ausschreiben wollen, sollten bei der Benotung keine Nachteile erfahren, so die Kultusministerin.
Die Benotung richte sich im Abitur letztlich nach dem Vergleich zweier literarischer Werke: Hackers „Habenichtse“ mit entweder Koeppen oder Seghers. Dabei geht es um das literarische Motiv des Umbruchs. Überflüssig zu betonen, dass das den Initiatoren der Petition nicht ausreicht: Beginnt die Revolution ihre grünen Kinder zu fressen? Langfristig will das Kultusministerium mit der Landeszentrale für politische Bildung an einem Kriterienkatalog für den Umgang mit rassistischen Ausdrücken in Schulbüchern arbeiten und dafür mit der Landeszentrale für politische Bildung, dem Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung sowie Betroffenen kooperieren. So soll das Bundesnetzwerk „TANG - The African Network of Germany“ dabei sein. Dessen Vorsitzende Sylvie Nantcha freut sich: „Wir brauchen in Baden-Württemberg eine rassismusfreie Lernumgebung. Das N-Wort darf weder in Bildungseinrichtungen noch im öffentlichen Raum verwendet werden. Wir hoffen, dass Baden-Württemberg und vor allem die Landesregierung hier eine Vorreiterrolle einnehmen kann.“
Autoritäre Sprachregulative
„Erwartbar wird Wolfgang Koeppens Roman ‚Tauben im Gras‘ beim Abitur zunächst ergänzt“, ärgert sich dagegen Balzer. „Doch das ist nur der Beginn seiner Tilgung: anders ist Schoppers Plan nicht zu verstehen, an einem ‚Kriterienkatalog für die Verwendung rassistischer Sprache in Schulbüchern‘ zu arbeiten. Es gibt aber keine ‚rassistische Sprache‘, sondern bestenfalls ‚rassistische Wortwahl‘, und auch die ist kontext- und perspektivenabhängig! Autoren, ja überhaupt Menschen im Nachhinein Dinge zu unterstellen, die sie damals noch gar nicht benennen konnten, ist einfach nur unverfroren. Was Schopper hier betreibt, ist Sprachklitterung und Enttraditionalisierung in einem: Ihr Ziel ist ein wurzelloser, beliebig ideologisierbarer Schüler! Das ist einer Kultusministerin unwürdig.“
„Die intellektuelle Priesterkaste versucht, durch die Erfindung unbewältigter Vergangenheiten ein universales Schuldbewusstsein zu induzieren, das funktional äquivalent zur Erbsünde ist“, twittert Norbert Bolz Anfang Oktober. „Allerdings wird man mit dem Revidieren, Umschreiben oder Aussortieren historischer Texte irgendwann nicht mehr hinterherkommen, wenn man nicht lernt, das Wesentliche von den zeitbedingten Voraussetzungen zu trennen, unter denen es entsteht“, meint auch Kister. „Wörtlichkeit ist nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte ist das Verstehen, die Fähigkeit, den sich stets wandelnden Bedeutungen und Einstellungen verbindlichen Sinn abzutrotzen. Das zu vermitteln, wäre die Schule kein schlechter Ort – und Wolfgang Koeppen kein schlechter Gegenstand.“
Man kann es gar nicht oft genug betonen: Es stimmt eben nicht, wenn Blunt sagt, dass das N-Wort (…) „schon immer [bedeute], dass man Menschen ausgrenzt, sie entmenschlicht und ihnen die Menschenrechte abspricht.“ Der selbst schwarze Diplomat Asfa-Wossen Asserate notierte: „Bis vor dreißig Jahren gehörte im Deutschen das Wort ‚Neger‘ – abgeleitet von niger, dem lateinischen Wort für schwarz – zum allgemeinen Sprachschatz.“ („Draußen nur Kännchen: Meine deutschen Fundstücke“, Frankfurt 2010) War Irmgard Keun eine Rassistin, als sie schrieb: „Luftschlangen wurden geworfen, Menschen saßen in Staub und Rauch, Neger waren auch da, ich durfte neben einem sitzen.“, oder war Erich Kästner ein Rassist, wenn er in seinem „Zauberlehrling“ schildert: „Mitten in dem vergnügten Gewimmel der heimkehrenden Sportler standen drei Neger.“ (vgl. auch https://www.tumult-magazine.net/post/thomas-hartung-schwarz-als-rassismussurrogat oder)?
Man könnte auch profaner sagen: Es ist nicht akzeptabel, teils jahrhundertealte Wörter wie etwa Neger umzuwerten, indem man ihnen einen diskriminierenden Gehalt andichtet, den sie von Anbeginn gehabt haben sollen, um ihren Gebrauch heute sanktionieren zu können. Autoritäre Sprachregulative mit Sanktionsandrohung sind Kennzeichen totalitärer Staaten und lassen zugleich auf ein erschreckend unterkomplexes Verständnis von Sprache schließen! Dialektisch müsse es, prägte Welt-Chef Ulf Poschardt Anfang Oktober einen bemerkenswerten Satz, „zur Willkommenskultur eben auch eine Unwillkommenskultur geben für jene Migration, die am Ende das Zusammenleben aufgeklärter, liberaler, freier Bürgerinnen und Bürger gefährdet.“
Ist das Urteil wirklich salomonisch, der Vorschlag zur Güte auch ein Sieg der Liebe zur Literatur? Nutt verneint das. Anna Seghers’ „Transit“ gilt als Klassiker der deutschen Exilliteratur, ein Entwicklungsroman, in dem der Ich-Erzähler von einem umherirrenden Flüchtling zu einem Antifaschisten wird. Schon da müssten alle Alarmglocken schrillen, zumal bei Seghers klassischer Erzählhaltung, während Koeppen der Inneren Emigration und der Avantgarde zugerechnet wird. Er geht aus der Ulmer Schulaffäre beschädigt hervor, meint Nutt: „Bei aller Verstörung, die der Ulmer Fall hinsichtlich des Verständnisses von Literaturvermittlung ausgelöst hat, kann eine genauere Betrachtung der Arbeiten Koeppens Aufschluss geben über das Verhältnis von Weltwahrnehmung und Sprache in der deutschen Nachkriegsliteratur. Es wäre engstirnig und falsch, ein Gespräch über die Bezeichnung physischer Merkmale in der Literatur auf individuelle Reaktionen und kulturpolitische Befriedungsmanöver zu beschränken.“
Ohne literarische Manierismen
Bei der Literaturerklärung nun als zweiter Seite derselben Medaille spielen Schulbuchverlage eine unrühmliche Rolle. Zwar müssten sie „schulische Praxis vorwegnehmen, wenn sie ökonomisch erfolgreich sein wollen“, räumt Schimpf ein. Sie müssen also berücksichtigen, dass Lerngruppen immer heterogener werden: Durch verschiedenste Lernausgangslagen, erhebliche Spannbreiten des Vorwissens, unterschiedlichste sprachliche Voraussetzungen und interkulturelle Verständnisbarrieren, die einen zunehmend inklusiven, Differenzierung überwindenden Schulalltag prägen. Am Beispiel des Faches Deutsch beobachtet er aber eine entschiedene Trendwende, wird „Literatur zum Stichwortgeber für Problemdiskussionen“ und die „Bedeutung ästhetischer und rhetorischer Erfahrung für den Lernprozess ausgeblendet“.
Festzumachen ist das etwa an der Klett-Reihe „Zoom – näher dran!“. Während gegen „Aktualität“ als wesentliches Kriterium wenig einzuwenden ist („Die ausgewählten Bücher beschäftigen sich mit Themen, die Schülerinnen und Schüler betreffen und für die sie sich wirklich interessieren – eine gute Voraussetzung für aktive und lebhafte Unterrichtsbeteiligung“), muss sehr viel dagegen eingewendet werden, auch die sprachdidaktische Entscheidung dem Horizont der Schülerschaft anzupassen: „Die Sprache ist den Jugendlichen nahe und kommt ohne literarische Manierismen aus. So werden auch Schülerinnen und Schüler zum Lesen motiviert, die an der klassischen Deutschlektüre wenig Gefallen finden.“, heißt es. Schimpf entsetzt sich: „Hier wird konstitutive Normabweichung ästhetischer Sprache als dysfunktional abgetan, als müsse man unnötigen Ballast aus dem Weg räumen und könne die Dinge ja auch viel einfacher sagen.“
Unter den so ausgewählten Texten finden sich nicht nur Beispiele aus der Jugendliteratur, sondern auch Werke der literarischen Moderne, Ferdinand von Schirachs „Terror“ oder Juli Zehs „Corpus Delicti“, Abitur-Pflichtlektüre in allein fünf Bundesländern, letztere auch in Baden-Württemberg. Sie fügen sich nach Auffassung der Herausgeber allerdings dem sprachlichen Schlichtheitsvorbehalt nicht uneingeschränkt, und so müssen Worterklärungen helfen, die Texte zugänglich zu machen. Bei angehenden Abiturienten werden folgende Vokabeln nicht mehr als bekannt vorausgesetzt: „Nostalgie, Kathedrale, anfechten, stilllegen, oral, Bagatelle, taxieren, toxisch, obligatorisch, Parole, Kohlehydrate, Pointe“. Das ist kein Witz. „Die Herausgeber rechnen also mit Lerngruppen, die zumindest in Teilen nicht über den für Oberstufenschüler notwendigen Standardwortschatz verfügen, und das offenbar zu Recht, wie die Verkaufszahlen der Reihe zeigen“, schließt Schimpf. Während für Schüler nichtdeutscher Herkunft diese Nachhilfe kaum reichen dürfte, stehen andere dagegen ratlos vor den Erklärungen des für sie Klaren. Wenn man über das Unterrichtsniveau in solch heterogenen Lerngruppen nachdenkt, bleibt wenig Anlass zur Hoffnung; ja wird Grefraths Forderung der Nichtbehandlung von Koeppen aufgrund von Komplexität nachvollziehbar – es sei denn, man spricht den solcherart charakterisierten Schülern ihre Abiturfähigkeit von vornherein ab.
Hilfestellungen erstreckten sich früher auf Archaismen und die Klärung ungewohnter Syntax; einen Fundus an elaboriertem Wortschatz und nachvollziehbaren situativen Arrangements konnte der Lehrer voraussetzen, ebenso einen entwicklungspsychologischen Stand, der die Fähigkeit zu abstraktem Denken und differenzierter Sprachverwendung einschloss: „Sich im ästhetischen und rhetorischen Modus der ‚Weltbegegnung‘ zu bewegen bedeutete stets das Bekenntnis zu einer Anstrengungskultur, die nicht zuletzt als wesentliche Mitgift gymnasialer Bildung galt.“ Das wird nicht so bleiben, prophezeit Schimpf, da gerade der linksgrün gewollte voraussetzungslose Zugang zum Gymnasium dessen Curriculum verändert.
So werde in der Sekundarstufe I schon seit Jahren einem konsequenten Vereinfachungsprinzip gehuldigt, wie sich in erfolgreichen Textreihen wie „EinFach Deutsch“ (Westermann) oder „Einfach klassisch“ (Cornelsen) zeige: „Sie möchten Ihre Klasse an Shakespeare, Goethe oder Schiller heranführen, doch die Originaltexte sorgen bei einigen Ihrer Lernenden für Verständnisschwierigkeiten und Frustration? Mit behutsamen Kürzungen und textlichen Vereinfachungen erleichtert die Reihe ‚Einfach klassisch‘ weniger geübten Leserinnen und Lesern der Sekundarstufe I den Zugang zu bekannten Klassikern der Literatur – und steigert nachhaltig ihre Lesemotivation.“
Wie soll man lüften?
Eine solche „Zensur“ im Dienste der Schülerorientierung hält Schimpf für die gymnasiale Oberstufe nur für denkbar, wenn man ihre wissenschaftspropädeutische Zielsetzung aufgibt: „didaktisch abrüstet“ nennt er das und verweist darauf, dass schon die Zahl verbindlicher Werke, verglichen mit früheren Zeiten, sehr reduziert ist. In manchen Bundesländern kann man mit nur zwei Pflichtlektüren alle Abiturauflagen erfüllen: „Das Zentralabitur hat da um den Preis vermeintlich höherer Vergleichbarkeit zu Beliebigkeit und Niveauverlust geführt.“ Bildung, die die Adressaten weiterbringt und ermutigt, über den Tellerrand zu blicken, ist gestrichen, sie wird unsichtbar. Man könnte von konstruktivistischer Vereinfachung sprechen. Aber wer so vereinfacht, versündigt sich an der Zukunftsfähigkeit Deutschlands. Jede Gesellschaft hat die Schule, die sie verdient.
Dass solcherart verbildeten Bürgern künftig auch die simpelsten Alltagsdinge erklärt werden müssen, liegt auf der Hand. Die Zeit hat im August schon mal sommerlichen Nutzwertjournalismus betrieben, indem sie Fragen beantwortete wie „Darf man in den Badesee pinkeln“ oder „Wie soll man lüften“. Vier Wochen später ging es gar darum, ein Brot mit harter Butter zu beschmieren: „Ein Wutausbruch über Kleinigkeiten, die einen in den Wahnsinn treiben.“ Wer Wutausbrüche für Journalismus hält, muss natürlich jede Anti-Corona-Demo für einen Angriff auf den eigenen Berufsstand halten. Aber es kam noch besser: der Merkur riet, Nudeln nicht zu oft aufzuwärmen, und Bild wusste gar, wie man sich richtig den Hintern abwischt: „Wer dreimal zum Toilettenpapier greifen muss, hat was falsch gemacht“. Das ist auch kein Witz.
Das Fazit kann bitterer kaum sein. Weltsicht- statt Wertevermittlung hat sich in der Schule breit gemacht, „zumal der politische Lehrer seine Weltsicht innerhalb einer Philosophie der Alternativlosigkeit betrachtet“, schrieb Nötzel, womit sich der Rahmen schließt. Politisches werde moralisiert, um das Gegenüber erpressbar zu machen, die eigene Weltsicht glaubwürdiger erscheinen zu lassen – und so gleichzeitig die eigene Naivität zu offenbaren. Erinnert sei an Immanuel Kant: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ Die politisierte Schule trete bewusst in die Rolle besagter Leitung, erweitere damit ihren Aufgabenbereich und garantiere mithin das Verweilen der Schülerschaft in der Unmündigkeit, empört sich Nötzel. „Damit lässt sich der politische Lehrer als größter Feind der Aufklärung erkennen.“
Aber wenn sich Aufklärung zur Erreichung eigennütziger Ziele auslegen und ideologisch vereinnahmen lässt, indem eine Autorität Macht hat, einseitig aufzuklären, umfassende Erörterungen komplexer Fragen abzulehnen, sachliche Gegenmeinungen als falsch zu deklarieren und ihnen die Daseinsberechtigung abzusprechen – und wenn sich der wahrhaftige aufklärerische Zweck neu definieren lässt, nämlich vom ursprünglich eigenständigen Denken zur Indoktrination einer politischen Agenda und Moralvorstellung, dann ist leider festzustellen, dass Aufklärung heute relativ ist. „Aber durch klammheimliche Indoktrination kann ohnehin keinerlei Fortschritt initiiert werden.“, schließt Nötzel. Nicht politische Erziehung, sondern Aufklärung und Autonomie seien das Fundament aller Progressivität. Denklogisch gehe hiermit auch immer ein gewisses Maß der Vernunft und Moral einher.
„Meint man aber, dem Schüler nicht die Werkzeuge der Meinungsbildung in die Hand zu geben, sondern ihn vielmehr in eine erwünschte Richtung des Denkens zu stoßen, dann ist es nicht nur propagandistisch, es kann daraus auch nur der Erzfeind einer jeden modernen Gesellschaft wachsen: die Unmündigkeit.“ Paradoxerweise ende also der krampfhafte Versuch der Schule, die Jugend zu mehr Progressivität zu führen, in der zutiefst rückschrittlichen und zukunftsunfähigen Unmündigkeit. Machen wir es doch einfach so: Wer ohne fremde Hilfe zur Schule findet, bekommt das Abitur. Wer selbständig in den Raum gelangt, in dem die Abiturprüfung geschrieben wird, erhält mindestens eine 3. Und wer dann noch einen Neger von einem Indianer unterscheiden kann, hat schon mal die 1 vorm Komma sicher.
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Über den Autor: Thomas Hartung, geb. 1962 in Erfurt; promovierte nach seinem Lehramtsstudium in Magdeburg 1992 zur deutschen Gegenwartsliteratur und war danach als Radio- und Fernseh-Journalist in
Sachsen-Anhalt und Sachsen sowie als freiberuflicher Dozent für Medienproduktion und Medienwissenschaft an vielen Hochschulen Deutschlands tätig; der bekennende „Erzliberalkonservative“ trat als Student in die LDPD ein und 1990 aus der FDP aus: von „misslungener Einheit“ nicht nur mit Blick auf die Parteienfusion spricht er bis heute; Hartung war im April 2013 Mitbegründer der AfD Sachsen und wurde zweimal zum Landesvize gewählt. Seit März 2020 ist er Pressesprecher der AfD-Fraktion Baden-Württemberg. Hier können Sie TUMULT abonnieren. Für Einzelbestellungen klicken Sie bitte hier.