Springer-Chef Matthias Döpfner wurde nach der „investigativen“ Enthüllung privater SMS zum „bösen Buben“. Das war ein gleich dreifaches Armutszeugnis: Für Journalismus, Demokratie und – den Osten.
Man könnte eine Kausalität annehmen: Nur wenige Tage nach dem Erscheinen von Dirk Oschmanns geharnischter Einheitsabrechnung „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“, in der der Autor die These des „Othering“ vertritt, wonach der Westen den Osten als negative Projektionsfläche braucht, um sich selbst in einem besseren Licht darzustellen, macht die ZEIT private Chat- und SMS-Nachrichten von Springer-Chef (u.a. BILD, WELT) Matthias Döpfner öffentlich. In einer davon war zu lesen: „Die ossis sind entweder Kommunisten oder faschisten. Dazwischen tun sie es nicht. Eklig.“ [sic!] Und in einer anderen: „Die ossis werden nie Demokraten. Vielleicht sollte man aus der ehemaligen ddr eine Agrar und Produktions Zone mit Einheitslohn machen.“ [sic!]
„Der Chefmanipulator zeigt als Ossi-Hasser sein wahres Gesicht“, giftet Maritta Adam-Tkalec in der BZ. „Dass wir zwölf Millionen Ostdeutsche als ‚Dikatursozialisierte‘ mit einem Generalschaden versehen sind, hat uns der ehemalige ‚Ostbeauftrage‘ der Bundesregierung Marco Wanderwitz (CDU) schon vor den Latz geknallt. Mathias Döpfner präsentiert die schärfere Variante. Ist das schon Volksverhetzung?“. Politisch klare Kante gegen Döpfner zeigten zunächst nur Ost-MdB wie Wanderwitz-Nachfolger Carsten Schneider (SPD), Paula Piechotta (Grüne), Tino Chrupalla (AfD) und Sepp Müller (CDU), dazu Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke), Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD), seine Partei- und Amtskollegin Manuela Schwesig aus Mecklenburg-Vorpommern und Ex-Linken-Chef Gregor Gysi. Ramelow warf bei t-online Döpfner vor, die deutsche Einheit geistig nie vollzogen zu haben – jede seiner Zeilen lebe den Geist der Spaltung.
Schneider wiederum hat den „Rauswurf“ von Döpfner gefordert. Nach den Veröffentlichungen sei er „an der Spitze eines Verlages mit dieser publizistischen Macht und mit Blick auf die wichtige Rolle der Medien für unsere Demokratie endgültig nicht mehr tragbar“, sagte er ebenfalls t-online. Die Spaltung des Landes dürfe kein Geschäftsmodell sein. „Die Medien sollten ein realistisches Bild unserer Gesellschaft zeichnen.“ Dazu gehöre auch die Perspektive der Ostdeutschen. „Die Gedanken von Herrn Döpfner zeigen nicht nur Verachtung für diese Perspektive und die Menschen, sondern auch für die Demokratie.“ Eine Civey-Umfrage im Auftrag von t-online zeigte prompt: 62 Prozent der mehr als 5.000 repräsentativ Befragten stimmten der Frage, ob Döpfner von der Verlagsspitze zurücktreten sollte, zu. Eine Umfrage, die zur Berichterstattung passt – ein Schelm, der Arges dabei denkt.
„Vielleicht könnte ja mal die eine oder andere vertrauenswürdige Person dem MdB Schneider erklären, dass es ihn einen feuchten Kehricht angeht, worüber sich Unternehmer im privaten Austausch mit Mitarbeitern unterhalten, solange sie nicht den deutschen Rechtsstaat in Frage stellen und reichsbürgermäßig auf dessen Abschaffung hinarbeiten“, wettert dagegen Cicero-Chef Alexander Marguier. In dieselbe Kerbe schlägt auch Peter Grimm auf achgut: „Vielleicht sollte Genosse Schneider sich erinnern, dass zwar eine freie Presse, wann immer ihr es beliebt, den Rücktritt einer Regierung, eines Regierungsmitglieds oder Regierungsbeauftragten fordern kann, aber es sich in einer freiheitlichen Gesellschaft eigentlich nicht gehört, wenn Regierungsmitglieder oder -beauftragte ihrerseits laut den Kopf eines wichtigen Verlagschefs fordern. Das lässt vielleicht an der Verwurzelung des Ost-Beauftragten in der Demokratie leichte Zweifel aufkommen.“
Aus den Äußerungen des millionenschweren Managers wird ein Weltbild deutlich, dem man teilweise zustimmen könnte: Trump super, intolerante Muslime „Gesocks“, Angela Merkel der „Sargnagel der Demokratie“, die Politik in der Corona-Pandemie „Wahnsinn“ („Das ist das Ende der Marktwirtschaft. Und der Anfang von 33“), der Klimawandel harmlos oder eher begrüßenswert und die gesellschaftliche Elite dekadent. Döpfners Haltungen sind diskriminierend, abschätzig und peinlich; besonders neu oder überraschend sind sie aber nicht, meint Mandy Tröger in der BZ und spricht von der „dunklen Seite der Macht.“ Genau hier beginnt die Vielschichtigkeit, ja Multispektralität eines Weltbilds, das sich nicht nur eindeutiger konservativer (?) Zuordnung verweigert, sondern genau dadurch vielfache Interpretationen dessen zulässt, was in diesem Land aktuell als „Journalismus“, als „politmedialer Komplex“ und vor allem als Ost-West-Spaltung diskutiert wird.
Der Pressefreiheit einen Bärendienst erwiesen
Zunächst zu den mindestens zwei Perspektiven auf den mit diesem Text praktizierten ZEIT-Journa-lismus. Von einem abschreckenden Beispiel, das illustriere, „wie Journalisten durch einen Mangel an Distanz und Distanziertheit zum Spielball ihrer Informanten werden können“, schrieb Marc Felix Serrao in der NZZ. Er beklagte eine „kontextlose Einseitigkeit“: „Was ist ernst gemeint, was ironisch? Wo schaukeln sich zwei im Gespräch gegenseitig hoch? Wo macht einer versteckte Anspielungen, die nur das Gegenüber versteht? Wo übertreiben beide…?“ Daneben verweist er auf die „Einweg-Kommunikation“, da unbekannt bleibe, was in den Nachrichten steht, die Döpfner selbst erhalten hat. Unsaubere Recherche, Leerstellen und Intransparenz kritisiert auch Jesko von Dohna in der BZ.
Özge İnan gibt sich im Freitag fassungslos, weil sich jeder über Döpfners Herabwürdigung der Ossis aufregt, aber keiner über die der Gesocks-Muslime. Darf man sie so bezeichnen? „Natürlich darf man das“, erklärt Jan Fleischhauer im Focus. „Es ist ungerecht, es ist unmanierlich, aber solange man damit nicht an die Öffentlichkeit tritt, liegt kein Grund für irgendwas vor. Wie heißt es so schön: Die Gedanken sind frei. Private Mails und Textnachrichten sind es auch.“ So rechtfertigt sich der Beschuldigte auch selbst: „mir gelingt es nicht immer, private Nachrichten im korrekten Ton zu schreiben“, schreibt er und folgt damit mutmaßlich einer Aufforderung seiner BILD-Chefin Marion Horn: „Eigentlich ist eine Entschuldigung fällig, Chef!“ „Stimmt“, hieß es von Döpfner: „Ich bitte um Entschuldigung dafür, dass ich mit meinen Worten viele gekränkt, verunsichert oder verletzt habe […] Wenn ich wütend oder sehr froh bin, wird mein Handy zum Blitzableiter. Ich schicke dann manchmal Menschen, denen ich sehr vertraue, Worte, die ‚ins Unreine‘ gesagt oder getippt sind. Weil ich davon ausgehe, dass der Empfänger weiß, wie es gemeint ist. Und weil ich mir nicht vorstellen kann oder will, dass jemand diese Worte an Dritte weitergibt.“ Dies sei nun aber geschehen. Daraus könne man viele Lehren ziehen. Das habe er getan. „Eine davon bleibt die Idee von der ‚Gedankenfreiheit‘“.
Die Veröffentlichung von privater Kommunikation ist jetzt also „Journalismus“. Kein Wunder, dass immer mehr Menschen das Gefühl haben, sie dürften ihre Meinung nicht mehr sagen und nur noch hinter vorgehaltener Hand sprechen. Man kann sich getrost fragen, was wohl Marion Gräfin Dönhoff und Helmut Schmidt von dieser Aktion ihres Blatts gegenüber einem Wettbewerber gehalten hätten. Debatte und Diskurs ja, aber doch nicht die Nutzung von – vermutlich – aus dem Zusammenhang gerissenen und auf jeden Fall nicht autorisierten einzelnen Sätzen. Man muss die Medienprodukte aus dem Hause Springer nicht mögen. Was aber für ein Niedergang der ZEIT, deren Journalisten den ehernen Grundsatz „Check-Gegencheck-Recheck“ mal kurz „vergaßen“ und stattdessen die Zitate so auswählten und sortierten, „dass das Bild eines überheblichen, ressentimentgeladenen, eruptiv und diktatorisch agierenden Medienmoguls entstand, der vom reaktionären Umsturz träumt“, meint Thorsten Hinz in der Jungen Freiheit.
Andererseits ist logisch zu folgern: Hätte er pro Klimahysterie und contra Trump geschrieben, gäbe es keinen Skandal. Das sahen auch mehrere konservative Redakteure so. „Es geht darum, das einzige Medienhaus in Deutschland, das verlässlich gegen Rot-Grün antritt, in die Knie zu zwingen“, befindet Fleischhauer. Springer sei die letzte publizistische Macht, die in der Lage und vor allem auch willens ist, der Bundesregierung geschlossen das Leben schwer zu machen: „Glaubt jemand ernsthaft, die Süddeutsche würde einen Abgrund von ‚Menschenverachtung‘ beklagen, wenn Döpfner seine Redaktionen angehalten hätte, entschiedener gegen den Klimawandel anzuschreiben und statt der FDP Annalena Baerbock zu unterstützen?“.
Man mag diese Meinungen teilen oder man mag sie als unzutreffend erachten, meint Joachim Steinhöfel auf achgut. Skandalös sei daran gar nichts, töricht allerdings die Wortwahl. Gerade öffentlich-rechtlichen Medien würden die Gelegenheit wittern, „einen weltanschaulichen Gegenspieler zu erlegen. Dumm, dass Döpfner ihnen das Material dazu liefert.“ Es gehe also darum, „einen Verlag und dessen Chef, der mit erheblicher Reichweite bürgerlich-liberale Positionen vertritt, zur Strecke zu bringen.“ Also ist eigentlich der Skandal, dass jemand Meinungen vertritt, die nicht links der Mitte sind, und daher publiziert werden, resümiert auch Marguier. Seine politische Haltung entspreche offenbar nicht dem linken Klimaschutz- und Coronamaßnahmen-Medienmainstream, „der hierzulande zum Comment einer Branche gehört, in der zunehmend Journalismus mit Aktivismus verwechselt wird. Hätte der Springer-Boss sich vor der Parteizentrale der FDP aus Protest gegen E-Fuels auf dem Boden festgeklebt, die Herzen der Anstandswauwaus in den Redaktionen wären ihm zugeflogen.“
Private Nachrichten aber gehen niemanden etwas an. Sie hätten die wirklichen privaten Nachrichten ja nicht veröffentlicht, rechtfertigen sich die ZEIT-Redakteure. Also alles über Familie und Frauen hat man draußen gelassen, soll das wohl heißen, ärgert sich Fleischhauer. „Andere machen aus den SMS-Fetzen umstandslos Dienstanweisungen an einen Untergebenen, womit es sich um quasi offiziöse Verlautbarungen handelt. Wenn es darum geht, eine Begründung zu liefern, warum man auch Sachen veröffentlicht, die man eigentlich nicht veröffentlichen sollte, waren Medien schon immer kreativ. Im Zweifel erfindet man irgendein ‚überragendes öffentliches Interesse‘, dem man dient.“ Damit aber ließe sich alles rechtfertigen, denn jeder definiert „öffentliches Interesse“ anders. „Ich finde, dass die ZEIT da der Pressefreiheit einen Bärendienst erwiesen hat“, bilanziert Nora Bossong im DLF. Sie empfinde solche Veröffentlichungen schon durch Privatpersonen problematisch, „aber doppelt problematisch, wenn es Journalisten sind“. Bei der ZEIT und anderen Verlagen gäbe es schließlich auch offene „politische Agenda-Themen“ und „Aktivismus“.
Die Causa erhielt am letzten Aprilwochenende eine zusätzliche medienethische Volte, „mit der sicher nur Schreiber von Groschenromanen gerechnet haben“, befand Tobias Singer in MEEDIA. Kurz vor dem ZEIT-Text hatte der Springer-Verlag erklärt, dass er Ex-BILD-Chef Julian Reichelt juristisch belangen will: Wegen zivilrechtlicher und strafrechtlicher Fragen. Einer der Vorwürfe lautet, dass Reichelt Verlagsinterna weitergereicht haben soll. Nun wurde aber bekannt, woher Springer diese Information erhalten haben könnte. Der Chef des Berliner Verlags (u.a. BZ) Holger Friedrich bekannte im Manager Magazin, dass sich Reichelt selbst an ihn gewandt haben und unaufgefordert Chatnachrichten geschickt haben. Das Material habe Friedrich nicht weitergegeben, aber die Information darüber. Es sei eine Frage professioneller Standards, „den anderen darüber zu informieren, dass mir unsaubere Informationen zur Verfügung gestellt wurden“. Es handele sich quasi um einen Freundschaftsdienst unter Verlegern: „Vielleicht hofft er auch selbst einfach nur darauf, dass die alte Fehde nicht mehr auflebt“. Schließlich hatte die Welt enthüllt, dass Friedrich einst Stasi-IM war.
„Der Freundschaftsdienst unter Verlegern ist ein Bärendienst für den Journalismus“, zürnt Singer. Denn Informanten waren und sind eine wesentliche Säule für unabhängigen Investigativjournalismus. Die gerät ins Wanken, wenn man sich nicht mehr an das gerichtsfeste Grundprinzip des Quellenschutzes hält. Dabei spielt es keine Rolle, wer die Quelle der Information und wer das Ziel ist. Holger Friedrich hat mit seinem Vorgehen mit diesem Grundprinzip gebrochen. „Ich möchte nicht in einer Welt leben, in der private Informationen von exponierten Personen öffentlich werden“, meint der Verleger gegenüber dem Manager Magazin. „Friedrich hat das Recht auf diese Meinung, aber das bedeutet nicht, dass er Informanten das Recht auf Geheimhaltung nehmen darf, auch wenn sie Julian Reichelt heißen“, meint Singer. „Welcher Informant kann jetzt noch einem Medium vertrauen, dessen Verlagschef eigenmächtig Informanten preisgibt und das Ganze auch noch genüsslich in einem Interview breit tritt.“
Aus Gründen der Schaulust von Interesse
Das Problem „politmedialer Komplex“ ist komplexer. Ist Ex-BILD-Chef Julian Reichelt die Hauptquelle, wie viele Kommentatoren mutmaßen? Der Verdacht liegt nahe; denn Döpfner war ihm gegenüber mehr Bewunderer als Befehlsgeber: Reichelt sei eben wirklich der „letzte und einzige Journalist in Deutschland, der noch mutig gegen den neuen DDR Obrigkeits-Staat aufbegehrt“, hieß es in einer Nachricht. Fast alle anderen seien zu „Propaganda Assistenten“ geworden. Springer hatte die Kurznachricht als Ironie eingeordnet. Und es hieß auch: „Beruflich hast du mich getäuscht und mir Schaden zugefügt wie niemand sonst. Persönlich und was unsere gemeinsame Weltsicht betrifft fühle ich mich Dir nach wie vor sehr verbunden.“
Dass der nach einem angeblichen MeToo-Skandal Geschasste diese Schmach nicht auf sich beruhen lassen will, wäre menschlich verständlich. Aber: wäre das noch seriöser Journalismus, wenn man sich als Helfershelfer an einer Fehde zweier politisch einflussreicher Figuren beteiligt? „Die Posse zeigt“, meint von Dohna, „wie sich der Journalismus in Deutschland verändert hat. Herrschte zwischen den großen, immer noch sehr hierarchisch und inhabergeführten Verlagen bis vor einigen Jahren noch eine Art Burgfrieden, treten Konflikte heute im Angesicht des wirtschaftlichen Bedeutungsverlustes durch sinkende Auflagen offener zu Tage.“ Ähnlich argumentierte auch Hinz.
Allerdings lag der „Skandal“ eben auch vor der Mitteilung, dass Springer die siebenstellige Abfindungssumme zurückfordert, die Reichelt im Zuge der Auflösung seines Arbeitsverhältnisses erhalten hatte. Zudem macht der Konzern eine hohe Vertragsstrafe geltend, weil in dem damaligen Abwicklungsvertrag Pflichten geregelt waren, von denen Reichelt mehrere missachtet haben soll, darunter, wie eben beschrieben, Vereinbarungen zur Vertraulichkeit sowie die Herausgabe und Löschung interner Daten. Und: Der Skandal lag prompt zwei Wochen vor der pompös inszenierten Romanpremiere „Noch wach“ des überschätzten Performers Benjamin von Stuckrad-Barre, einem Porträt zweier Machtmenschen, die lange den Springer-Verlag prägten, ohne deren Namen preiszugeben. Und: Zeitgleich wurde der Podcast „Boys Club – Macht & Missbrauch bei Axel Springer“ gestartet, produziert von der Firma des ZDF-Giftzwergs Jan Böhmermann – eine „strategisch geplante Aktion, um dem Springer-Verlag zu schaden“, behauptet Hinz.
Trotz aller PR-Verschwörungstheorien fällt auf, dass der Springer-Chef in Chats an einen Kreis von Spitzenkräften des Konzerns schreibt – offenbar in der Annahme, dort auf Gleichgesinnte zu treffen – und auf deren Zustimmung. Das ist ein Blick in den Abgrund. Offenbar fand Reichelt oder jemand aus dem Kreis so „eklig“, was er las, dass er oder sie glaubte, die Öffentlichkeit sollte das wissen. Mit welcher Absicht auch immer – über die bis dato nur gemutmaßt werden kann. Die Schmähung „Propaganda Assistenten“ versuchte Döpfner später kleinzureden. Nicht wenige Kollegen im Verlegerverband BDZV aber hatten die Nase vom Springer-Chef im vergangenen Jahr dermaßen voll, dass er mit dem Rückzug als Verbandspräsident dem offenen Aufstand zuvorkam. Jetzt fragen sich seine Leute, ob sie selbst vom eigenen Chef so gesehen werden – Propagandawerkzeuge für dessen Ziele.
So hat Döpfner den Veröffentlichungen zufolge vor der letzten Bundestagswahl von der BILD-Chefredaktion verlangt: „Please Stärke die FDP“ [sic!]. Das geht an die Ehre eines jeden Journalisten, egal, wo er politisch steht. Es ist auch ein klarer Verstoß gegen den bindenden Verhaltenskodex, den das Unternehmen sich selbst gegeben hat: „Die Geschäftsleitung überlässt journalistische Entscheidungen allein der Redaktion und mischt sich in diese nicht ein“, heißt es da unmissverständlich. Gegenüber Table.Media sagte aber FDP-Vizechef Wolfgang Kubicki: „Abgesehen davon, dass ich es für rechtlich grenzwertig und für moralisch problematisch halte, private Nachrichten pressetechnisch zu verwerten, sehe ich keinen Handlungsbedarf in der Causa Döpfner“. Die Berichterstattung der ZEIT sei womöglich „aus Gründen der Schaulust von Interesse“, vermutete Kubicki. „Politisch ist sie es nicht.“ Aha. Nicht die Botschaft ist das Problem, sondern der Modus ihrer Verbreitung? Dass es Kubicki gefallen haben dürfte, seine Partei medial gepusht zu sehen, liegt auf der Hand. Nun stelle man sich aber vor, Nämliches würde von, sagen wir, Tichys Einblick und der AfD bekannt. Das Echo kann man sich denken.
Schwer zu glauben, dass Döpfner in seiner Berufsgruppe allein steht mit diesem Verhältnis zu Demokratie, Politik oder Ostdeutschland oder auch dem Streben, seine politischen Überzeugungen mittels der beherrschten Medien durchzusetzen. Entsprechend erscheint widerlich, wie ein elitärer Club von Reichen und Mächtigen ohne demokratische Legitimation in den westlichen Demokratien jeden Anstand verliert und aktiv Politik und Gesellschaft vor sich her treibt. Sie erklärt das Leben und Wirken aller Anderen zum Grundrauschen. Man beginnt spätestens hier zu verstehen, warum gerade Menschen im Osten solcher anmaßenden Arroganz mit ihrem Wahlverhalten etwas entgegensetzen. Daher auch die seit PEGIDA anhaltenden „Lügenpresse“-Vorwürfe. Denn „nicht die eine große Lüge, sondern die vielen kleinen Risse im Gebälk der seriösen Presse bereiten Unbehagen“, bilanzierte Michael Angele 2022 im Freitag mehrere Journalismus-Studien u.a. der Otto-Brenner-Stiftung, schreibt von „Frontenbildung“ und konstatiert eine „desintegrative Wirkung der Medien auf die Gesellschaft“.
„Journalismus hat nicht mehr die Aufklärungsautorität wie vor 20 Jahren“, bekundete schon 2016 Michael Haller. So lautet eine Perspektive auf die „Transformationskrise der Öffentlichkeit“, in diesem Falle die des Tübinger Medienwissenschaftlers Bernhard Pörksen 2021 im DLF: „Das Netzzeitalter ist das Zeitalter der gefühlten Repräsentationskrise. Man kann nun eigene Bestätigungsmilieus gründen, sich in eine spezielle Wirklichkeit hineingoogeln, und dann die Frage stellen: Woran liegt das eigentlich, dass das, was ich denke und das, was scheinbar die vielen anderen denken, dass das gar nicht in der Heimatzeitung meines Vertrauens oder in der großen Qualitätszeitung aus München oder aus Frankfurt vorkommt. Die spezielle Form der Netzöffentlichkeit, die den Einzelnen zum Regisseur seiner Welterfahrung macht, erlaubt auch eine Entfesselung des Bestätigungsdenkens.“
Für die andere Perspektive dekretierte Klaus-Jürgen Gadamer auf Tichys Einblick: „Die Grundlage einer freiheitlichen Gesellschaft ist der Verzicht auf einen absoluten Wahrheitsanspruch und eine grundsätzliche Offenheit gegenüber anderen Ansichten. Durch ihre uniforme Moral und fehlende Meinungsvielfalt sind Medien zur zentralen Macht der Gesellschaft geworden. Die veröffentlichte Meinung ist die öffentliche Meinung.“ Wie ist der Widerspruch zwischen gesellschaftsverantwortlicher Veröffentlichung und individueller Bestätigung publizistisch zu definieren? Es scheint, dass sich Journalisten erst gar nicht um neutrale Standpunkte bemühen, sondern Meinung, Fakten und Emotionen vermischen: „Es geht gegenüber Andersdenkenden dann weniger um deren Argumente, sondern meist um gefühlsbeladene Abwertungen wie ‚Querdenker‘, ‚Fremden‘- und ‚Islamfeinde‘, ‚Leugner‘, ‚Rechte‘, ‚Rassisten‘, ‚Antidemokraten‘, ‚Delegitimierer‘ und dergleichen mehr.“
Das bedeutet: Ja, wir sind heute auf einem Weg zu einer ideologisch bestimmten Gesellschaft. Wurde früher das Verstehenwollen einer gegnerischen Position oder Person positiv gewertet, wird heute der Akt des Verstehenwollens verhöhnt und als „Versteher“ abgewertet, wie etwa jüngst die ARD-Sendung „Russland, Putin und wir Ostdeutschen“ zeigte. Wer das falsche verstehen will, macht sich verdächtig. „Die Vorstellung, dass Andere vernünftige Gründe für ihre Haltung haben können – vielleicht sogar bessere als sie –, scheint so undenkbar wie die Vorstellung der Zeugen Jehovas, die Bibel könne sich irren“, meint Gadamer. Das ist im Grundsatz totalitär.
Daneben sei an den 8. Oktober 2008 erinnert, als die Bundeskanzlerin die bedeutenden Chefredakteure der (Leit-)Medien eingeladen hatte – zur Zeit des Ausbruchs der großen Finanzkrise: „Man findet keinen ausführlichen Bericht über dieses Treffen, der veröffentlicht worden wäre und überhaupt nur wenige Erwähnungen in den Archiven, nur hin und wieder einen Nebensatz, eine knappe Bemerkung. An einer Stelle liest man in dürren Worten, worum es an diesem Abend im Kanzleramt ging: Merkel bat die Journalisten, zurückhaltend über die Krise zu berichten und keine Panik zu schüren”, schrieb Jacob Augstein in der Süddeutschen. Und weiter: „Merkel hat zu den Journalisten geredet, als seien sie Mitarbeiter einer Abteilung im Kanzleramt. Und wenn man es sich recht überlegt, kommt man zu dem Schluss: Ja, so sehen sich mehr und mehr Journalisten auch selbst. Und wenn das so weitergeht, dann braucht man in der Tat keine Journalisten mehr…“
Weiter sei erinnert an die Medienbeteiligungen der SPD an über 70 Zeitungen. Auch sei an diverse personelle Rochaden erinnert, bspw. die von Ulrich Wilhelm, der 2011 Intendant des Bayerischen Rundfunks wurde, nachdem er zwischen 2005 und 2010 Chef des Bundespresseamts und Regierungssprecher der Bundesregierung für das Kabinett Merkel I und Merkel II war; natürlich auch die von ZDF-Nachrichtenmann Steffen Seibert, der Wilhelms Nachfolger als Regierungssprecher wurde; und erst recht die Ablösung des Chefredakteurs der „Wirtschaftswoche“, Roland Tichy, durch die im politischen System aufgestiegene Miriam Meckel, die u.a. Staatssekretärin für Medien und Regierungssprecherin in Nordrhein-Westfalen unter SPD-Ministerpräsident Wolfgang Clement und zuletzt Professorin war. Und nicht zuletzt erinnert sei an Pörksens Forderungen nach einer bundesweiten Subventionierung von Zeitungs-Zustellungskosten und einer Zeitungsfinanzierung durch politikferne Stiftungen; ersteren wollte die Bundesregierung ja umsetzen. Und nun Döpfner. Mehr muss man zum politmedialen Komplex dieses Landes nicht wissen.
Nicht fit for Office
Doch Döpfners Selbstherrlichkeit kommt nicht von ungefähr. Friede Springer, die Witwe des Verlegers Axel Springer, hatte ihrem Ziehsohn 2012 erst ein kleineres Aktienpaket des Verlages geschenkt hat und dann, 2019, noch mal Aktien im Wert von rund einer Milliarde Euro. Zudem übertrug die Verlegerwitwe ihr Stimmrecht an Döpfner. Springer, das ist seitdem Döpfner. Sein Aufstieg zum allmächtigen Verleger verlief atemberaubend. Im Eilschritt aus der Mittelschicht zum Millionär, dann zum Milliardär. Sein Vater war Architekt, die Mutter Hausfrau, trotzdem leistete sich der junge Döpfner ein Studium, das weder nach den Eltern kam noch nach großem Geld klang: Musikwissenschaft, Germanistik und Theaterwissenschaft. Seinen Ehrgeiz konnte man freilich schon damals erahnen. Döpfner promovierte, wenn offenbar auch nicht ganz sauber. Eine Untersuchungskommission der Uni Frankfurt stellte später „wissenschaftliches Fehlverhalten“ fest, es ging etwa um nicht gekennzeichnete Zitate.
Nach dem Studium schrieb Döpfner als Musikkritiker über alles von Michael Jackson bis James Last. Sich selbst charakterisierte er später als „eine Mischung aus Musikkritiker und Teppichhändler“. 1992 wechselte er ins Verlagsgeschäft, ging zu Gruner + Jahr, als Assistent des Vorstandschefs – ein Karriere-Turbo. 1994 wurde Döpfner Chefredakteur der Wochenzeitung Wochenpost, die er vergeigte, 1996 Chefredakteur der Hamburger Morgenpost. 1998 wechselte er zu Springer, arbeitete zuerst als Chefredakteur der Welt und stieg innerhalb von rund vier Jahren dort zum Vorstandschef des Konzerns auf. Das dürfte auch damit zu tun haben, dass die Springer-Witwe Friede ihn über alle Maßen bewundert. 2020 sagte sie: „Ich bin sehr froh und dankbar, dass ich mit Mathias meinen Nachfolger gefunden habe.“
Als Duz-Freundin wird so auch ihre – ebenfalls in den Chats publizierte – Aufforderung klar, Merkel bei Corona zu „helfen“. Ist diese Aufforderung, „sich der Regierung als publizistische Schützenhilfe anzudienen, nicht viel problematischer als ein Verleger, der sich kritisch über den Mainstream und die Eliten des Landes äußert und Merkel für eine Fehlbesetzung hält?“, schimpft prompt Serrao. Selbst sein Tadel der Wahlergebnisse in Ostdeutschland dürfte von vielen geteilt werden. „Wenn fast 30 Prozent in manchen ostdeutschen Bundesländern die AfD wählen, kann von einer gefestigten Demokratie nicht unbedingt die Rede sein“, erdreistet sich Martin Kessler in der RP Döpfner beizuspringen. „Als ehemaliger Musikkritiker und Freund der schönen Künste hätte er seine Worte sicher feiner artikulieren können. Ein Monster ist er aber nicht. Auch wenn das manche jetzt gerne aus ihm machen würden.“
Von der Wortwahl „Monster“ abgesehen: Eine „gefestigte Demokratie“ besteht offenbar aus den Parteien und Koalitionen, die bis zur Gründung der AfD vorherrschten – wird sie erweitert, ist sie per se brüchig. Das ist kein Witz, sondern entspricht exakt Döpfners Denken: „Ich bin seit Jahrzehnten enttäuscht und besorgt, dass nicht wenige Wähler in den neuen Bundesländern von ganz links nach ganz rechts geschwenkt sind. Der Erfolg der AfD beunruhigt mich“, hieß es in seiner Entschuldigung. Auf gut deutsch: Statt „ossi“ hätte er besser „AfD“ geschrieben. Anderswo heißt so etwas gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit vulgo Rassismus. „Jemand, der eine solche digitale Spur hinterlässt, ist nicht fit for Office“, folgert MEEDIA-Chef Winterbauer.
Immer vor den Ossis gewarnt
Das Problem „Ostdeutschland“ nun ist bei weitem das komplexeste. Die bei aller fehlerhaften Orthographie konsequente Kleinschreibung „ossi“, aber auch „ddr“ zeugt zunächst nicht nur von einer arroganten Semantik, sondern gemahnt an das einstige Gänsefüßchenland „DDR“, von dem BILD bis zur Wende schrieb. „Meine Mutter hat mich immer vor den Ossis gewarnt“, plaudert Döpfner in den Chats über seine Sozialisation. „Von Kaiser Wilhelm zu hitler zu honnecker ohne zwischendurch us reeduction genossen zu haben. Das führt in direkter Linie zu AFD.“ [sic!] Re-Education „genießen“? Das ist nicht nur eins, das sind gleich zwei starke Stücke: Ein historisches und ein politisches.
Die DDR als „altes Deutschland im Winterschlaf“? Unter einer Prämisse könnte man zustimmen: Die Bevölkerung auf dem Gebiet der ehemaligen BRD wurde nahezu vollständig amerikanisiert, die Bevölkerung auf dem Gebiet der ehemaligen DDR jedoch weder amerikanisiert – noch russifiziert. Die westdeutsche Kultur ist bis heute durchdrungen von der amerikanischen Lebensweise und einem amerikanisierten Weltbild: Wie Menschen miteinander umgehen, welchen Werten sie nacheifern, wie sie sich in der Öffentlichkeit darstellen…, dazu die Rolle des Geldes oder der Frau. Doch wichtiger als all dies hat der Westdeutsche – durch „us reeduction“ aufgezwungen! – ein extrem minderwertiges Selbstbild als Abkömmling eines offenbar ekelhaften Auswurfs des Menschengeschlechts. Seine Existenz ist stark von Scham geprägt.
Ganz anders der Ostdeutsche. Die DDR-Führung war insofern gewitzt, als sie die Trennung der beiden deutschen Staaten sofort ideologisch mit der Legende aufwertete, der Westen wäre jener Staat, der voll mit Altnazis sei, während in der DDR quasi ausschließlich die Nachkommen antifaschistischer Widerstandskämpfer lebten – was den Kindern vom ersten Schultag an beigebracht wurde. So unzutreffend dies gewesen sein mag, verhinderte es doch, dass sich im Osten diese kollektive Scham einnisten konnte. Die DDR-Bürger und deren Nachkommen bilden deshalb, erstens, einen außergewöhnlichen Menschenschlag: nie russifiziert, weil Russland aufgrund seiner wirtschaftlichen Schwäche nichts hatte, was es der DDR kulturell überstülpen konnte, so dass beide Staaten kulturell mindestens auf Augenhöhe standen. Hinzu kam ein emotional-pathetischer, teils heroischer Grundgestus vieler kultureller Hervorbringungen und Artefakte, der vergleich- und anschließbar war.
Zweitens ist der DDR-Bürger aufgrund der ausbleibenden 68er-Erschütterung nie so nachträglich nazifiziert worden wie der Westdeutsche: Er musste nie ein sinnstiftendes Substitut für die „Schande der Vergangenheit” suchen, weil diese Schande an ihm vorübergezogen war, ohne ihn wirklich zu treffen. Insofern wehrt er sich gegen das, was er seit Jahren nur als Umerziehung empfinden kann. Und drittens gab es in der DDR trotz SED und Stasi eine klare Trennung von Staat und Privatleben, in dem der DDR-Bürger so frei wie jedes andere freie Individuum auch war. Von Unterstützern, stillen Befürwortern, Indifferenten, heimlichen bis hin zu offenen Gegnern des DDR-Systems gab es alle Schattierungen, die jeder im Privaten nach persönlichem Gusto pflegen konnte.
Es ist deshalb höchst unvollständig, ja falsch, wenn die Menschen der DDR immer als unterjochte, mental gebrandmarkte Insassen eines 108.000 qkm großen Gefängnisses dargestellt werden, wie das etwa Arnulf Baring schon 1991 tat. Er schrieb, das SED-Regime habe die Menschen im Osten „verzwergt, ihre Erziehung, ihre Ausbildung verhunzt“, weswegen viele von ihnen „nicht weiter verwendbar“ seien. Heute fiele das ebenfalls mindestens unter „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“. Ihnen war die Andersartigkeit der DDR durchaus klar, und die meisten akzeptierten es mit dem Langmut desjenigen, der weiß, dass es im Leben erstens anders kommt als man meistens zweitens denkt. „In der DDR hatte die herrschende Klasse zwar die politische, aber nie die kulturelle Hegemonie“, musste auch Gadamer 2022 eingestehen.
Vergilbte Hoffnungen und vertrocknete Träume
Insofern kann man schließen: Es war die DDR, in der das Deutsche Reich, das alte Deutschland, fortbestand. Nicht in der Staatsform, und nicht im Wirtschaftssystem. Aber als Wertekanon in den Köpfen und Herzen der Menschen, weil sowohl ein kultureller Umbruch seitens des Ostens ausgeblieben war als auch der Staatsideologie der Sprung hinunter ins Private nicht gelang und das Volk kaum erreichte. Die Einmauerung des Landes hatte den ungeahnten Nebeneffekt, die eigentlichen positiven Werte Deutschlands zu konservieren – selbst bei allem zwischenmenschlich Enttäuschenden. Während im Westen jede Weitergabe eines tradierten „Deutschlandbilds“ an die nächste Generation durch die 68er Propaganda förmlich pervertiert wurde, führten die sozialen Reste des alten Deutschen Reiches im Osten über 40 Jahre ein im Westen unbemerktes Schattendasein: Als vermeintlich sozialistischer Staat getarnt, der jedoch bei Lichte besehen unglaublich wertkonservativ war, sich am humboldtschen Bildungsideal orientierte, in manchen Sektoren zur Weltspitze gehörte und in vielem ein gerechterer und wirklich sozialer Staat war. All das ging seit 1989 verloren, und dieser Verlustschmerz nimmt für viele umso stärker zu, je länger sie ihn zu ertragen gezwungen sind.
Denn Helmut Kohl hatte einst versprochen: „Durch eine gemeinsame Anstrengung wird es uns gelingen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Sachsen und Thüringen schon bald wieder in blühende Landschaften zu verwandeln, in denen es sich zu leben und zu arbeiten lohnt.“ Das Gegenteil ist eingetreten, die allseits plakativ gefeierten „schönen Innenstädte“ wie rings um den Dresdner Neumarkt sind inzwischen die einzigen blühenden Landschaften inmitten einer Wüste vergilbter Hoffnungen und vertrockneter Träume. In keinem anderen Land ist die Wirtschaft so stark zusammengebrochen wie nach Währungsunion und Wiedervereinigung: Sie verlor 27 Prozent gegenüber dem Wert von vor 1989. Nur in Bosnien und Herzegowina findet man ähnliche Zahlen – allerdings nach dem Jugoslawienkrieg. Für viele bleibt die Bitternis einer ebenso endgültigen wie ungewollten Ankunft in einem System, das nichts von dem einlöste, was ihnen vor 33 Jahren verheißen wurde. Einem System, dass über Nacht vom gelernten Klassenfeind zum erhofften Menschenfreund werden sollte und vor dessen unkritischer Übernahme nicht nur Intellektuelle wie Heiner Müller, Stefan Heym oder Christoph Hein vergeblich warnten.
So schrieb Hein 1991 in einem damals unbeachteten und heute vergessenen Spiegel-Text: „Wir sind keine zurückgebliebenen Hinterwäldler, die die Welt nicht kennen, keine albernen, unaufgeklärten Toren, die vor einer anderen Hautfarbe erschrecken. Im Gegenteil. Wir sind gebildet, kulturvoll, wir haben viel gelernt und kennen die Welt. … Nein, wir sind nicht ausländerfeindlich. Wir haben keine Angst vor eurer Hautfarbe oder Religion, und eure uns fremde Kultur achten wir und interessieren uns sehr für sie. Aber wir hassen die Armut. Wir haben eine panische Angst davor, zu verarmen. Dabei ist es uns völlig gleichgültig, ob jener Mensch mit diesem Bazillus ein Ausländer oder ein Deutscher ist. … Aber wir sind gegen alle, die uns bedrohen, und wir müssen sie verurteilen, wenn wir nicht uns selbst gefährden wollen.“
Einem System also, das im Gegensatz zu den „Selbstwirksamkeitserfahrungen“ der Wende jetzt zunehmende Abstiegs- und Verlustängste, Entheimatungsgefühle – der Begriff stammt von Wolfgang Thierse (SPD!) – und Unkontrollierbarkeitsempfindungen verantwortet, Enttäuschung auf Enttäuschung häuft und damit die Prophezeiung, dass es niemandem schlechter, aber vielen besser gehen sollte, mehr und mehr ad absurdum führt. Selbst Helmut Kohl gab gegenüber dem Historiker Fritz Stern auf die Frage, welche Fehler er bei der Wiedervereinigung gemacht habe, nach einigem Zögern zu, dass er es versäumt habe, offen darüber zu reden, dass nicht alles in der DDR falsch war und im Westen nicht alles richtig. „Dass der Osten zusammengebrochen ist, bedeutet doch nicht, dass der Westen Recht hat“, befand Elke Heidenreich schon 1993 auf der Leipziger Buchmesse. Es gab keinen Aufbau Ost, nur einen Umbau Ost als Nachbau West, war auch Sachsens Ex-Grünenchefin Antje Hermenau gezwungen einzugestehen. Wer hatte einen Nachbau West eigentlich gewollt?
Ist die „beleidigte Entschlossenheit“ der Ex-DDR-Bürger, die einmal die ZEIT konstatierte, nichts weiter als die „trotzige Entschlossenheit“, die nicht erfolgte oberflächliche Einheit, die in Wirklichkeit PR-Sprech des „Beitritts“ war, nun zu Ende zu bringen als Wiederaneignung von Entwendetem, ja als Sehnsucht, im eigenen Land endlich anzukommen? Als bei einem Ostermarsch auf dem Münchner Odeonsplatz kürzlich Fahnen mit Friedenstauben gezeigt wurden – dem symbolträchtigen Vogel war in der DDR ein Friedenslied gewidmet, das jeder Grundschüler lernte – entblödete sich die Süddeutsche nicht der Schlagzeile „Friedensbewegung rückt nach rechts“. Bei so viel mit Unkenntnis gepaarter Unverschämtheit soll einem nicht der Kragen platzen dürfen?
Wir sind ein Volk
Zugleich begann sich herauszustellen, dass die den Westdeutschen aufgezwungene Nazi-Scham eine zwar sehr subtile, doch äußerst wirkungsmächtige Art der Meinungsunterdrückung ist. Diese Last bedrückt den Westdeutschen hundertmal stärker als den Ostdeutschen. Obendrein ist auch die Radikalisierung im Geiste der 68er im Westen unvergleichlich viel stärker ausgeprägt. Beides lässt den Westdeutschen lieber schweigen, weil er zu viel zu verlieren hat – was eine neue Facette der Behauptung beigesellt, dass man im Westen alles sagen dürfe, während im Osten keine Meinungsfreiheit geherrscht hätte. Der Ostdeutsche ist sicher kein „besserer“ Mensch, aber in jedem Fall ein „informierterer“, der zudem über eine unverstelltere Wahrnehmung verfügt. Er hat den unschätzbaren Vorteil, bereits die Diktatur gekannt zu haben, bevor er in den Westen eintrat.
Dieser für Westdeutsche nicht einzuholende Erfahrungsvorsprung macht sich jetzt bemerkbar als Wachheit, die den aufoktroyierten Umbau Deutschlands verweigert: „Wir sind ein Volk“, hieß es 1990. Dies bezog sich auf die geteilte deutsche Kulturnation, die in einem gemeinsamen Staat erneut zusammengeführt wurde. Derzeit ist dagegen nicht einmal mehr klar, was dieses „Volk“ auszeichnet, ja was Deutschland in identitärer Hinsicht bedeutet. In Politik und Medien ist eine ausgeprägte Distanzierung vom Eigenen zu beobachten. Bis in die Staatsspitze ist diese Haltung verbreitet: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat mehrfach demonstriert, dass er mit dem Ursprung des deutschen Nationalstaates, dem 18. Januar 1871, vor allem negative Gefühle verbindet.
„Unter kulturzerstörenden Leitwerten wie Vielfalt, Gleichheit und grenzenloser Selbstbestimmung soll von oben herab eine Willensnation ohne Willen und ohne Nation entstehen, in der sich die utopistische Sehnsucht der Eliten von der Lebensrealität der meisten Deutschen längst entkoppelt hat … Regierung und Leitmedien wollen das erstrebte Gesellschaftsmodell rhetorisch vorwegnehmen, in der Hoffnung, dass es irgendwann keine Nachfragen mehr gibt“, konstatiert Martin Wagner in der Jungen Freiheit.
Dass der Ostdeutsche aufgrund ausgefallener Russifizierung weit mehr als der Westdeutsche Deutscher sein und bleiben durfte, verstärkt diese Verweigerung, die neben jener des Umbaus eben auch eine der umbauenden Elite ist. Kaum verwunderlich, dass laut Edelman-Trust-Barometer 2022 fast zwei Drittel der Befragten glauben, dass „gesellschaftliche Anführer“ absichtlich versuchen, „Menschen in die Irre zu führen, indem sie Dinge sagen, von denen sie wissen, dass sie falsch oder große Übertreibungen sind“. Übrig bleibt eine verzweifelte und zurückgelassene Durchschnittsbevölkerung mit dem „Wutbürgerossi“ in der Mitte, der prompt zum Demokratie-, ja Staatsfeind erklärt wird. Doch „die Verknüpfung von Dissens mit der extremen Rechten hat zwei delegitimierende Logiken“, schreibt Eszter Kováts auf Socialeurope: „Jedes Gegenargument kommt von einem moralisch falschen Ort und jede angebliche Gesellschaftskritik ist in Wirklichkeit eine Verschwörungstheorie.“ Wie aber soll ein Staat überleben, wenn niemand mehr an ihn glaubt?
Konsequent zu Ende gedacht heißt das aber auch: Wenn bereits 40 Jahre aufgezwungene Sowjet-Herrschaft im Ostteil des Landes ausreichen sollen, dessen Bevölkerung quasi mental unintegrierbar für „die Demokratie“ zu machen – wie schlecht muss es dann erst um die Integrationsfähigkeit von Menschen bestellt sein, die aus gänzlich anderen Kulturkreisen zu uns kommen? Für Sachsens Ex-Ausländerbeauftragten Martin Gillo (CDU) war das schon vor zehn Jahren kein Problem: Je nach Schätzung wird es in Deutschland in spätestens 200 Jahren mehr Muslime als Deutsche geben, weshalb er flugs nach Herkunfts- und „Zukunftsdeutschen“ unterscheidet. Damit spricht zunächst ein Westpolitiker dem Bürger mit Ostherkunft seine Zukunft ab und stützt damit Oschmanns aktuellen Befund im DLF: „Im seit 1989 herrschenden Diskurs heißt ‚Osten’ vor allem Hässlichkeit, Dummheit, Faulheit, heißt Rassismus, Chauvinismus, Rechtsextremismus und Armut, heißt also Scheitern auf ganzer Linie.“
Damit wird aber auch ein Kulturkampf um die Deutungshoheit hinsichtlich dessen befördert, was die eigene Identität ausmacht. So erklärte Angela Merkel im Februar 2017: „Das Volk ist jeder, der in diesem Lande lebt.“ Steinmeier leistete der Regierung Schützenhilfe, als er in seiner Rede zum 3. Oktober 2020 die historische Dimension der Wiedervereinigung von 1990 in ein neues Licht zu rücken versuchte: „,Wir sind das Volk‘, das heißt doch: ,Wir alle sind das Volk‘.“ Inhaltlich sind solche Behauptungen natürlich unsinnig, befindet Wagner. Richtig ist der folgende Satz: „Wir alle sind die Bevölkerung.“ Der Begriff „Volk“ müsse dagegen als eigenständige Kategorie aufgefasst werden. So zählt nicht jeder Mensch in Deutschland zum im Grundgesetz definierten Staatsvolk. Ebenso wenig gehört jeder, der in der Bundesrepublik lebt, zum historisch und kulturell verstandenen Volk. „Sichtbar wird bei solchen und ähnlichen Aussagen der politischen Führung eines: Je nebulöser die Inhalte des Begriffs ‚Volk‘ im Verständnis der Menschen werden, desto einfacher lassen sie sich neu konstruieren“, so Wagner. Und dieser Konstruktion verweigert sich der Ostdeutsche auch.
Vergangenheit nicht einfach „wegdemokratisieren“
Christoph Dieckmann hat diese Verweigerung schon vor 25 Jahren in der ZEIT prophezeit: „Bar aller Psychologie schien der Westen zu glauben, der DDR-Anschluss nach Artikel 23 des Grundgesetzes habe nicht nur das Verfahren der Vereinigung geregelt, sondern auch ihr Wesen. Die Ostdeutschen wollten die Einheit, also würde Einheit werden. Sie hatten ihre Eigenstaatlichkeit beendet, also war da nichts Eigenes. Sie wünschten parlamentarische Demokratie, also würden sie Demokraten sein… Aber wer heiratet, vermählt sich nicht mit der eigenen Geschichte, sondern mit einer fremden. Das gilt für Aschenputtel und Prinz.“
Man kann die Vergangenheit nicht einfach „wegdemokratisieren“, kommentierte eine Sächsin auf Facebook. „Die Ossiphobie geht um“, konstatiert Anne Hähnig prompt auf der Titelseite der ZEIT und stützt zugleich Oschmanns These: „Die Wiedervereinigung ist zwar bis heute ein echtes Wunder der Weltgeschichte, aber eben doch nicht in allen Details gelungen. Sich auf den Osten einzuschießen heißt vor allem: ihn als Projektionsfläche für das zu benutzen, wovor man Angst hat. So ließen sich die kindischen Kollektivbeschimpfungen erklären. Sie zeigen vor allem eines: Viele Westler haben ihr Überlegenheitsgefühl zwar verloren, aber ihre Arroganz noch nicht überwunden.“
„Mathias Döpfner hat sich die Ächtung der Gesellschaft verdient“, dekretiert Adam-Tkalec und erkennt einen „widerlichen, starken Unterstrom, der sich durch 33 Jahre Wiedervereinigung zieht.“ Das Ansinnen, „aus der ehemaligen DDR eine Agrar- und Produktionszone mit Einheitslohn zu machen“ weise in die dunkelsten Ecken der Zivilisation: Reservate, Apartheit-Zonen, Gulags, Gettos – wo Minderwertige, Arbeitsvölker, Aussätzige vom guten Teil der Bevölkerung ferngehalten werden und sich noch etwas nützlich machen. „Wer wie Döpfner solche Gedanken in sich trägt, reagiert auch allergisch auf Ossis, die es wagen, außerhalb des zugewiesenen Reservats erfolgreich zu sein.“
Doch erinnern wir uns: 2019 gab es am Dresdner Institut für Kulturstudien eine mehrtägige Tagung, die sich mit „Aspekte[n] der ‚Kolonisierung‘ in Ostdeutschland seit 1990“ beschäftigt hat, gefördert von der Bundeszentrale für politische Bildung und dem Land Sachsen. Der Osten als Kolonie des Westens scheint nicht nur für Döpfner eine angenehme und zutreffende These zu sein: „Das mit der Agrar- und Produktionszone hat ja fast geklappt, fast ein Fünftel der Beschäftigten in den östlichen Bundesländern erhält Mindestlohn“, kommentiert Sabine Rennefanz im Spiegel – unter der Schlagzeile „Zoni forever“.
Was bleibt? Ein „Füllhorn an Ungeheuerlichkeiten“, wie Meedia-Chef Winterbauer schrieb? Vielleicht. Ein „Verlegerverhalten nach Gutsherrenart“, wie der Hamburger Medienwissenschaftler Volker Lilienthal auf t-online bilanzierte? Sicher. „Ein Verleger, dem persönliche Freiheit wichtig ist“, wie Sebastian Sasse in der Tagespost behauptet? Bestimmt. Valerie Schönian verbindet die Diskussion im MDR mit einer Hoffnung: „Was ich mir wünsche, ist, dass die Aussagen nicht dafür sorgen, dass sich jetzt alle zwei, drei Tage lang empören, wie so etwas stattfinden kann und dann aber so tun, als ob es dieses Denken nicht mehr geben würde.“ Denn in Döpfner sieht sie keinen Einzelfall, sondern Symptom eines größeren strukturellen Problems – welches Problems, verschweigt sie.
Aber einerlei – Kampagnen sind immer problematisch. Zum einen hat die Süddeutsche der Causa bis jetzt schon über zehn Artikel gewidmet, darunter ein Streiflicht, eine Seite drei, einen Kommentar und zwei Medienaufmacher – Nutzen unklar. Und zum anderen hat bspw. der Spiegel auf 36 Titeln die Zeile „Kohl kaputt“ variiert, bis es dann, nach 16 Jahren, endlich geschafft war. Es kommt halt auf die Perspektive an, mit der man jede Aussage Döpfners so oder so interpretieren kann. Sachsens Linksfraktion hat zumindest eine Ost-Debatte auf die Tagesordnung der ersten Maisitzung im Dresdner Landtag setzen lassen.
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Über den Autor: Thomas Hartung, geb. 1962 in Erfurt; promovierte nach seinem Lehramtsstudium in Magdeburg 1992 zur deutschen Gegenwartsliteratur und war danach als Radio- und Fernseh-Journalist in
Sachsen-Anhalt und Sachsen sowie als freiberuflicher Dozent für Medienproduktion und Medienwissenschaft an vielen Hochschulen Deutschlands tätig; der bekennende „Erzliberalkonservative“ trat als Student in die LDPD ein und 1990 aus der FDP aus: von „misslungener Einheit“ nicht nur mit Blick auf die Parteienfusion spricht er bis heute; Hartung war im April 2013 Mitbegründer der AfD Sachsen und wurde zweimal zum Landesvize gewählt. Seit März 2020 ist er Pressesprecher der AfD-Fraktion Baden-Württemberg. Hier können Sie TUMULT abonnieren. Für Einzelbestellungen klicken Sie bitte hier.