Wissenschaftler verpflichten den Kabarettisten Dieter Nuhr als PR-Botschafter – und löschen seine Botschaft nach einem Shitstorm. Erkenntnis verkommt zu linkspolitischer Religion.
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Für die einen ist es ein kasuistischer Zufall: am selben Tag, da Tilo Sarrazin endgültig aus der SPD ausgeschlossen wurde, löschte die Deutsche Forschungsgemeinschaft DFG eine Audio-Botschaft des Kabarettisten Dieter Nuhr aus dem Netz. Für die anderen indizieren beide Tilgungen dagegen eine Methode, die sich eine fürchterliche Zukunft zu bauen anschickt: Macht und Moral ersetzen inzwischen nicht nur die Diskussion, sondern die Erkenntnis als solche - „Das ist ein Vorspiel nur, dort wo man Beiträge löscht, löscht man auch am Ende Menschen“, entsetzt sich ein User auf der Kommentarspalte der Welt. Als Treiber dieser Entwicklung erscheinen nicht nur Meinungskombinate wie ARD und ZDF, sondern auch Verbände und Vereine wie eben die DFG, die gleich einem „Wächterrat“ wie im islamischen Iran agieren.
Dabei hatte sie den Gescholtenen anfangs noch via Twitter verteidigt „Jeder, dessen Statement inhaltlich ,#fürdasWissen‘ steht“, sei willkommen. Unter diesem Hashtag will sie anlässlich ihres 100. Gründungsjubiläums nach eigenen Angaben „ihre Überzeugung für eine freie und erkenntnisgeleitete Forschung in die Gesellschaft tragen“. Eine ganze Reihe Prominente unterstützen die Kampagne mit ca. halbminütigen Statements, darunter der Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar oder die SPD-Bundestagsabgeordnete Yasmin Fahimi. Mit den Worten „Wissenschaft weiß nicht alles - ist aber die einzige vernünftige Wissensbasis, die wir haben. Deshalb ist sie so wichtig!“ teaste die DFG Nuhrs Kommentar an, der seit 21. Juli im Netz stand.
Der Text lautet: „Wissen bedeutet nicht, dass man sich zu 100% sicher ist, sondern dass man über genügend Fakten verfügt, um eine begründete Meinung zu haben. Weil viele Menschen beleidigt sind, wenn Wissenschaftler ihre Meinung ändern: Nein, nein! Das ist normal! Wissenschaft ist gerade, DASS sich die Meinung ändert, wenn sich die Faktenlage ändert. Wissenschaft ist nämlich keine Heilslehre, keine Religion, die absolute Wahrheiten verkündet. Und wer ständig ruft „Folgt der Wissenschaft!“, hat das offensichtlich nicht begriffen. Wissenschaft weiß nicht alles, ist aber die einzige vernünftige Wissensbasis, die wir haben. Deshalb ist sie so wichtig.“
Das identifizierte nun die Fridays für Future-Bewegung F4F ganz klar als Angriff auf sich, ist doch eine der penetrantesten Botschaften von Aktivistin Greta Thunberg „Follow the Science“. Zudem hat Nuhr schon zuvor gegen die „16-jährige Dilettantin mit Sendungsbewusstsein“ (Roger Letsch) gestichelt und zu Weihnachten 2019 den Satz „Sie ist nicht der Messias“ geprägt. Legendär wurde auch seine Bemerkung „Wir lassen uns von absurden Grenzwerten schikanieren, die auf Hochrechnungen beruhen, die auf Schätzungen basieren, denen Vermutungen zu Grunde liegen, die auf Spekulationen fußen“. Prompt begann das „Netzwerk postapokalyptischer Spinner“ (Letsch) digital zu toben. Der Kabarettist sei „Wissenschaftsleugner“, befand etwa Dietrich Herrmann von der grünen Böll-Stiftung in Sachsen. Vergleiche mit Verschwörungstheoretiker Ken Jebsen wurden gezogen und die Entscheidung der DFG für Nuhr als Werbeträger wahlweise als „hochgradig peinlich“, „unerträglich“, „unterirdisch“ oder „unfassbarer Fehlgriff“ bezeichnet.
„Was kommt als Nächstes?“, fragte ein Twitter-Nutzer. „Clemens Tönnies gibt einen Vortrag über den arbeitnehmerfreundlichen Arbeitsplatz?“ Eine „Annamore“ twitterte tatsächlich „Dieter Nuhr ist wirklich Abfall“ und versah den Kommentar mit dem Hinweis „Ich arbeite in der Wissenschaft“; ein „Arthur ß“ verstieg sich gar zu „Kloakenclown“. Das ist kein Witz. Mit Felix Hütten fand es in der Süddeutschen Zeitung sogar ein Mainstream-Journalist „grotesk“, dass „ausgerechnet jemand, der Klimaverharmlosern ordentlich Munition liefert, als Botschafter für die DFG den Wert von Spitzenforschung betonen soll“. Denn „Nuhrs Thesen sind, Moment, kurz nachdenken, ah, genau, ausgerechnet von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ausführlich widerlegt.“
Auch das ist kein Witz. „An die Stelle der Neugier ist das Urteil getreten, an die Stelle der Frage die Verdächtigung“, konstatiert Jan Fleischhauer im Focus, „der Gesinnungsjäger hasst Uneindeutigkeit.“ Lebte der Journalismus früher von Komplexitätsreduktion, die der mehrfache Pulitzer-Preisträger Walter Lippmann schon 1922 für selbstverständlich erachtete, so lebt er heute von Ambiguitätsreduktion. Allerdings muss man der Uneindeutigkeit halber auch erwähnen, dass Nuhr ebenso gegen rechts austeilt. „Aber wer die AfD für eine normale Partei hält, hält auch Corona für einen sanften Schnupfen“, scherzte er noch im März in der ARD und bezeichnete Björn Höcke als „Bonsai-Hitler“.
„Das ängstigt mich“
Nach nur wenigen Stunden war die DFG sturmreif geschossen: „Liebe Community, wir nehmen die Kritik, die vielen Kommentare und Hinweise ernst“, hieß es. Nuhrs Beitrag sei daher von der Kampagnenwebsite entfernt worden, weil es „weniger um Nuhrs Statement“ gegangen sei, „sondern um die wissenschaftliche Haltung…, für die er an anderer Stelle steht“, teilte die DFG der Welt mit. Während die Kritiker die Entscheidung lobten, meldeten sich nun andere Nutzer zu Wort, die „Zensur“ witterten oder es als „bedenklich“ empfanden, dass die DFG dem Druck nachgegeben habe.
Im Nachhinein bereute die DFG gar ihre Entscheidung, Nuhr für ein Statement eingeladen zu haben: Man sei „offensichtlich zu einer falschen Gesamteinschätzung seiner Haltung gegenüber Wissenschaft und der Bedeutung wissenschaftlicher Erkenntnisse gekommen“. „Der Grund war nicht, dass er etwas Falsches gesagt hatte, sondern dass Nuhr überhaupt dort zu Wort kam“, empörte sich Klaus Kelle auf Denken erwünscht. „Unser Problem in Deutschland sind nicht linksgrüne Ideologen, nicht der Shitstorm der linken Sprachpolizei, sondern die Feigheit und der Opportunismus des Bürgertums, das sich anpasst, statt ein ‚Stopp‘-Schild aufzustellen und dem Meinungsterror entgegenzutreten“, ärgert sich Rainer Zitelmann auf Tichys Einblick.
„Egal, was ich sage, sobald es im Netz öffentlich wird, gibt es organisierten Hass“, meint Nuhr. „Das ist offensichtlich eine im Netzwerk organisierte Kampagne, die mich als an der Meinungsbildung Beteiligten diskreditieren soll. Es ist offensichtlich, dass dies ideologisch begründet ist, da ich mich politisch kritisch gegenüber Linken und Rechten äußere und mich immer wieder gegen jeden politischen Extremismus wende.“ Das würde seiner Meinung nach sowohl „linke wie rechte Fanatiker“ empören. Als Religionskritiker habe er außerdem noch von religiöser Seite Gegenwind zu erwarten. „Damit muss man leben als Satiriker“, so Nuhr. Seiner Meinung nach würde die DFG nun aber den Ideologien des Netzes nachgeben. „Das ängstigt mich“, schreibt er zunächst; später in der FAZ erkennt er im Netz ein „Medium für Wutgestörte“.
Die Löschung sei „nicht nur merkwürdig, sondern geradezu alarmierend“, wurde er gegenüber der Welt noch deutlicher. „Es wurde bereits des Öfteren versucht, mich als Wissenschaftsfeind darzustellen, weil ich oft darauf hinweise, dass der Begriff der Wissenschaft nicht missbraucht werden darf, um eine absolute Wahrheit zu proklamieren, die nicht mehr hinterfragt werden darf“, so Nuhr. Ein Satz wie „Folgt der Wissenschaft“ sei „unbrauchbar, weil er suggeriert, es gebe die eine, eben wissenschaftliche Lösung für das Problem des Klimawandels“. Es gebe weltweit – Stichwort cancel culture – zunehmend mächtiger werdende Versuche, kritische Stimmen mundtot zu machen: „Die DFG unterwirft sich den Krawallmachern, die im Internet systematisch an der Unterdrückung kritischer Stimmen arbeiten, die in der Mitte des politischen Spektrums stehen. Das ist sehr bedenklich.“
Den Vergleich mit Verschwörungstheoretikern oder die Bezeichnung „Wissenschaftsleugner“ nennt Nuhr „absurd und beleidigend“. Wissenschaft sei die „einzige seriöse Möglichkeit, Erkenntnis zu generieren“. Er habe nie gegen „die Wissenschaft“ argumentiert, betont Nuhr. „Man etikettiert mich – völlig abwegig – als wissenschaftsfeindlich, damit meine Stimme diskreditiert wird.“ Er habe das Gefühl, in der aktuellen Atmosphäre sei es nicht mehr möglich, unterschiedliche wissenschaftliche Thesen zu diskutieren, ohne dafür womöglich beschimpft, bedroht oder ausgegrenzt zu werden. „Es wird immer häufiger denunziert statt argumentiert.“ Parallelen zu Uwe Steimle drängen sich auf. Die Causa zog prompt zwei oft miteinander verschränkte Diskursstränge nach sich: einen wissenschaftlichen bzw. wissenschaftspolitischen und einen sozialen, demokratietheoretischen.
„Erkenntnisfindung wird politisiert“
Der Tenor des wissenschaftlichen, an dem sich anonym auch Wissenschaftler beteiligten, ist mit dem Begriff „Religionisierung von Wissenschaft“ zusammenzufassen, die in ihre Zerstörung durch die Rückverwandlung in eine mittelalterliche Dogmatik mündet. Dem entspricht das Bestreben, möglichst viele Sinekuren für politische Kommissare, ja Führungsoffiziere zu schaffen, die dem Wasserkopf an Geistlichen analog sind, der im Mittelalter dem Pöbel mitteilte, warum er für das Seelenheil zu zahlen und zu kuschen habe. Die Zerstörung besteht darin, dogmatische Annahmen zu treffen, aus ihnen nicht de- oder in-, sondern abduktiv zu ermitteln, was der Fall zu sein hat, und diese Annahmen durch quasi-religiöse Wertungen zu immunisieren sowie andererseits Entgegenstehendes zu ignorieren, wegzudefinieren oder zu dämonisieren: Ausdrücke wie „Klimarambos“ (Fritz Vorholz, Zeit) oder gar „Covidioten“ (Saskia Esken, SPD-Chefin) lassen tief blicken.
Roger Letsch zürnte auf achgut einer präferierten Mehrheit innerhalb der Wissenschaft, die für die fachliche Unterfütterung politischer Entscheidungen sorgt und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und der Medien somit auf Fachleute verteilt, die nicht verantwortlich sind. „Wenn’s schief geht, kann der eine sagen, er hätte nichts veranlasst und der andere, er wäre einem fachlichen Rat gefolgt.“ Die Vehemenz des Shitstorms gegen Nuhr entlarvt nicht nur den antiwissenschaftlichen Charakter der Klimareligion, sondern das Gebaren moderner Wissenschaft schlechthin. Die kritische Überprüfung von Forschungsergebnissen wird nicht als notwendiger Bestandteil wissenschaftlichen Arbeitens gesehen, sondern als Störfaktor auf dem Weg zu einer idealen Gesellschaft.
Um andere von einer kritischen Überprüfung abzuhalten, wird Macht eingesetzt – entweder indirekt in Form moralischer Herabsetzung oder, wo institutionell möglich, direkt durch Disziplinierungsmaßnahmen, als da wären Ressourcenzuteilung, Publikationsmöglichkeiten oder Renommee (Notengebung). Demzufolge setzen Agendawissenschafter die Eigenwährung „Erkenntnis“ des Wissenschaftssystems durch die Einführung von zwei Fremdwährungen unter Druck: Der Währung „Macht“ und der Währung „Moral“. Erkenntnisfindung wird politisiert und religiös aufgeladen.
„Die DFG leistet als Wissenschaftsorganisation einen Offenbarungseid“, befand Michael Hanfeld in der FAZ. Ihre Rolle ist nur erbärmlich zu nennen, reiht sie sich doch ein unter die voraufklärerischen Inquisitoren. Hatten diese früher die „Gottesleugner“ im Blick, so sind es jetzt die „Wissenschaftsleugner“, „Klimaleugner“ etc. Kaum ein Wissenschaftler von Rang ergriff für Nuhr Partei. Der Mainzer Historiker Andreas Rödder bezeichnete das Einknicken der DFG als „sehr bedenklich“. Die Selbst-Konformisierung der Wissenschaft gefährde die intellektuellen Grundlagen der demokratischen Öffentlichkeit. Der Münchner Soziologe Armin Nassehi nannte die Reaktion der Forschungsgemeinschaft falsch, weil sie im Netz nur „die üblichen Drehbücher“ in Gang gesetzt habe.
Das verwundert aber kaum, begrüßte doch ein Großteil der tonangebenden DFG-Wissenschaftler nach 1933 das NS-Regime und arbeitete im Rahmen eines „radikalnationalistischen Grundkonsenses“ aus freien Stücken an seinen Zielen mit, wobei die Fördermittel für politisch genehme Forschungsgebiete wie „Rassenhygiene“ und Agrarwissenschaften deutlich erhöht wurden. „Wes Brot ich ess‘, des Lied ich sing“ ließ sich selten besser beobachten. 2018 hatte die DFG als eingetragener Verein einen Förderetat von fast 3,4 Milliarden Euro – Steuergelder, versteht sich: Gut zwei Drittel dieser Mittel zahlt der Bund, den Rest zahlen die Länder. Dabei zählen zu den Leitlinien der DFG „strikte Ehrlichkeit“, „alle Ergebnisse konsequent selbst anzuzweifeln sowie einen kritischen Diskurs in der wissenschaftlichen Gemeinschaft zuzulassen und zu fördern“.
Denn wenn es Wissenschaft ist, gibt es keinen Konsens - wenn es Konsens gibt, ist es keine Wissenschaft, erkannte bereits Michael Crichton. Auch der Streit zwischen Christian Drosten und Alexander Kekulé in der Hochphase der Coronakrise habe gezeigt, dass es die eine wissenschaftliche Erkenntnis und Lösung nicht gibt, so Baden-Württembergs AfD-Fraktionschef Bernd Gögel MdL. „Nur das immer wiederkehrende Wechselspiel von These und Antithese garantiert fortschreitende Erkenntnis. 1931 versuchten 100 Autoren gegen Einstein, eine ‚Mehrheitsmeinung‘ durchzusetzen, was diesen sinngemäß zu der Aussage veranlasst haben soll: ‚Gleich 100? Wenn sie Recht hätten, würde doch einer genügen‘. Wie dieser Streit ausging, ist bekannt. Und 1990 hieß es noch ‚Der Marxismus ist allmächtig, weil er wahr ist‘. Wir sind entsetzlicherweise auf dem Weg in ein Gemeinwesen, das genau solche Verdikte über die wissenschaftliche Erkenntnis stellt. Die volle Verantwortung für diesen Skandal trägt die DFG-Präsidentin Katja Becker“ schimpft Gögel und forderte die Heidelbergerin, die das Amt erst seit diesem Jahre bekleidet, zum Rücktritt auf.
„anmaßendes Geplapper“
Thunberg und F4F transponieren ihre irrealen Ängste in andere Kinderseelen, wobei sie sich auf ein unantastbares Konstrukt berufen, das ihr infantiler Verstand zum Begriff „Wissenschaft“ verklärt. „Doch gemeint ist nur eine Wissenschaft und auch nur eine sehr verengte Lesart derselben“, befindet Letsch. Diese Teilmenge der Wissenschaft hat auf die allermeisten Fragen der Menschheit keine Antwort oder nur eine gänzlich weltfremde. Deutlich wurde das an dem „Offenen Brief“, den die Klimakids mit Greta an der Spitze an die Führer der westlichen Welt schrieben. Was da „im Namen der Wissenschaft“ gefordert wurde, war nichts weniger als die sofortige, vollständige und radikale Beendigung des Lebens, wie wir es kennen. Diktatur statt Demokratie, das Ende der Marktwirtschaft, das Ende aller Freiheit.
„Mahnen, warnen, drohen, dann wieder appellieren und fordern, schließlich verlangen und dekretieren – nichts als anmaßendes Geplapper und unwissenschaftlicher bipolarer Moralismus“, ärgert sich Letsch. „Noch keine Erkenntnis ist nur deshalb erlangt worden, weil man fest an sie glaubte, Widersprüche und Kritik ignorierte, die Politik sie befürwortete und eine zu jeder Erregung fähige Menge zu Fackeln und Mistgabeln griff, wenn jemand Zweifel oder Spott äußerte.“ Die Zahl der Gegner ist – anders als in der Politik – aber kein Kriterium, das über akademische Siege oder Niederlagen entscheidet; Mehrheiten und Konsens keine Kategorien, mit denen man wissenschaftliche Erkenntnis messen oder gar erzwingen kann. Die derzeitige Stimmung ist aber nicht nur wissenschaftsfeindlich, sondern nachgerade intelligenzfeindlich. Es ist offenbar verpönt, auch nur nachzudenken, aber erwünscht, dumpfen Parolen zu folgen.
Diese soziale Komponente hatte der Kabarettist Wolfgang Neuss schon in den 60er Jahren in das Bonmot gekleidet: „Gläubige Dummheit und niemals die Intelligenz des Zweifelns ist es, was den Totalitarismus in Deutschland vernichtend zum Leben erwecken wird.” Wer im Diskurs zensiert, denunziert, diffamiert und schließlich ausgrenzt, hat wohl mehr Vertrauen in seine eigenen negativen Charakterzüge als in die Überzeugungskraft der eigenen Argumente. Das brachte Norbert Bolz in der Tagesstimme auf die Formel „Während die Lautsprecher der Politischen Korrektheit von Buntheit, Diversität und Multikulturalität tönen, leben wir längst in einem radikal illiberalen Zeitalter, das keine Diskussionen mehr kennt. Dass Deutschland debattenunfähig geworden ist, ist das Resultat einer fanatischen Moralisierung aller Lebensfragen. Gefühle und Gesinnungen ersetzen Argumente.“
Meinungsfreiheit ist keine Einbahnstraße, wird heute aber so befahren. „Geht es am Ende also gar nicht um Wissenschaft, sondern darum, dass eine bestimmte, linksgrüne Ideologie zur ökosozialistischen Ummodelung unseres Landes nicht mehr hinterfragt werden darf?“, echauffiert sich AfD-Bundeschef Jörg Meuthen. Und Letsch fasst den blamablen Vorgang sicher am pointiertesten zusammen: „Deutschland ist heute das Land, in dem Politiker wie Kabarettisten agieren, Wissenschaftler Politik machen wollen und Kabarettisten wegen Unwissenschaftlichkeit so lange verprügelt werden, bis sie unpolitisch sind.“
„ohne weitere Erläuterung“
Wer nun meinte, dass die Posse damit ein Ende fand, wurde nach ein paar Tagen durch die bereits zweite Kehrtwende der DFG eines Schlechteren belehrt. Die hat sich nämlich in einer Stellungnahme bei dem Kabarettisten zu entschuldigen versucht und das Angebot unterbreitet, seinen Beitrag wieder ins Netz zu stellen. Man sei zunächst nicht in der Lage gewesen, eine klare Einschätzung der Kommentare vorzunehmen, heißt es in einer Stellungnahme der DFG. Die Entfernung des Beitrags sei schließlich „ohne weitere Erläuterung und ohne vorherige Information an Herrn Nuhr“ erfolgt. Das bedauere man und entschuldige sich dafür bei dem Kabarettisten.
„Auch möchte die DFG betonen, dass sie mit der Entfernung des Beitrags keineswegs Herrn Nuhrs persönliche Einstellung zur Wissenschaft bewerten wollte“, heißt es weiter. Allerdings habe Nuhr in seinem Statement Sätze aufgegriffen, die er in ähnlicher Form bereits „in der stark polarisierten Debatte zum Klimawandel und der Aktivistin Greta Thunberg geäußert“ habe. In der aktuellen DFG-Kampagne solle jedoch nicht in dieser spezifischen Debatte Stellung bezogen werden. Am Ende der Mitteilung bietet die Forschungsgemeinschaft Nuhr schließlich an, „eine im Lichte der aktuellen Debatte kommentierte“ Fassung seines Kommentars wieder online zu stellen.
Das jedoch kommt für Nuhr nicht infrage. „Ich habe der DFG untersagt, mein Statement ‚kommentiert‘ online zu stellen“, teilt er gegenüber der Welt schriftlich mit. „Was soll das denn? Alle anderen sagen frei ihre Meinung und meine wird mit einer Warnung versehen wie eine Zigarettenpackung.“ Er sei von der DFG „mehr als enttäuscht, nicht nur aufgrund der Löschung, sondern noch mehr wegen des armseligen Umgangs mit der Sache“. Es stelle sich nun für viele Menschen die Frage, wie die DFG für freie Forschung stehen solle, „wenn sie schon bei so einer Lappalie einknickt. Mir macht das, gerade weil ich freie Wissenschaft für lebenswichtig halte, große Sorgen“.
Die Entschuldigung der Forschungsgemeinschaft nimmt Nuhr nicht an: „Das ist ja keine Entschuldigung. Die DFG hat nicht die Löschung bedauert, sondern lediglich die Tatsache, dass sie mir nicht Bescheid gesagt hat.“ Er hätte von der DFG eine Distanzierung von den Diffamierungen im Netz erwartet. Die Forschungsgemeinschaft hätte aus seiner Sicht zugeben sollen, den Anfeindungen nachgegeben zu haben und das „mit mangelnder Erfahrung mit Shitstorms“ begründen können. „Das hätte jeder verstanden, ich als erster“, betont Nuhr. Nun gibt es aber aus seiner Sicht kein Bekenntnis zur offenen Meinungsäußerung der DFG, sondern viel eher eine „Rechtfertigung der cancel culture“. Ob das die DFG nicht auf sich sitzen lassen wollte oder ob andere Gründe eine Rolle spielten: Nach einer Woche war Nuhrs Statement wieder online, samt einer proaktiven Erklärung, damit „eine intensive Auseinandersetzung mit der aktuellen Debattenkultur rund um die Wissenschaft anzustoßen“.
Ex-Focus-Chef Ulrich Reitz schrieb in „seinem“ Blatt: „Es ist ganz und gar nicht die Aufgabe der Wissenschaft, sich politisieren zu lassen. Oder zuzulassen, dass sie, vom wem auch immer, vor einen ideologischen Karren gespannt wird. Man kann von Wissenschaft, wie von einem anständigen Kriminalisten, erwarten, stets in mehrere Richtungen zu recherchieren. Wahrheit ist, wissenschaftlich betrachtet, nicht das, was immer gilt. Wahrheit ist nur das, was wir gerade in diesem Augenblick dafür halten.“ Der linken Perspektive auf Augenblicke setzen derzeit nur Rechte einen anderen Blick entgegen.
Wie lange noch, ist offen: fast parallel zur Wiedereinstellung des Nuhr’schen Statements wurden der farbige Basketballprofi Yoshiko Saiboo in Braunschweig entlassen, weil er an der Berliner Freiheitsdemo ohne Maske teilnahm, und die Wiener Kabarettistin Lisa Eckhart vom Literaturfestival Hamburg ausgeladen mit der offiziellen Begründung, es „könnte im linken Viertel Proteste geben“. Der Auftritt Eckharts wurde also im vorauseilenden Gehorsam vor möglicher Kritik des Cancel-Mobs gestrichen. „Der Mob hat damit sein Ziel schon erreicht, bevor er überhaupt im konkreten Fall in Aktion tritt. Die Angst, die er bisher verbreitet hat, genügt also schon als Drohung und warnendes Exempel. Was für ein Sieg der Unfreiheit!“, wütet Ferdinand Knauss auf Tichys Einblick. Und Dieter Nuhr zeigte sich „fassungslos“ ob der neuerlichen Bestätigung seiner Thesen zu seiner eigenen Causa: „Der Protestmob auf der Straße entscheidet also darüber, wer hier bei uns seine Kunst ausüben darf.“
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