In Deutschland geht die Lust am Meinungsstreit verloren. Das ist nicht nur akademisch fatal, sondern schafft ideologische Stromlinienförmigkeit. Hochschullehrer haben jetzt auf eine Studie reagiert.
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Es waren teils peinigende Debatten, mit denen sich spätestens seit 2017 die Universitäten, einst Pioniere der Redefreiheit, den Ruf einer Avantgarde der Intoleranz einhandeln: Die Ethnologin Susanne Schröter hatte den Bundesvorsitzenden der Polizeigewerkschaft Rainer Wendt zu einem zuwanderungskritischen Vortrag über den „Polizeialltag in der Einwanderungsgesellschaft“ an die Frankfurter Goethe-Universität eingeladen. Ein offener Austausch sollte es werden, doch es kam im Vorfeld zu Protesten. 60 von Schröters Kolleginnen und Kollegen forderten in einem offenen Brief die Wiederausladung des Gewerkschaftsmannes mit der anderen, nicht zu akzeptierenden Meinung. Schließlich gab Schröter nach, und das geplante Podium fiel aus.
Monate später flogen bei einem Podium über das Kopftuch sogar die Fäuste, weil fleißige Diskurswächter auf der Bühne eine Brutstätte rechten Denkens witterten. Obwohl es anderswo nicht viel besser war – so scheiterte 2019 Bernd Lucke, Professor für Makroökonomie an der Universität Hamburg und AfD-Gründungsvorsitzender, bei seinem Versuch, eine Vorlesung zu halten: Linke Studenten brüllen ihn nieder – wählten die Sozialwissenschaftler Matthias Revers und Richard Traunmüller für eine Studie über mutmaßliche Beschränkungen der Redefreiheit an Hochschulen prompt die Frankfurter Universität. Die Ergebnisse erschienen kürzlich in der „Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie“ – und machen sprachlos.
Die Befragung von 932 Studenten – 54,1 Prozent Frauen, 42,2 Prozent Männer – der eher linken Sozialwissenschaften von Mai bis Juli 2018 brachte zunächst den alarmierenden Befund, dass ein beträchtlicher Anteil von Studenten mit anderen Meinungen nicht konfrontiert werden will. Ein Drittel bis die Hälfte der Befragten sind dagegen, Redner mit abweichenden Meinungen zu den am meisten umstrittenen Themen Islam, Geschlecht und Zuwanderung an der Hochschule zu dulden. Noch höher ist der Anteil derer, die solchen Personen keine Lehrbefugnis geben würden, wiederum ein Drittel will ihre Bücher aus den Bibliotheken verbannen. Die Toleranz für andere Ansichten war unter den sich als links bezeichnenden Studenten außerdem deutlich geringer als im konservativen Spektrum.
Groß auf beiden Seiten war allerdings die Bereitschaft, sich als Opfer zu fühlen. Ein Drittel der Befragten klagte über Konformitätsdruck bei politisch umstrittenen Themen und gab an, die eigene Meinung in solchen Fällen zurückzuhalten oder nur mit Unbehagen zu äußern. Zwar ergab die Studie immer noch eine liberale Mehrheit, doch die große Zahl derer, die keine abweichenden Meinungen aushalten, werten die Autoren als Hypothek für eine Institution, die auf dem freien Austausch der Argumente beruht, und als besorgniserregenden Befund für die Sozialwissenschaften. Denn man kann über Aussagen wie die, dass es zwischen Männern und Frauen biologisch begründete Begabungsunterschiede gebe oder dass der Islam mit europäischen Werten nicht kompatibel sei, unterschiedlicher Meinung sein, aber dafür muss man erst mal zum Streit bereit sein.
„reduktionistisches Menschenbild“
Als eine Ursache sieht Thomas Thiel in der FAZ den „Verfall kritischer Maßstäbe, welcher der überhandnehmenden Tendenz geschuldet ist, den Wert einer Aussage allein an der Herkunft des Sprechers zu bemessen.“ Das empirische Defizit in Disziplinen wie der Migrationsforschung werde „legitimiert von Theorien, nach denen Gegenständlichkeit bei der Erkenntnis keine Rolle mehr spielen soll“, wodurch „alles beliebig deutbar“ würde. So käme es „zu kuriosen Verwirrungen wie der, dass im Namen einer feministisch inspirierten Gendertheorie religiös legitimierte patriarchale Gewalt im arabischen Raum, aber auch hierzulande, in Schutz genommen wird und Leute, die auf diesen Widersinn aufmerksam machen, nur denunziert werden können“.
Es gebe Anlass, die Studie an anderen Orten fortzusetzen, meint er prompt. Denn Lehre und Forschung in Frankfurt legen viel Wert auf Ideen, die mit der Kontrolle unerwünschter Aussagen in engem Zusammenhang stehen: kulturelle Anerkennung als Mittel der Verteilungsgerechtigkeit oder etwa das Konzept der „Intersektionalität“, das angebliche Diskriminierung mit dem vermeintlichen Nachteil durch überlappende Identitäten erklärt. Allerdings gebe es „wenig Grund für die Vermutung, dass die Ergebnisse unter Studenten der Sozialwissenschaften an anderen Hochschulen in Deutschland sehr stark von denen in Frankfurt abweichen würden. Und auch die Unterschiede zu anderen Fächern und Universitätsfakultäten dürften womöglich mittlerweile geringer sein, als sie es vielleicht einmal waren“, befindet Ferdinand Knauss auf Tichys Einblick TE. Denn längst habe sich die Politisierung des Lehr- und Forschungsbetriebs im Dienste bestimmter ideologischer Botschaften aus den Sozial- und Kulturwissenschaften auch schon in die Naturwissenschaften ausgebreitet.
Ein besonders eklatantes Beispiel dafür sei die „Jenaer Erklärung“ vom Herbst 2019, deren knappe Zusammenfassung lautet: „Das Konzept der Rasse ist das Ergebnis von Rassismus und nicht dessen Voraussetzung“. Der Text wurde gleich viermal im Internet „gepostet“, durch Artikel in wissenschaftlichen Journalen vertieft und in zahlreichen Medienberichten verbreitet. Dies entspricht einer seit Jahrtausenden vor allem durch die Religionen verfolgten Strategie, empört sich Max von Tilzer auf TE: „Aussagen werden ungeprüft für wahr gehalten, wenn sie nur oft genug wiederholt werden. Das bringt bis zum heutigen Tag Menschen dazu, wider besseres Wissen an rational unhaltbaren Lehren festzuhalten. Wie bei religiösen Dogmen wird jeder Zweifel an ihrem Wahrheitsgehalt zur Sünde.“ Erst vor wenigen Wochen untermauerte Simon Maurer im Tagblatt faktenreich die medizinische Unhaltbarkeit der These, dass es keine Rassen gebe. Die Bundesregierung dagegen beruft sich bei ihrem Vorhaben, den Rassebegriff aus dem Grundgesetz zu tilgen, gern auf die Jenaer Erklärung.
Der US-Publizist Todd Huizinga erkennt in der Jungen Freiheit ein stark reduktionistisches Menschenbild: „Der Mensch wird einzig durch die Brille von Herrschaft und Unterdrückung verstanden. Alle menschlichen Eigenschaften werden nach ihren vermeintlichen Auswirkungen auf politisch-gesellschaftliche Machtverhältnisse ausgewertet. Diejenigen Eigenschaften, die im Begriffsschema der Identitätspolitik Herrschaft oder Unterdrückung bezeichnen, werden als die eigentlich wesentlichen eingestuft. Denn in der Gedankenwelt der Identitätspolitik stiften die Merkmale, die einen entweder als unterdrückt oder privilegiert kennzeichnen - hauptsächlich Rasse, Geschlecht, Gender-Identität und Einwanderungsstatus-, die Kernidentität eines Menschen.“
Dieses politisierte Menschenbild nun untermauert eine flächendeckende Politisierung des Lebens, die eine Verarmung der menschlichen Gemeinschaft mit sich bringt. Alle menschlichen Beziehungen werden im Sinne von Herrschaft und Unterdrückung verstanden, das heißt politisiert und entmenschlicht. Comedian Dieter Nuhr versuchte dieser Dichotomie in der Welt wenigstens noch eine sarkastische Seite abzugewinnen: „Schon die römischen Feldherren kolonisierten und nahmen den Germanen die Frauen, weil sie nicht wussten, dass das 2000 Jahre später in den Genderstudiengängen nicht gut ankommen würde.“ Bereits 2012 konstatierte der koreanisch-deutsche Philosoph Byung-Chul Han, wir lebten in einer fortschreitenden „Positivgesellschaft“: „Das Wort bleibt stumm und stumpf im Köcher, auch wenn es im Unterholz längst köchelt und brodelt.“ Und Josef Joffe dekretierte jetzt in der NZZ: „Der freiheitliche Staat kann nur im endlosen Meinungskampf bestehen; sonst werden aus den Kindern des Lichts von heute die Fürsten der Finsternis von morgen.“
„entsetzliche Zukunft der Meinungsfreiheit“
Nils Erich übte sich in der Zeit dagegen im Relativieren. So könnten die „SoWis“ der Goethe-Universität kaum als repräsentativ für die deutsche Universitätslandschaft gelten; Einstellungen, vor allem im Fragebogen angekreuzte, bedeuteten nicht vollendete Handlungen: „Und die Meinung, dass jemand anderes mit einer bestimmten Meinung lieber nicht an einer Universität unterrichten sollte, ist ja wohl auch durch die Meinungsfreiheit gedeckt, nicht?“ Prompt drückt sich der Autor vor einer klaren Positionierung zu der Frage, ob es legitim sein kann, anderen Diskursteilnehmern aufgrund ihrer abweichenden Position das Präsentieren ihrer Sichtweise faktisch zu verunmöglichen, indem man Veranstaltungen so stört, dass sie gar nicht stattfinden können.
Stattdessen holt er, natürlich, die Rassismuskeule heraus, um Zensur zu begründen: „Homophobie und Rassismus sind nicht nur hässlich, sondern auch wissenschaftlich veraltet, und im universitären Diskurs haben sie darum nichts zu suchen. Wenn einer nun gegen Schwarze wettert und sich dann von anderen abgelehnt fühlt, dann ist das moralisch und pragmatisch gar kein schlimmer Zustand für den universitären Diskurs.“ Rassismus = „gegen Schwarze wettern“? Das ist kein Witz. Sein absurder Schluss: „Dementsprechend besagt auch die Meinung, man werde wegen seiner Meinung abgelehnt, weder etwas über den universitären Diskurs noch über dessen Verbindung zur Gesellschaft“, denn Proteste auf dem Campus seien strikt von der dortigen Lehre zu trennen. Das ist ebenfalls kein Witz.
Frederik Eikmanns geht in der taz noch weiter und behauptet, „dass die Studierenden mit Zensur nichts am Hut, sondern einfach nur keine Lust auf menschenfeindliche Argumente haben.“ Für ihn zeigt die Studie gar „eindrucksvoll, wie die konservative deutsche Presse tickt. Selten war besser zu erkennen, wie verzweifelt deren Autor:innen [sic!] Beweise dafür suchen, dass die anderen die Intoleranten sind – und nicht etwa die eignen Leute.“ Die Studienautoren Revers und Traunmüller erkennen dagegen in den restriktiven Sprachcodes, gewalttätigen Protesten gegen kontroverse Vortragende und im Wunsch nach Demission unliebsamer Professoren einen „klaren Indikator für die entsetzliche Zukunft der Meinungsfreiheit“ insgesamt. Denn bereits vor zwei Jahren verstörte eine ähnlich gelagerte Untersuchung des PEN-Zentrums Deutschland und des Instituts für Medienforschung der Universität Rostock. Darin wurde ein kritischer Blick auf die Situation der Freiheit von Wort und Schrift in Zeiten von Shitstorms, Online-Diskursen und persönlichen Angriffen gegen Autorinnen und Autoren in Deutschland geworfen.
Das Ergebnis: Von 526 befragten Schriftstellern gaben damals drei Viertel an, dass sie in Sorge über die freie Meinungsäußerung seien. Sie beklagten eine Zunahme an Bedrohungen, Einschüchterungsversuchen, hasserfüllten Reaktionen und sogar körperlichen Übergriffen. Jeder vierte Autor, der Angriffe erlebt hatte, sei demnach vorsichtiger geworden in der Beurteilung von Geschehnissen; jeder Fünfte schreibt weniger über kritische Themen, und jeder Achte beschränkt sich in der Darstellung. „Während die in den Hörsälen also mehr und mehr ihre Muskeln spielen lassen wollen, beschneiden sich die an den Schreibtischen mit Selbstzensur“, bringt das Ralf Hanselle im Cicero auf den Punkt.
„Selbstbeschränkung und Meinungskonformismus“ beklagt selbst der Hamburger Historiker Christoph Ploß, der für die CDU im Bundestag sitzt. In Teilen der Wissenschaft werde immer stärker infrage gestellt, andere Meinungen anzuhören und diese als Gedankenanstoß zu empfinden, weil „Kraft und Mut“ fehlten: „Dabei wären gerade in Zeiten schnelllebiger Meinungskonjunkturen und einer Flut von Fake News grundlegende Erkenntnisse der Wissenschaft wichtiger denn je“, schreibt er im Cicero. Vor allem der Drittmittelzirkus würde zu einem selbstreferentiellen bürokratischen System führen, das das „Interesse, aus den eigenen akademischen Echokammern herauszutreten und mit einer breiteren Öffentlichkeit zu diskutieren“, sinken ließe.
Er konstatiert, dass „große wissenschaftliche und gleichzeitig gesellschaftliche Debatten, wie in den 1960er Jahren um die Rolle Deutschlands im Ersten Weltkrieg und die damit verbundenen langfristigen Folgen für die deutsche Politik“, kaum mehr denkbar seien. Seine Vorschläge zur Behebung des Zustands sind allerdings, nun, eigenwillig. Zum einen fordert er, „Medienresonanz als Erfolgskriterium und nicht als Malus für die Karriere von Wissenschaftlern gelten“ zu lassen, wobei er einräumt, dass nicht jedes Forschungsergebnis gesellschaftlich relevant ist und Medienresonanz nicht notwendigerweise ein Qualitätsnachweis. Schlagen zwei Shitstorms künftig eine hochwertige Rezension? Zum anderen aber wagt er sich tatsächlich auf AfD-Terrain und verlangt, dass „mehr Finanzmittel in die Grundausstattung der Universitäten anstatt in die Drittmittelwirtschaft fließen“ müssten.
„einen anderen Journalismus“
An dieser Stelle muss man ganz klar betonen: Die Meinungsfreiheit laut Art. 5 Abs. 1 GG schützt neben wahren Tatsachenbehauptungen, soweit sie meinungsbezogen sind, eben auch Werturteile. Werturteile werden geprägt durch Elemente des Meinens und Dafürhaltens. Sie sind objektiver Klärung mittels Beweisen nicht zugänglich und lassen sich deshalb nicht als wahr oder unwahr erweisen, sondern können allenfalls als falsch abgelehnt oder als richtig akzeptiert werden. Sie genießen auch dann Schutz, wenn es sich um Außenseitermeinungen handelt. Abwertende Kritik darf – solange sie sachbezogen ist – scharf und schonungslos geäußert werden. Auch eine überspitzte, ironische oder polemische Äußerung der subjektiven Meinung ist zulässig. Unerheblich ist auch die Qualität der Äußerung.
Die kann man im akademischen Betrieb zwar durchaus voraussetzen, nicht mehr aber im journalistischen. Das zeigte nicht nur der „Gesinnungscheck“ der Welt vom Frühjahr 2018, der schwarz-weiß die Konterfeis von Simon Strauß, Peter Sloterdijk und Monika Maron abbildete, sondern vor allem die Debatte um die vorgebliche taz-Satire „All cops are berufsunfähig“ von Hengameh Yaghoobifarah. Selbst unter den Fürsprechern ging außer Margarete Stokowski im Spiegel niemand so weit, den Artikel inhaltlich zu verteidigen. Nein, Meinungsfreiheit gelte auch für schlecht dargebrachte oder leicht irre Meinungen, so der Tenor. Warum nur Linke leicht irre sein dürfen, wurde nicht thematisiert, wohl aber die Semantik der Polizeikritik: „Wir können nicht den geistig Geringsten zum Maßstab dafür machen, wie wir unsere Texte verfassen. Dann sind wir eine relativ dumme Gesellschaft“, befand Christian Brandes alias Schlecky Silberstein im DLF. Wer Linke nicht versteht, ist dumm?
Eine Grenze wird lediglich dann überschritten, wenn sich eine Äußerung als Formalbeleidigung oder Schmähkritik darstellt. Dies ist der Fall, wenn die persönliche Kränkung oder Herabsetzung das sachliche Anliegen völlig in den Hintergrund drängt, es also nicht mehr um die Auseinandersetzung in der Sache, sondern um die Diffamierung des Betroffenen geht, der jenseits überspitzter und polemischer Kritik herabgesetzt und gleichsam an den Pranger gestellt werden soll. Die Anforderungen hieran sind allerdings hoch – und werden nur von Gerichten festgestellt, nicht aber von selbsternannten Gesinnungsrichtern, denen eine Äußerung nicht passt.
Da unwahre Tatsachen nicht schutzwürdig sind, kommt es häufig auf die Abgrenzung zwischen einer unzulässigen unwahren Tatsachenbehauptung und einem zulässigen Werturteil an. Diese Abgrenzung ist oft schwierig – wird aber auch ganz allein von Gerichten vorgenommen. Die Vorgehensweise nennt sich Klageweg und ist in Deutschland klar geregelt. Bislang. Denn mit Abstand zur Cop-Affäre hat jetzt taz-Chefin Barbara Junge im journalist erklärt, dass „Identität, Repräsentation und Antidiskriminierung“ inzwischen einen ganz anderen Stellenwert hätten, weshalb in ihrer Redaktion die Frage diskutiert würde, „ob das einen anderen Journalismus definieren darf oder muss“. Sie entblödete sich nicht zu argumentieren, „ob die Klimakrise so existenziell ist, dass sie journalistische Regeln verändert“. Das ist auch kein Witz. Nach der Klima- wird dann eine Demokratiekrise konstatiert, um weiter munter die Regeln zu ändern? Und wenn man weiß, dass 92 % der ARD-Volontäre heute grün-rot-rot wählen, wie letztens eine weitere Studie ergab, kann einem angst und bange werden.
Sicher ist inzwischen, dass die Rücksichtnahme auf Prinzipien wie die Unschuldsvermutung, die Wahrung der Verhältnismäßigkeit oder die Gleichheit vor Gericht schwindet. Ein Kollege schrieb jüngst von „Hashtag-Aktivisten“, die sich in einem Krieg gegen das „absolut Böse“ wähnen und es daher geradezu für eine Pflicht halten, „demokratische Prinzipien wie Toleranz, Meinungsfreiheit, Vernunft oder die Unschuldsvermutung zu tilgen.“ Sven Heitkamp kommentierte jüngst in der Sächsischen Zeitung, dass die Richter am OVG Bautzen mit ihrer Zulassungsentscheidung über die „Querdenken“-Demo in Leipzig völlig danebengelegen und der Demokratie einen „Bärendienst“ erwiesen hätten. Definieren jetzt Journalisten nicht nur soziale, sondern auch juristische Standards? Und wenn das Journalisten dürfen, warum nicht auch Studenten, ja jeder?
„Kultur des ängstlichen Rückzugs“
Die Hochschullehrer haben nun Mitte November reagiert und ein Netzwerk gegründet, das Forscher unterstützen soll, die aufgrund ihrer Thesen unter Druck geraten. „Es ist ein Klima vorauseilenden Gehorsams entstanden“, zitiert die WamS aus dem Gründerteam und berichtet von zahlreichen Wissenschaftlern, die von einer „Kultur des ängstlichen Rückzugs“ sprechen: Sie beklagen „feindliches Klima“, „politischen Druck“, ja „Einschüchterung“. Oft genüge bereits der Verdacht, sich mit Thesen und Arbeiten nicht der Kollegenmehrheit anzuschließen, um unter Druck zu geraten, sagte der Hamburger Rechtsphilosoph Reinhard Merkel der Zeitung – Abweichler würden häufig als Bedrohung wahrgenommen, nicht als Bereicherung.
„Das Risiko veranlasst Wissenschaftler zur Selbstzensur und zum Rückzug aus öffentlichen Debatten“, weiß Susanne Schröter, die ebenfalls dem Gründungsteam angehört. Der Präsident des Deutschen Hochschulverbands DHV, Bernhard Kempen, erklärte, dass die Toleranz gegenüber anderen Meinungen kleiner werde. An deutschen Hochschulen verbreitete sich eine „Entwicklung, niemandem eine Ansicht zuzumuten, die als unangemessen empfunden werden könnte“, hieß es bereits in der „Resolution zur Verteidigung der freien Debattenkultur an Universitäten“, die der DHV vergangenes Jahr verabschiedet hatte.
In den vergangenen Jahren häuften sich Fälle, in denen Wissenschaftler daran gehindert wurden, sich wie geplant zu äußern. Fast alle betreffen laut WamS Fälle, in denen ein Diskurs, der als rechts bezeichnet wird, verhindert werden sollte – wobei das bereits mit Äußerungen geschehen kann, die nicht explizit linke Positionen verteidigen. Es handele sich um ein historisch begründetes Phänomen an deutschen Hochschulen, wird der Bonner Wissenschaftshistoriker Rudolf Stichweh zitiert. Deutschland habe eine wegen der NS-Vergangenheit nachvollziehbare Neigung, rechtsintellektuelle Positionen an Universitäten wenig salonfähig werden zu lassen. Daher seien sie dort auch kaum vertreten – im Gegensatz etwa zu Frankreichs Universitäten.
Kempen plädierte dafür, dass deutsche Universitäten alle vom Bundesverfassungsgericht nicht als verfassungswidrig eingestuften Parteien zu Wort kommen lassen sollten. Das bedeute in einem freiheitlichen Rechtsstaat, dass die Äußerung einer nicht verfassungswidrigen, aber politisch unerwünschten Meinung nicht nur geschützt, sondern notfalls auch erst ermöglicht werden müsse. „Ausflüchte schaden der Universität mehr als sie ihr nutzen“, resümierte Kempen. „Ihre wichtige Aufgabe, Debatten anzustoßen und zu strukturieren, können Universitäten nur ausfüllen, wenn sie nicht denjenigen nachgeben, die sie maßregeln wollen, am lautesten schreien, mit Gewalt drohen oder sie sogar anwenden.“
Das Fazit wird dadurch nicht weniger bitter: Diejenigen, die für sich den Kampf für Toleranz und Pluralismus in Anspruch nehmen, agieren selbst zunehmend intolerant und anti-pluralistisch, weil sie als rassistisch, sexistisch, homophob, antisemitisch etc. aufgefasste Äußerungen unterbinden wollen. Zwischen keine Lust auf bestimmte Meinungen haben und anderen Personen das Rederecht absprechen, ja am Reden hindern, gar ihre gedruckten Texte aus dem öffentlichen Diskurs entfernen besteht aber immer noch ein gewaltiger Unterschied, den Linke offenbar nicht mehr erkennen können und wollen. Der Hochschullehrerinitiative, die für eigentlich Selbstverständliches eintritt, ist aller Erfolg zu wünschen.
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Über den Autor:
Thomas Hartung, geb. 1962 in Erfurt; promovierte nach seinem Lehramtsstudium in Magdeburg 1992 zur deutschen Gegenwartsliteratur und war danach als Radio- und Fernseh-Journalist in Sachsen-Anhalt und Sachsen sowie als freiberuflicher Dozent für Medienproduktion und Medienwissenschaft an vielen Hochschulen Deutschlands tätig; der bekennende „Erzliberalkonservative“ trat als Student in die LDPD ein und 1990 aus der FDP aus: von „misslungener Einheit“ nicht nur mit Blick auf die Parteienfusion spricht er bis heute; Hartung war im April 2013 Mitbegründer der AfD Sachsen und wurde zweimal zum Landesvize gewählt. Seit März 2020 ist er Pressesprecher der AfD-Fraktion Baden-Württemberg.
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