Kinderlieder dürfen als rassistisch diffamiert und Xavier Naidoo Antisemit genannt werden – der ideologische Furor wird in der Musik publizistisch und juristisch geadelt. Das ist ein schlechtes Zeichen für die Kunst und ein fatales für die Demokratie.
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Wer meinte, dass die angesichts des Eurovision Song Contest im Frühjahr konstatierten deutschen musikalischen Peinlichkeiten ein vorläufiges Ende genommen hätten, sah sich vorm Weihnachtsfest gleich doppelt enttäuscht: die damalige Befürchtung des Autors, das linke Ideologem „Gesinnung schlägt Ästhetik“ drohe die Musik irreparabel zu schädigen, erfuhr weitere bittere Bestätigung. Zum einen nämlich hob das Bundesverfassungsgericht BVerfG zwei Gerichtsurteile auf, in denen der Referentin der linksgrünen Amadeu-Stiftung Melanie Hermann verboten worden war, den Popsänger Xavier Naidoo als Antisemiten zu bezeichnen.
Die beiden Urteile bayerischer Gerichte verletzten die Frau in ihrer Meinungsfreiheit, entschied Karlsruhe, nachdem die Referentin zuvor Verfassungsbeschwerde erhoben hatte. Die Nicht-Jüdin hatte in einem Vortrag zum Thema „Reichsbürger - Verschwörungsideologien mit deutscher Spezifik“ über Naidoo vor Publikum gesagt: „Er ist Antisemit, das darf ich, glaube ich, aber gar nicht so offen sagen. Aber das ist strukturell nachweisbar“. Zwei bayerische Gerichte verboten ihr auf eine Klage Naidoos hin, ihn als Antisemiten zu bezeichnen. Dies sei ein besonders weitreichender und intensiver Eingriff in Naidoos Persönlichkeitsrecht und die Kunstfreiheit, hieß es.
Das Verfassungsgericht widersprach nun: Die Urteile der unteren Gerichte verkennen im Ergebnis die Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit im öffentlichen Meinungskampf, die bei öffentlich zur Diskussion gestellten, gesellschaftliches Interesse erregenden Beiträgen auch mit scharfen Äußerungen gebraucht werden, so das Gericht. Der vielfach preisgekrönte Künstler mit südafrikanisch-indischen Wurzeln, der schon mal von „Baron Totschild“ singt, darf nach diesem Werturteil also Antisemit genannt werden, ohne dass damit klar ist, dass er ein Antisemit ist. „Der Beschluss des Verfassungsgerichts in der Causa Naidoo ist gut und wichtig, man sollte aber nicht vergessen, dass ein Björn Höcke gefährlicher ist“, kommentiert Christian Rath in der taz.
„Man kann Naidoo demnach als Antisemiten bezeichnen mit dem gedanklichen Zusatz, dass er keiner der übelsten Sorte ist“, ärgert sich prompt Thomas Thiel in der FAZ. Ihn befremdet daneben das Argument der Verfassungsrichter, es komme auf die von der Beschwerdeführerin behauptete strukturelle Nachweisbarkeit des Antisemitismus gar nicht an, weil dies keine Tatsachenbehauptung sei. „Sondern was? Muss man nur das Wörtchen ‚strukturell‘ hinzufügen, um sich jeder Verantwortung zu entziehen?“, kritisiert Thiel. Im Internetprojekt „Netz gegen Nazis“, das von der Stiftung betrieben wurde, wurde Naidoo 2015 schon einmal von einem Autor in enge Nähe des Antisemitismus gerückt. Damals hatte sich Naidoo auch gewehrt und sich mit der Stiftung auf einen Vergleich geeinigt, den diese so umschrieb: „Überdies wurde klargestellt, dass die Amadeu Antonio Stiftung nicht Xavier Naidoo persönlich als Antisemiten darstellen wollte, dass die Stiftung aber weiter die Auffassung vertritt, dass Zeilen aus Naidoos Liedtext ‚Raus aus dem Reichstag‘ als antisemitisch interpretiert werden könnten.“ Nach wessen Maßstäben und welchem Begriffsverständnis interpretiert, ist man sofort versucht zu fragen.
Der Vorgang um den Mannheimer Sänger erbost nicht nur, weil das BVerfG kurz zuvor die Grundrechtseinschränkungen der Corona-Notbremse 2020 für grundgesetzkonform hielt und sich damit als regierungs- oder besser merkelhörig erwies, sondern umso mehr angesichts der Personalie Nemi el-Hassan - die Libanesin trat einst auf einer antisemitischen Demonstration auf und sollte Moderatorin der WDR-Sendung Quarks werden. Die deutsch-jüdische WerteInitiative kritisierte die Entscheidung – weder von ihr noch einer anderen Vertretung der Juden in Deutschland übrigens kam bislang Naidoo-Kritik. Als der WDR die Personalie tatsächlich zurückzog, solidarisierten sich dagegen hunderte Unterzeichner in einem offenen Brief mit ihr und riefen den Sender auf, die Zusammenarbeit mit der Moderatorin wieder aufzunehmen – so lasen sich vor 1989 die Ergebenheitsadressen staatstreuer Künstler an die SED. Was deutscher oder muslimischer Antisemitismus ist, darf in Deutschland nun mit zweierlei Maß gemessen werden. Das ist kein Witz.
„Tsching tschang bum“
Zum anderen rückten durch einen vielfach gedruckten dpa-Text Kinderlieder in den Focus. Der Hannoveraner Musikethnologe Nepomuk Riva behauptete unter der Schlagzeile „‚Frage der Empathie‘: Welche Kinderlieder sind rassistisch?“, dass in vielen traditionellen Liedern Racial Profiling betrieben, bestimmte deutsche Kinderlieder im schulischen Umfeld zum Mobbing und zur rassistischen Diskriminierung verwendet würden. „Die Verwendung von rassistischen Begriffen zeigt, dass nicht alle Kinder das Recht haben, in einer Gesellschaft aufzuwachsen, die frei von Diskriminierung ist“, sekundierte Gonca Temurçin im renk-magazin. Als Kind habe die Reflexionsfähigkeit dafür gefehlt, dass der Inhalt von Kinderliedern rassistische Äußerungen enthalte, Stereotype produziere und dadurch Stigma und Klischees aufrechterhalte.
Das stabilisiere eine Gesellschaft, in der keine gerechte Chancengleichheit existiert und Minderheiten verstärkt diskriminiert würden: „Als Leser:in und Zuhörer:in werden Menschen ausgeschlossen, indem in den Texten zwischen einem ‚wir‘ und ‚die‘ unterschieden wird. So wächst eine Generation auf, die bewusst oder unbewusst rassistisch ist“, erklärt Temurçin. Die Autoren der Lieder waren vielleicht nicht absichtlich Rassisten, gesteht sie immerhin ein, nutzten jedoch unsensible und rassistische Äußerungen, „die bis heute teilweise nicht aus den Kinderbuchklassikern gestrichen oder in eine inklusive und diverse Sprache geändert wurden“. Auch das ist kein Witz. Stets handelt es sich um Stücke, in denen über nichtdeutsche Kulturen oder Menschen gesungen wird, so Riva und nennt vor allem drei Beispiele.
Erstens habe Tupoka Ogette 2017 in ihrem Buch „exit RACISM“ von einer Mutter berichtet, die ihr Kind von einer Klassenfahrt abholt und erlebt, dass die Klasse und die Lehrer beim Aussteigen aus dem Bus zusammen das Lied von den „Zehn kleinen Negerlein“ singen. Obwohl ihr Sohn als einziges schwarzes Kind zu weinen beginnt, klatschen am Ende alle, und keiner der anderen Eltern sei eingeschritten. Überdies habe der Psychiater Andreas Marneros aus Gerichtsakten berichtet, dass sich 2000 in Dessau rechtsradikale Gewalttäter nachts mit einer Version dieses Liedes grölend in Stimmung brachten, bevor sie den mosambikanischen Alberto Adriano jagten und totschlugen: „Die Handlung des Liedes, in dem in jeder Strophe eine schwarze Person ums Leben kommt, setzte diese Gruppe damit in die Tat um“. Auch dieser küchenpsychologische Behaviorismus ist kein Witz, sondern, man muss es so deutlich sagen, blinder Reduktionismus, der mit der gelebten zwischenmenschlichen Wirklichkeit kaum noch etwas zu tun hat und zur wachsenden Wissenschaftsskepsis beiträgt.
Zweitens Carl Gottlieb Herings Kanon „C-a-f-f-e-e (Trink‘ nicht so viel Kaffee)“, in dem der „Muselmann“ verunglimpft würde, und drittens „Drei Chinesen mit dem Kontrabass“. Zu diesem habe die Fachstelle Kinderwelten 2016 von einer Schulklasse berichtet, in der das Lied gesungen wurde und dazu auf Anweisung der Lehrerin die Kinder mit den Fingern die Augenwinkel hochziehen sollten, um „Schlitzaugen“ zu erzeugen. Die Klage eines japanischen Vaters, dessen Sohn sich dadurch diskriminiert fühlte, wurde mit dem Argument abgelehnt, das Kind habe keinen chinesischen Hintergrund und könne sich nicht diskriminiert fühlen.
Der Text wird dabei so verändert, dass aus den drei Chinesen, für Riva nur „scheinbar“ harmlos und amüsant, „dra Chanasan“ oder „dri Chinisin“ werden. Doch das sei nicht nur bei genauerem Hinhören eine Verballhornung der für deutsche Ohren ungewöhnlichen chinesischen Sprachlaute, überdies seien es drei sich unterhaltende Ausländer, die der Polizei suspekt sind, so Riva. Mit dieser Nonsens-Sprache könne nur eine höhnische Nachahmung des Chinesischen gemeint sein, zumal das Lied in den damaligen Publikationen in direkter Umgebung von vergleichbaren Stücken abgedruckt wurde, die in außereuropäisch klingenden Phantasiesprachen verfasst waren wie „Guni guni watschambo“ oder „Tsching tschang bum“.
Denn gesungen wurde es zuerst in der Kolonialzeit: Das Lied ist ca. 1909 in Berlin entstanden, der Zeit der Kolonialausstellungen. Zunächst sei es in dem Lied um „Japanesen“ gegangen. Nachdem sich das Deutsche Reich mit Japan während des Zweiten Weltkriegs verbündet hatte, wurden daraus die drei Chinesen. Riva: „In den verschiedenen Ausgaben des Liedes wurden rassistische Diskurse angeheizt oder eben nicht angeheizt.“ Der eurozentrische und abwertende Blick auf Chinesen, der dem Lied untergründig innewohnt, zeige sich bis heute in der Bebilderung des Liedes, die die Personen exotisiert, so auf der Titelseite von „Das traditionelle Kinderliederbuch“ des Verlags Lamp und Leute (2016). Hier erscheinen drei kindliche Chinesen in folkloristischer Verkleidung, die einen Kontrabass wie eine Gitarre halten.
„wissen, wie es wirklich war“
Ihm fällt auf, dass diese Lieder alle „einen pädagogischen Anspruch haben“, so der Musikethnologe. Bei den zehn kleinen Negerlein ist es das Rückwärtszählen, bei den drei Chinesen die logopädisch motivierte Vokalveränderung. Er hält auch das rockige Mitgröl-Lied „Die Affen rasen durch den Wald“ für höchstproblematisch, zumal die Affen in Abbildungen in Liederbüchern vermenschlicht werden. Und in „Ein Mann, der sich Kolumbus nennt“ wird eine geschichtliche Erzählung eines Entdeckers übertragen, der von „Wilden“ empfangen wird, nachdem er scheinbar mühelos den amerikanischen Kontinent erobert hat. Aus Rivas Sicht kann man das Lied auch nicht mit Ironie rechtfertigen: „Dazu müsste man wissen, wie es wirklich war.“ Von Umsiedlungen, Vertreibungen und Hetzjagden auf indigene Völker sei keine Rede. Da falle es leicht zu sagen „Ja, aber die Lieder haben doch einen pädagogischen Anspruch und der Text ist doch gar nicht so wichtig. Und dafür möchte ich sensibilisieren und sagen: Nein, das ist wichtig, dass wir uns gerade mit diesen Texten auseinandersetzen“.
In dieser Diskussion erkennt er einen wesentlichen Unterschied zu Kinderbüchern, die entweder laut vor- oder von einzelnen Kindern still gelesen werden. „Lieder dagegen werden in Gruppen angehört, gesungen oder vorgetragen. Nur durch aktives Handeln innerhalb einer Gruppe werden sie zum Leben erweckt.“ Das Ziel musikalischer Praxis sei deswegen neben der inhaltlichen Vermittlung der Gesangstexte unter anderem das Erzeugen eines Gemeinschaftsgefühls, die Förderung der emotionalen Ausdrucksfähigkeit und Bildung eines empathischen Bewusstseins durch gleichzeitiges Aufeinander-Hören. Eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Thema sei einerseits notwendig, „da die Vorfälle in einer Umgebung verbleiben, in der Kindern die Tragweite ihrer Handlungen unter Umständen nicht bewusst ist.“
Dass solche Lieder jetzt unter pädagogischen Gesichtspunkten kritisch betrachtet werden müssen, läge zum anderen daran, dass sich die Zusammensetzung der deutschen Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten durch Zuzug von Menschen aus aller Welt verändert hat. Die heutigen deutschen Eltern, Lehrer oder Erzieherinnen haben in ihrer eigenen Kindheit und Jugend mit diesen Liedern womöglich noch fremde Menschen besungen, denen sie kaum auf der Straße begegneten. Seit einigen Jahren befinden sich aber vermehrt asiatische oder afrikanische Kinder in deutschen Kindergärten und Schulen.
„Es ist eine relativ überschaubare Anzahl von Liedern, die ich als kritisch betrachte“, muss Riva zwar eingestehen, konstatiert angesichts der Alltagsbeispiele allerdings, dass es nicht um tragische Einzelfälle zwischen Kindern handele, „sondern Diskriminierungen als Teil eines gesamtschulischen, wenn nicht sogar gesellschaftlichen Systems. Die betroffenen Kinder und deren Familien werden mit ihrem Widerspruch gerade im Fach Musik nicht gehört.“ Rassismus lasse sich nämlich nicht ausschließlich an bestimmten Wörtern oder Textzeilen festmachen, die möglicherweise zu ersetzen wären, befindet Riva: „Vielmehr muss diskutiert werden, ob einige Lieder aufgrund ihres offensichtlichen Potentials für diskriminierende Handlungen in Kindergarten und Schule weiterhin praktiziert werden sollten.“ Ihm sei es ein Rätsel, warum diese Lieder noch in Büchern auftauchten.
Damit sind wir stante pede beim Phänomen Cancel Culture angelangt. Lieder wie „Lustig ist das Zigeunerleben“ oder „Heiß brennt die Äquatorsonne“ seien seit einigen Jahrzehnten zu Recht aus Publikationen verschwunden und werden nicht mehr gesungen, ohne dass dadurch irgendjemand einen kulturellen Verlust zu beklagen hätte, freut sich Riva. Vor diesem Hintergrund wird die enorme Dynamik verständlich, die der von staatlichen, aber auch privaten Institutionen und Initiativen vorangetriebene Kampf gegen „Hass und Hetze“ in den letzten Jahren als Synonym für die mangelnde Demokratiefähigkeit des Bürgers erreicht hat - speist er sich doch aus der in weiten Teilen des politmedialen Systems geteilten Befürchtung, dass die große Masse der Wähler moralisch nicht hinreichend gefestigt ist. Sie bildeten einen „Nährboden“, indem sie sich von dumpfen Parolen beeinflussen und verführen ließen.
„eine Frage der Empathie“
Denn Lieder mit Texten wie „Drei Chinesen mit dem Kontrabass“ hätten sich laut Riva überlebt. „Es gibt genügend neue Lieder, die man jetzt singen könnte, die auf Freundschaft, auf internationalen Austausch, auf Inklusion abzielen“, sagt er. „Und es gibt genügend deutsche Liedermacher, die sich genau in diesem Bereich bemühen. Meiner Meinung nach besteht schlichtweg keine Notwendigkeit, diese Lieder weiter zu überliefern.“ Als die Volkswagenstiftung im Herbst eine Veranstaltung zum Thema organisierte, waren die Reaktionen im Publikum gespalten, erzählt Riva. Teilweise herrschte auch Unverständnis, warum bestimmte Lieder nicht mehr gesungen werden sollten. „Es ist eine Frage der Empathie“, meint der Wissenschaftler. Es gehe auch darum, sich in die Betroffenen hineinzuversetzen.
„Bei uns ist diskriminierungs-unsensible Sprache in Kinderliedern selbstverständlich immer ein Thema“, teilt der Carus-Musikverlag dem Tagesspiegel mit. „Wir wägen immer sehr bewusst ab, und wenn wir ein Lied wie „Drei Chinesen mit dem Kontrabass“ in eine Edition aufnehmen, dann geschieht das immer mit einer entsprechenden Einordnung beziehungsweise einem Hinweis.“ Der Ravensburger Verlag hingegen hat entschieden, die „Drei Chinesen“ komplett wegzulassen. Dies werde in Nachdrucken, Neuauflagen und neuen Liederbüchern umgesetzt. „Schon ganz junge Kinder nehmen diskriminierende Äußerungen und Handlungsweisen wahr“, sagt die Mitgründerin der Berliner Fachstelle Kinderwelten, Petra Wagner, dem Tagesspiegel. „Sie entnehmen Liedern oder Büchern Botschaften über sich und ihre Familien, etwa dass sie weniger wert oder weniger wichtig seien.“
Rosa Fava von der Amadeu Antonio Stiftung plädiert im selben Medium dafür, Diversität abzubilden - in Büchern, Spielen und Liedern: „Viele Menschen kennen das Konzept von Alltagsrassismus gar nicht, sie denken bei Rassismus gleich an Nazis oder Neo-Nazis“. Dabei könne man auch unbewusst rassistische Bilder weitertragen. Es gehe darum, das Verletzende an Anredeweisen oder Bildern zu erkennen, selbst wenn diese mit Spaß an den entsprechenden Liedern und positiven Kindheitserinnerungen verbunden seien. In einem Lied zum Alphabet könnte das „O wie Ostern“ um „Ch für Chanukka“ und „R wie Ramadan“ ergänzt werden, schlägt die Erziehungswissenschaftlerin vor. Das Lied „Alle Kinder lernen lesen“, das oft bei Einschulungen gesungen wird, enthalte rassistische Bezeichnungen für bestimmte Gruppen.
Eine Kompromisslösung könne laut Riva sein, Texte umzuschreiben, etwa die drei Chinesen mit dem Anspruch politischer Bildung zu verbinden:
"Drei Studenten mit dem Lastenrad
Fahren auf der Straße, halten ein Plakat
Da kam die Polizei „Stopp, hier ist der Staat“
Drei Studenten mit dem Lastenrad..."
Auch andere Lieder, wie der Kanon "C-A-F-F-E-E", seien nicht schwierig umzudichten. Aus „Sei du kein Muselmann, der ihn nicht missen kann“ lasse sich leicht „Sei du kein dummer Mann, der ihn nicht missen kann“ machen. So könne man dem Lied die negative Verbindung mit dem Fremden nehmen. Das ist ebenfalls kein Witz.
Temurçin dagegen holt die ganz große ideologische Keule heraus: „Wir können unser Repertoire an Liedern erweitern und Lieder einführen, die eine vorurteilsbewusste Bildung unterstützt, indem sie verschiedenartige Lebenslagen aufgreift, in der keine klassische Bilderbuchfamilie normal ist, sondern die divers sind.“ Das seien Lieder, „in denen es völlig normal ist, dass Familien mit zwei Vätern oder alleinerziehenden Frauen oder nicht-weißen Menschen als Ärzt:innen, Polizist:innen oder Prinzess:innen abgebildet werden, … die vielfältige Charaktere zeigen und reelle Identifikationsmöglichkeiten für Kinder und Erwachsene bieten … die einen realistischen Zugang zu anderen Ländern und Kulturen bieten, um Ängste und Vorurteile abzubauen und ein faires Miteinander zu konstruieren.“
Ist Empathie eine Einbahnstraße?
Der deutsch-türkische Schrifsteller Feridun Zaimoglu, der mit Büchern wie „Kanak Sprak“ bekannt geworden ist, warnt seit längerem vor einer neu aufkommenden „Ethno-Hysterie“ in Deutschland – und wird hier auf den Punkt bestätigt. Die Causa spiegelt im Nationalen, was im Europäischen parallel dazu vonstattenging: Die EU-Kommissarin für Gleichstellung Helena Dalli hatte einen – zum Glück vorerst zurückgezogenen – Leitfaden zu inklusiver Kommunikation der EU-Kommission erarbeiten lassen, in dem unter anderem der Vorschlag stand, statt Weihnachten „Ferien“ zu schreiben. Prompt forderte die feministische Linguistin Luise Pusch in der Welt die Umbenennung des Weihnachtsmanns und hatte auch gleich Vorschläge parat wie Weihnachtsfrau, Weihnachtsperson oder, in Anlehnung an Pflegekraft, Weihnachtskraft. Das ist ebenfalls kein Witz.
An der musikideologischen Episode in Deutschland, die nahezu perfekt den Vorwurf ergänzt, dass „People of Color“ in der Klassik wenig präsent sind - ob im Publikum, im Orchestergraben oder durch Kompositionen und Engagements im Spielplan - lassen sich mustergültig die Logistik und die Narrative gegenwärtiger Kulturkämpfe um die „multikulturelle Demokratie“ (Daniel Cohn-Bendit 2000) in der „ekligen, weißen Mehrheitsgesellschaft“ (Sarah-Lee Heinrich 2021, beide Grüne) beobachten. Die Logistik ist dabei immer gleich: Meist unbekannte/staats- und/oder parteifinanzierte Geisteswissenschaftler konstatieren eine Ungleichheit - in diesem Fall eine lächerliche Zahl an Kinderliedern, die sich über Fremde belustigen - interpretieren daraus Ungerechtigkeit und folglich Benachteiligung, fordern unter absurder Rabulistik, im Namen wahlweise des Guten/der Zivilgesellschaft/der Antidiskriminierung, deren Beseitigung und nennen das dann Demokratie.
Dabei sehen identitätspolitisch Bewegte ablehnende Reaktionen auf ihre Forderungen oft als Beweis dafür, dass sie richtig liegen. Interessanterweise kommen sie nie auf den naheliegenden Gedanken, dass die von ihnen gewünschten sprachlichen und kulturellen Einschränkungen/Veränderungen von den Adressaten als Angriff auf deren eigene Identität gewertet werden können - immerhin werden hier kulturelle Gewohnheiten kritisiert, die in der Kindheit/Jugend der Adressaten selbstverständlich und in der Regel ohne rassistische, exklusionistische Absicht gebraucht wurden. Wenn Dauer-Verdachtsschöpfer jetzt auch in alten Kinderliedern rassistische Diskriminierung sehen, verrät das wenig über diese Kinderlieder, aber viel über den Bewusstseinszustand derartiger Verdachtsschöpfer.
Der permanente Rassismusverdacht wird erst zur wohlfeilen Attitüde, dann zur Plattitüde. Früher hatte niemand etwa bei den kleinen Negerlein etwas Abwertendes im Sinn, höchstens Mitleid mit den darin Genannten. Die pauschale und meist anlasslose sprich kontextfreie Unterstellung, wer so singe, wolle andere Menschen abwerten, ist die eigentliche Frechheit. Von der eigenen Verletzlichkeit, die fallweise auch übertrieben sein könnte, stets und ausschließlich auf üble Absichten des Anderen zu schließen, ist absurd; dem immer nachzugeben führt nur dazu, dass sich am Ende jeder als Opfer sehen will, weil es Vorteile bringt und man anderen prima Vorschriften machen kann.
„Toleranz bedeutet eben nicht, dass allen alles recht gemacht werden muss“, erbost sich der türkischstämmige Ismail Tipi MdL (CDU) auf Tichys Einblick. „Toleranz bedeutet eben nicht, dass die eigenen Werte geopfert werden, um ‚Weltoffenheit‘ zu zeigen. Toleranz bedeutet eben nicht, dass die eigene kulturelle Identität und das historische Erbe eines Landes über Bord geworfen werden müssen, um angeblich ‚offener‘ für Einwanderer zu sein.“ Doch genau das scheint sich seit 2015 als Standard-Narrativ entwickelt zu haben: Das Fremde höher zu schätzen als das Eigene und religiöse/phänotypische Minderheiten über das als „normativ“ verstandene Mehrheitsprinzip zu stellen.
„Verdrängen dessen, was Realität ist“
Besonders perfide bei diesen Vorgängen ist die eingezogene emotional-moralische Ebene, auf der jeder Widerspruch sofort als gefühllose Fremdenfeindlichkeit hochstilisiert werden kann, die pazifiziert, ja sanktioniert werden muss. Warum wird nie gefragt, ob sich die Zuzügler einmal in die Gefühlslage der schon länger hier lebenden Einheimischen versetzen könnten? Ist Empathie eine Einbahnstraße? Und überhaupt: Wenn Deutschland so ein schlimmes, rassistisches Land ist, wie wir uns seit einigen Jahren - gerne auch aus dem Munde von hier Geborenen - anhören müssen, warum kommen dann so viele so gern zu uns? Oder reziprok: Wenn ich in ein anderes Land einwandere und mir dortige kulturelle Gepflogenheiten nicht zusagen, ist es dann opportun, deren Abschaffung zu verlangen - oder ist das Neokolonialismus? Hier wurde eine Debatte herbei publiziert, die nationale Traditionen grundlos diskreditiert und bestenfalls der Bereicherungsmär in einem „multikulturellen Einwanderungsland Deutschland“ Vorschub leistet.
Die mit ideologischer Verbohrtheit gepaarte Unlogik kommt besonders zum Tragen bei der Forderung, man möge die Kinder Lieder anderer Sprachen, Nationen und Kulturen singen lassen. Würden das nicht dieselben Verdachtsschöpfer als kulturelle Aneignung geißeln, die jetzt Rassismus wittern? Politisch korrekte Identitätspolitik ist inhärent widersprüchlich. Sie fördert Rassenbewusstsein und damit letztlich Rassismus, anstatt ihn zu marginalisieren. Geradezu bezeichnend ist da Temurçins Ansatz des „realistischen Zugangs zu anderen Ländern und Kulturen“: Es geht nicht darum, miteinander zu leben, sondern „ein faires Miteinander zu konstruieren“. Denk- statt Lebensweise: Das liest sich so entsetzlich wie es ist. Selbst Kardinalstaatssekretär Parolin erklärte zu den Feiertagen auf Vatican News, die Tendenz gehe zu einer alles umfassenden Vereinheitlichung, und beklagte zugleich ein „Verdrängen dessen, was Realität ist“.
„Es gab noch nie eine Gesellschaft, die so permissiv und repressiv zugleich war. Die sich so frei vorkam und so unfrei agierte“, erbost sich Henryk M. Broder auf achgut. Der britische Linguist Steven Pinker entwickelte die These der Euphemismus-Tretmühle: Wörter, die scheinbar pejorativ besetzt sind, werden durch andere, angeblich noch nicht besetzte Worte ausgetauscht und, wenn diese dann wiederum auch negative Konnotationen bekommen, erneut substituiert. Pinker führt den Prozess am sogenannten „N-Wort“ Neger und dessen Nachfolgebezeichnungen aus, aber auch an „Zigeuner“ ist er nachvollziehbar: Einst durch Sinti und Roma ersetzt, wurde daraus im Behördendeutsch „mobile ethnische Minderheit“, und so wird es weitergehen. Das Problem dabei: „Nicht die gebrauchten Wörter diskriminieren, sondern die Einstellungen, die damit verbunden werden“, erklärt Bernd Steinbrink auf achgut.
„Wer die Wörter verändert, ändert nicht die Einstellungen, die bleiben und sich mit den neuen Begriffen verbinden, sondern er bewirkt, dass die neu eingeführten Wörter auch in der Tretmühle verschwinden und wiederum ersetzt werden“, meint er. Wie bereits pandemisch praktiziert – man muss jetzt nachweisen, gesund zu sein – soll uns auch im semantischen Alltag die Umkehr der Beweislast aufgenötigt werden. Aber wenn man jemandem Sexismus oder gar Rassismus zur Last legt, muss man ihm schon Absicht nachweisen: Es genügt nicht, zu behaupten, etwas wirke rassistisch auf andere, denn dann beträten wir das Territorium der Willkür. Für zunehmend mehr Menschen sind wir da bereits angelangt.
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Über den Autor:
Thomas Hartung, geb. 1962 in Erfurt; promovierte nach seinem Lehramtsstudium in Magdeburg 1992 zur deutschen Gegenwartsliteratur und war danach als Radio- und Fernseh-Journalist in Sachsen-Anhalt und Sachsen sowie als freiberuflicher Dozent für Medienproduktion und Medienwissenschaft an vielen Hochschulen Deutschlands tätig; der bekennende „Erzliberalkonservative“ trat als Student in die LDPD ein und 1990 aus der FDP aus: von „misslungener Einheit“ nicht nur mit Blick auf die Parteienfusion spricht er bis heute; Hartung war im April 2013 Mitbegründer der AfD Sachsen und wurde zweimal zum Landesvize gewählt. Seit März 2020 ist er Pressesprecher der AfD-Fraktion Baden-Württemberg.
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Über den Autor: Thomas Hartung, geb. 1962 in Erfurt; promovierte nach seinem Lehramtsstudium in Magdeburg 1992 zur deutschen Gegenwartsliteratur und war danach als Radio- und Fernseh-Journalist in Sachsen-Anhalt und Sachsen sowie als freiberuflicher Dozent für Medienproduktion und Medienwissenschaft an vielen Hochschulen Deutschlands tätig; der bekennende „Erzliberalkonservative“ trat als Student in die LDPD ein und 1990 aus der FDP aus: von „misslungener Einheit“ nicht nur mit Blick auf die Parteienfusion spricht er bis heute; Hartung war im April 2013 Mitbegründer der AfD Sachsen und wurde zweimal zum Landesvize gewählt. Seit März 2020 ist er Pressesprecher der AfD-Fraktion Baden-Württemberg.