Rammstein-Sänger Till Lindemann wird seit Wochen medial demontiert – wegen vorgeblicher Frauendiskriminierung. Eine fast 70 Jahre alte Frauenstatue wird an der Uni Oldenburg gleich real demontiert – aus demselben Grund. Das kann selbst Feminismus nur noch mäandernd erklären.
Am konservativsten fasste die Debatte sicher Männerrechtler Maximilian Pütz in der Jungen Freiheit zusammen: „Es ist nämlich nicht das ‚Patriarchat‘, das ein Interesse daran hat, Frauen schwach und unmündig zu halten, es ist der Feminismus.“ Und am wokesten Carolina Schwarz in der taz: „Denn uns sollte es nicht nur darum gehen, was juristisch erlaubt ist, sondern auch, was moralisch vertretbar ist [sic!]. Um das zu entscheiden, braucht es einen gesellschaftlichen Aushandlungsprozess. Dem täte es gut, wenn alle, die lange weggeguckt haben, endlich Verantwortung übernähmen.“ Moral schlägt Recht und Radikalfeminismus das Mannsein: Zwischen diesen bis dato nicht aufeinander bezogenen Polen wird hierzulande seit Wochen eine vorgebliche Frauenfeindlichkeit thematisiert, die das weibliche Geschlecht einmal maskulin viktimisieren, ein anderes Mal feminin sexualisieren soll.
Auslöser der Viktimisierung war Ende Mai das Video „Was wirklich auf Rammstein-Afterpartys passiert“ der YouTuberin Kayla Shyx, die darin schwere Vorwürfe gegen Rammstein-Sänger Till Lindemann erhoben hatte. Unter anderem erklärte sie, dass sie selbst auf einer der umstrittenen Partys des Musikers gewesen sei und erläuterte, wie Frauen gezielt für die sogenannte „Row Zero“ rekrutiert werden würden – die „Partyzone“ direkt vor der Bühne. Die Irin Shelby Lynn hatte erklärt, am Rande eines Rammstein-Konzertes in Vilnius unter Drogen gesetzt worden zu sein. Dies wies die Band als unwahr zurück; die dortige Staatsanwaltschaft nahm mangels Beweisen erst gar keine Ermittlungen auf. In den sozialen Medien hatten sich danach zahlreiche Frauen mit Lynn solidarisiert; Vorwürfe wegen vorgeblich ungewollter sexueller Handlungen wurden auch gegen andere Bandmitglieder erhoben. Gleichzeitig gab es eine massive Kampagne von Frauen, die sich hinter Rammstein stellten, mit Hunderten Artikeln, Videos und Beiträgen, etwa auf Twitter, Instagram und YouTube, darunter seiner Exfrau Sophia Thomalla, der daraufhin die Abgabe der Moderation des Dating-Formats Are You the One? bei RTL+ nahegelegt wird, oder Rockerkollege Alice Cooper.
Auslöser der Sexualisierung wiederum war im Juli die Gleichstellungsbeauftragte der Uni Flensburg, Martina Spirgatis, die die Bronze-Figur „Primavera“ von Fritz During nach 67 Jahren (!) ohne vorangehende Diskussion aus dem Foyer eines Gebäudes entfernte – und durch ein regenbogenfarbenes Fragezeichen aus dem 3-D-Drucker ersetzte. Die rund 120 cm große Plastik zeigt eine nackte Frau mit breitem Becken, das eine Bein hat sie etwas vorgeschoben, die Arme über dem Kopf verschränkt. Spirgatis sagte dem Flensburger Tageblatt, die Figur symbolisiere ein „überkommenes Frauenbild, das nicht geeignet ist, an so zentraler Stelle einer Universität als Empfangsdame“ zu stehen. Die Skulptur reduziere Frauen auf ihre Fruchtbarkeit und Gebärfähigkeit, setze sie gleich mit Natur, Kindererziehung und Fürsorge, wohingegen der Mann (eine entsprechende Plastik fehlt an der Uni selbstredend) Geist und Intellekt verkörpere. Sowohl Studenten als auch „gewisse Lehrpersonen“ hätten sich durch die Statue „unwohl“ gefühlt. Axel de Haan, Uni-Gebäudemanager, hat die Figur vorläufig in seinem Büro auf der Fensterbank untergebracht. So ergibt sich die hanebüchene Situation, dass nur noch Frauen, zumal aus einem abstrakt-beliebigen „Weiblichkeitsverständnis“ heraus, entscheiden sollen, was im Umgang mit ihnen als emotional angemessen wie auch rational zumutbar gelten darf. Das ist kein Witz: „Es geht um die Abschaffung der Frau“, zürnt Birgit Kelle auf Nius.
Schlimmer als Bild
In der Causa Lindemann verstört zunächst die Verdachtsberichterstattung bei nahezu vollständiger Abkehr von der Unschuldsvermutung; viele Sympathisanten verglichen die Debatte mit dem Fall des ARD-Wetterexperten Jörg Kachelmann, der erst wegen Vergewaltigung angezeigt und angeklagt, jedoch im Verfahren von allen Anklagepunkten freigesprochen wurde. Hier dagegen gab es nie eine Anzeige geschweige eine Anklage. Die Empörungswelle lief dennoch auf Hochtouren. Tätowiererinnen boten auf Instagram und Twitter an, dass sie Motive von Rammstein oder Till Lindemann kostenlos überdecken würden. Lediglich die Materialkosten müssten bezahlt werden. Andere stechen auf Spendenbasis – das gesammelte Geld geht dann an Organisationen, die gegen Gewalt an Frauen kämpfen.
Neben Radio Bob spielt Horizont zufolge auch der WDR aktuell keine Titel von Rammstein. Auf diesem wie auch anderen Mainstream-Sendern war die Band aber bisher ohnehin nur selten zu hören. Auch ein deutscher Darts-Profi will die Musik von Rammstein nicht mehr hören – die Einlaufsongs gehören zur Show der Trendsportart: Nach den Anschuldigungen gegen Rammstein setzt Martin Schindler „ein Zeichen“ und will von Rammsteins „Ich will“ auf seine Lieblingsband Linkin Park umsteigen. Mittlerweile hat der KiWi-Verlag die Zusammenarbeit mit Lindemann beendet, Rossmann hat den Verkauf des Lindemann-Parfüms eingestellt, das Veranstaltungsunternehmen Riggingwerk möchte künftig nicht mehr mit Rammstein arbeiten, und ihr Label Universal setzt bis auf Weiteres die Marketing- und Promoaktionen aus. „Erste Konsequenzen gibt es also auch ohne Verurteilung bereits. Richtig so!“, erdreistet sich Schwarz zu schreiben. Boykott-Aufrufe gegen die Konzerte der Band und Petitionen, sie zu verbieten, blieben dagegen folgenlos: in München stellten sich gerade 30 „Till Täter“-Demonstranten 60.000 Besuchern des ersten von vier ausverkauften Konzerten entgegen. Beim zweiten rief Lindemann: „Wir hatten ein Riesenglück mit dem angekündigten Unwetter. Glaubt mir, das Andere wird auch vorbeiziehen“.
Die Süddeutsche gibt schwedischen Fans Raum: „Es gab schon immer Groupies. Es scheint, dass deutsche Medien das jetzt erst erkannt haben. Der Skandal ist in Deutschland viel größer als anderswo.“ Der Spiegel zitiert einen Fan mit den Worten: „Mick Jagger wäre zu 100 Jahren Gefängnis verurteilt worden, hätte man an ihn die gleichen Maßstäbe angelegt wie an Lindemann.“ Das bekräftigte auch Lindemanns Anwalt Simon Bergmann im Cicero: „Das kann man alles kritisch bewerten und den moralischen Zeigefinger erheben. Ich finde diese gespielte Empörung völlig überzogen. Für mich ist das eine puritanische Hypermoral, die da an den Tag gelegt wird.“ Er bezeichnete die Berichterstattung als „schlimmer als Bild“ und warf dem Spiegel einen „reißerischen Stil“ vor. Die Presse müsse „einen Mindestbestand an Anknüpfungstatsachen besitzen und auf Verlangen auch vorweisen, die ihre Darstellung untermauern. Erst dann darf sie ihren Verdacht publizieren.“
Post von Lindemann bekamen entsprechend taz, SZ, tagesschau und t-online. Allesamt renommierte Medien, die nun auf Teile ihrer Berichterstattung verzichten müssen, denn Lindemann und Rammstein konnten vor dem Hamburger Landgericht einstweilige Verfügungen gegen ein oder mehrere Passagen in Artikeln erwirken. Begründung: Für die Verdachtsberichterstattung fehle es am erforderlichen Mindestbestand an Beweistatsachen. Nebenbei verwies Bergmann darauf, „dass das Thema mit der MeToo-Bewegung und Harvey Weinstein einen ganz neuen Spin gewonnen“ habe, es „die Leute triggert“ und hohe Verkaufszahlen generiert: „Deswegen werden Sie auch kaum MeToo-Berichte finden ohne Bezahlschranke.“ Nun, Sex sells.
Ein Gerichtsurteil untersagte Shyx inzwischen, weiterhin Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs gegen Rammstein-Sänger Till Lindemann zu erheben. Außerdem dürfe Shyx fortan nicht mehr behaupten, dass die mutmaßlich betroffenen Frauen im Backstage-Bereich zunächst „besoffen gemacht“ werden würden, bevor sich Lindemann aussuche, „mit wem er Sex haben will“. Zudem dürfe sie nicht andeuten, es handle sich bei den Anschuldigungen um die Praktiken eines „pädophilen Vergewaltigers“. Zuvor hatte Lindemann bereits gegen einen Spiegel-Leitartikel einen Teilerfolg erzielt: Unter anderem wurde dem Magazin untersagt, künftig nicht weiter den Verdacht zu äußern, Lindemann habe die mutmaßlichen Opfer mittels K.O.-Tropfen gefügig gemacht. Parallel dazu ging Lindemann zunehmend in die Offensive. Beim Song „Angst“ änderte er in Berlin den Text: „Der Rücken nass, die Hände klamm. Alle haben Angst – vor Lindemann.“ Und im letzten Hauptstadtkonzert machte er in „Ohne dich“ aus „Und die Vögel singen nicht mehr“ flugs „Und die Sänger vögeln nicht mehr“.
Nicht um die Klärung der Schuldfrage
Die „kohsie Diversity Buchhandlung“ aus Halle will mit einem offenen Brief an den Bürgermeister Egbert Geier, MDR-Intendantin Karola Wille und Stadtmarketing-Chef Mark Lange verhindern, dass gar die Rammstein-Coverband „Völkerball“ zum halleschen Laternenfest spielen darf: „Und nehmen Sie endlich dazu Stellung, weshalb Sie trotz laufender Debatte so lange zu diesem Thema geschwiegen haben.“ Das ist nicht nur ein Aufruf zur moralischen Vorverurteilung, sondern auch zur Sippenhaft. Nun hat sich Geier zu Wort gemeldet und klargestellt: „Die spielen definitiv.“ Es gebe keinen Grund, den Vertrag zu kündigen. Auch die Stadtverwaltung erklärte gegenüber dem Portal Halle Spektrum bereits, dass gegen Völkerball keine Vorwürfe vorliegen würden. Der Vertrag mit der Coverband sei bereits am 14. April abgeschlossen worden.
Angesichts der aufgeheizten Atmosphäre – der ehemalige Musikproduzent Thomas M. Stein brach bei hart aber fair gar eine Lanze für Lindemann mit den Worten „Wie der sich auf der Bühne ausarbeitet, wie der mit 60 Jahren um die Bühne rennt. Dann soll der plötzlich darunter gehen und noch jemanden beglücken? Also da muss er ins Museum, das ist ‘ne Kraft, die kannst du eigentlich gar nicht aufbringen“ – wurde in der Nacht auf den 26. Juni der Firmensitz von Rammstein in Berlin-Reinickendorf angegriffen, die Scheiben eingeworfen und die Wände mit Farbe beschmiert: „Keine Bühne für Täter“. In einem Bekennerschreiben auf kontrapolis heißt es „Wir solidarisieren uns mit den Betroffenen der organisierten sexuellen Gewalt durch Till Lindemann und Co. und machen klar: Für Täter wie euch gibt es Konsequenzen.“ Des Weiteren rufen die Verfasser auf, die Konzerte von Rammstein in Berlin „kreativ zu stören, zu sabotieren und zu verhindern“. Prompt wurden bei einem der Berliner Konzerte drei Personen aufgegriffen, die sich an einem Kabelschacht zu schaffen machten. Wann gab es in Deutschland zuletzt so brutale Kulturkämpfe aus so nichtigem Anlass?
Als sich angesichts der ausverkauften Konzerte, der Chart-Renaissance mit alten Alben und der ausbleibenden justiziablen Aufbereitung (wovon auch?) abzeichnete, dass der hochgeschriebene Skandal keiner war, bekam er dann genau die frauenpolitische Komponente, die ihm der politmediale Komplex offenbar von Anbeginn zuschreiben wollte: Bundesfrauenministerin Lisa Paus (Grüne) schlug zunächst „Schutzbereiche für Frauen“ auf Konzerten sowie den Einsatz sogenannter „Awareness-Teams“ vor, die beim Verdacht auf sexuelle Übergriffe zur Verfügung stehen sollen – was Berlins neuer Kultursenator Joe Chialo (CDU) ablehnte. Dann starteten B-Promis wie Jasmina Kuhnke, Nora Tschirner und Caroline Kebekus eine Spendenkampagne, mit der „betroffene Frauen“ Unterstützung bekommen sollen, „um sich weiter frei äußern zu können“. Wörtlich heißt es: „Es geht hier nicht um die Klärung der Schuldfrage [sic!], sondern darum, dass eine annähernde Chancengleichheit gewährt wird, damit es überhaupt zu einer Aufklärung kommen kann und die betroffenen Frauen die Unterstützung erhalten, die sie dringend benötigen”. Das ist kein Witz. Die Unterstützung erfolgt in Form der Übernahme der Kosten für die anwaltliche Vertretung, die sich die betroffenen Personen genommen haben, oder soll die Umsetzung von Schutzmaßnahmen sowie psychologischer Beratung und Therapie ermöglichen.
Begründet wird das primär mit der finanziellen Ungleichheit: „Natürlich haben Lindemann und die Band Rammstein jedes Recht, ihre Interessen rechtlich durchzusetzen. Aber wir wollen nicht, dass Betroffenen nur deshalb schweigen, weil sie Angst vor den Konsequenzen haben müssen. Das Recht auf die Äußerung der eigenen Sichtweise soll nicht von den finanziellen Verhältnissen abhängig sein”. Stand Ende Juli waren 830.000 Euro eingegangen. Das Pikante daran: Die grüne Amadeu Antonio Stiftung unterstützt im Rahmen des „SHEROES Fund für Held*innen der Demokratie“ die Kampagne. Auf gut deutsch: Männer, zumal wenn sie weiß und – auch noch mit Gassenhauern wie „Dicke Titten“ – erfolgreich sind, können per se keine Demokraten sein. Das ist auch kein Witz. Am weitesten lehnte sich Marlen Hobrack im Freitag aus dem Fenster: „Tragisch wäre, bliebe von Jahrzehnten der Kritik an patriarchaler Sexualität nur das Bild unschuldiger weiblicher Opferschaft hängen“.
Aber auch Arno Frank suchte im Spiegel nicht nur die eigene Berichterstattung zu rechtfertigen: „Es muss der Mehrheit nicht einmal bewusster Antifeminismus unterstellt werden“, fabulierte er da. „Die Dinge sollen bitte bleiben, wie sie immer waren. Das Komplizierte möge wieder einfach sein. Recht hat der Stärkere, Ausbeutung ist legitim, Sex ist Privatsache und die Show geil.“ Das ist ein Offenbarungseid: Für die Anmaßung, als Volkserzieher gescheitert zu sein, für die Arroganz, das eigene verquere Denken für die Realität zu halten, die die anderen doch bitteschön auch zu sehen haben, und natürlich für die Unfähigkeit, zwischen Natur und Kultur zu trennen.
Und er wird noch deutlicher, ja ehrlicher: „Moralische Empörung erscheint aus dieser Perspektive als elitäres Gemäkel am Bestehenden. Sauertöpfischer Moralismus, wie er von ‚den Medien‘ verbreitet wird. Wollen sie uns nicht auch das Benzin abdrehen? Die Bratwurst vom Teller nehmen? Sprachvorschriften und uns die Flugreise madig machen? Oma die Ölheizung ausbauen? Haben sie uns nicht auch schon die Glühbirne durch LED-Leuchten ersetzt, die D-Mark durch den Euro? Wie war das mit den Impfstoffen? Und jetzt wollen sie auch noch Rammstein verbieten? Das Bescheidwissen der Bescheidwisser hat aus dieser Warte etwas Aufdringliches, Aufreizendes.“ Sein Eingeständnis: „Es hat eine Abstimmung mit den Füßen und mit dem Geldbeutel stattgefunden.“ Und – bald an den Wahlurnen, darf man mit Blick auf jüngste Umfrageergebnisse getrost konstatieren.
Nichts mit Machtmissbrauch zu tun
„Eine deutsche Rockband füllte das Stadion sogar viermal – ein absoluter Rekord“, schreibt Marion Schöne, CEO des Olympiaparks München, auf ihrem LinkedIn-Profil und fügt hinzu: „Aber in Anbetracht der Enthüllungen einiger weiblicher Fans, konnte bei mir darüber keine Freude aufkommen.“ Der Merkur, der darüber berichtete, sieht sich allerdings bei jedem diesbezüglichen Text zu diesem Disclaimer gezwungen: „Aufgrund des öffentlichen Interesses, das im Fall Till Lindemann besteht, berichten wir regelmäßig über die Vorwürfe. Entsprechende Artikel sind weder als Schuldzuweisung noch Verteidigung zu verstehen – im Gegenteil: Wir sind um eine neutrale Berichterstattung bemüht und versuchen, die Stimmen von Für- und Gegensprechern einzufangen, um ein ähnlich heterogenes Stimmungsbild wiederzugeben, wie es sich auch innerhalb der Gesellschaft abzeichnet.“
„Vielleicht ist Till Lindemann ja das Opfer“, kehrt Pütz Anfang August die Perspektive um. „Als langjähriger Männercoach habe ich reichlich Erfahrung damit, dass auch Frauen alle möglichen psychischen Probleme haben und sich Dinge einbilden oder sie erfinden, weil sie sich interessant machen, Vorteile verschaffen oder sich an Männern rächen wollen.“ Diese Frauen seien erwachsen und haben sich offenbar für den Sex entschieden, meint er. „Ich kann verstehen, wenn sie diese Entscheidung später bereut haben, denn für mich ist dieses Groupie-Wesen nahe an Prostitution. Das ist aber kein Grund, die Frauen quasi zu entmündigen und zu behandeln wie kleine Kinder, die nicht wissen, was sie tun!“, nimmt er dann die Medien ins Gebet.
Wenn man Frauen zur Eigenverantwortung unfähig hält, weshalb man sie besser vor allem und jedem beschützt, erinnere ihn das an den Islam. Es gehöre „zu einer der erfolgreichsten Strategien des Männchens, dem Weibchen nicht auf die Nase zu binden, was seine evolutionären Absichten sind… Doch selbst wenn Lindemann ein abgefeimtes System unterhält, Frauen auf Partys zu locken und sie dort zum Sex zu drängen, was ich keineswegs ausschließe, hat das dennoch nichts mit ‚Machtmissbrauch‘ zu tun, wie die Medien schreiben. Sondern damit, dass viele Frauen dabei gerne mitmachen. Denn würden alle wie Kayla Shyx einfach aufstehen und gehen, wäre es damit vorbei!“
Auch Bergmann lehnt den Vorwurf des Machtmissbrauchs strikt ab, weil er auf einer Gleichsetzung Lindemanns mit Harvey Weinstein beruht: „Er war Filmproduzent, er hatte sehr viel Macht, er konnte bestimmen, ob jemand auf der Karriereleiter hoch- oder runterrutscht … es wird also suggeriert, so könnte auch Till Lindemann enden. Wegen schwerer Sexualstraftaten, was nach aktuellem Sachstand nicht ansatzweise in Betracht kommt und übrigens nicht einmal von den Vorwürfen, die der Spiegel erhebt, gedeckt ist.“ Prominenz des Rockstars soll die Macht sein, die er ausnutze, konstatiert er. „Nur: Diesen Vorwurf könnten Sie gegen jeden Prominenten erheben, der mit einer Frau, die vielleicht nicht seine eigene ist, Sex hat.“ Damit würden „alle Frauen zu Opfern gemacht, die mit einem Prominenten ins Bett gehen.“
Von da an ist es nicht mehr weit zur Behauptung, dass Machtmissbrauch ist, wenn ein Mann, einerlei ob prominent oder nicht, eine Frau erobert. Das lässt urlinke Muster zutage treten: Neben der allumfassenden Gleichheitsideologie auch die Abwertungsstrategie, dass Starke und Erfolgreiche immer böse Täter sein müssen, die es mindestens einzuhegen und zu pazifizieren gilt, weshalb bei schweren, aber unbewiesenen Vorwürfen einfach sicherheitshalber mal den Beschuldigern zu glauben ist. Damit aber erscheint als Schuldeingeständnis sowohl, sich gegen Vorverurteilungen zu wehren, als auch juristisch dagegen vorzugehen wie ebenso, einfach zu schweigen. Wenn aber bereits moralisch verwerflich ist, nach Belegen für schwere Vorwürfe zu fragen, ist das eine ungeheuerliche Entwicklung: Moralisches Empfinden darf niemals den Rechtsstaat ersetzen, die abstrakte Wichtig-, ja „Sichtbarkeit“ eines Delikts nie den vielleicht zu Unrecht beschuldigten konkreten Verdächtigen.
Frauen als intellektuelle Persönlichkeiten adressiert
Das Resultat erlebt die Republik nun seit den kolonialen Rückgabe- und Umbenennungsorgien regelmäßig in fast jedem Kräftemessen mit internationaler Beteiligung: Ob beim European Songcontest, bei dem die Deutschen Letzter werden, ob bei Fußball-Weltmeisterschaften, bei denen Männlein wie Weiblein nach der Vorrunde sang- und klanglos ausscheiden, oder, drastischstes Beispiel, im Ukrainekrieg: „Beim Siegen helfen“, euphemisiert Ann-Dorit Boy im Spiegel das deutsche Agieren gegen die Atommacht Russland. Entsprechend verwundert nicht die politische Dimension, die dem Nicht-Fall Lindemann unterstellt wurde: „Auf ein Rammstein-Konzert zu gehen ist wie AfD wählen“, schoss Stephan Maus im Stern den Vogel ab. In dieselbe Kerbe schlug aber auch Ralf Niemczyk im Rolling Stone. Mit Blick auf „toxische Männlichkeit, Chauvinismus und den Aufstieg der AfD“ schlagzeilt er: „Rammstein – Stehen sie für den ‚wachsenden rechten Zeitgeist‘?“ Das ist ebenfalls kein Witz.
Solche Sätze kann nur ernst meinen, wer erotische Anziehung nebst Fortpflanzung mit all ihren Wirr- und Fährnissen für wiedernatürlich hält und stattdessen der „Birthstrike“-Bewegung huldigt, deren Anhänger aufs Kinderkriegen verzichten, um den Planeten zu retten: „Jedes weitere Kind auf der Erde verursacht CO2, das sonst eingespart werden könnte“, so der Ethiker und Ökonom Dominic Roser vom Institut für Ethik und Menschenrechte an der Universität Freiburg (Schweiz) im Focus. Ironie der Geschichte: Der Verein für Popkultur, der am 5. Oktober seinen Preis für Popkultur verleiht, hat in diesem Jahr auch Kayla Shyx nominiert – in der Kategorie „Schönste Geschichte“. Nach einem Shitstorm löschte der Verein das Posting und benannte die Kategorie in „Bewegendste Geschichte“ um.
Während hier die Frau als Opfer moralisch erhoben und gewissermaßen „unangreifbar“ gemacht werden soll, zeigt die zweite Causa, wie sie sexualisiert wird und damit angreifbar, was wiederum zur Begründung ihrer aktiven Verteidigung als Opfer herhalten muss – die dann zum Ikonoklasmus oder, modern, zur Cancel Culture mutiert. Aus der frauenpolitischen Debatte von eben wurde zunächst eine wissenschaftspolitische: Vorausgegangen seien Diskussionen im Gleichstellungs- und Diversitätsausschuss, teilte die Universität mit. Dabei sei es um die Frage gegangen, ob die Darstellung eines Frauenkörpers richtig platziert sei – im Foyer einer Universität, die „Frauen als intellektuelle Persönlichkeiten adressiert“. Es sei um den Zusammenhang von Figur und Ort, nicht die Figur an sich gegangen. Die Plastik orientiere sich an dem gleichnamigen Gemälde Sandro Boticellis – Primavera (Frühling) steht unter anderem für „Neuanfang, Gebären“. Diese Figur mit ihrem ausgeprägten Becken lasse „nicht einen Hauch von Intellektualität zu“, sagte Spirgatis der SHZ. Der Witz-Verweis verbietet sich hier.
Ohne auf explizite Gegenbeispiele wie Katharina die Große oder Christa Wolf, aber auch Nobelpreisträgerinnen wie Bertha von Suttner, Gabriela Mistral und Doris Lessing einzugehen: Schon das ist ausgemachter Unsinn. Die meisten Frauen haben biologisch-funktional bedingt ein breiteres Becken: Die Venus vom Hohle Fels gehört ebenso wie die Venus vom Galgenberg nicht nur zu den weltweit ältesten Darstellungen des menschlichen (weiblichen) Körpers, sondern zu den ersten artifiziellen Artefakten überhaupt – verehrten unsere steinzeitlichen Ahnen Dumme? Laut Evolution and Human Behaviour (2007) stehen eine kurvige Hüfte und ein praller Po für einen niedrigen Cholesterin- und Glucose-Wert, wodurch sich das Risiko für Diabetes und auch für Herz-Kreislauf-Erkrankungen senkt. Frauen mit einer kurvigen Figur weisen außerdem einen höheren Hormonspiegel auf, der sich positiv auf den Stoffwechsel auswirkt, zitiert die Welt aus der Studie. Ein kurviger Körper beeinflusst außerdem das Gehirn positiv: Den Grund dafür sehen die Wissenschaftler im erhöhten Fettanteil. Dieser nimmt besser Omega-3-Fettsäuren auf, die unter anderen die Hirnzellen pushen. Insofern steht die Primavera gerade für Geist und Gesundheit, ergo ist das Canceln nicht nur frauenfeindlich, sondern sui generis schlicht dumm: Denn es impliziert, dass man immer alle Aspekte einer Frau darstellen und erwähnen muss. Das ist aber völlig unmöglich, es ist vor allem unnötig. Wer Christa Wolf als „herausragende Autorin“ hervorhebt, „reduziert“ sie dann auf ihr Schreiben und blendet ihre Mutterschaft aus?
Kunst zu entfernen ist wie Grüne wählen
Hinzu kommt: Die kulturpolitische Dimension des Cancelns wurde kaum thematisiert. Man kann in einem Land, in dem Werke wie Ernst Barlachs „Die Kupplerin“ (1920) zur „entarteten Kunst“ erklärt wurden, nicht einfach eine Skulptur wie Durings Primavera aus dem öffentlichen Raum entfernen. During hatte während des Faschismus bei Ludwig Gies, einem verfemten Künstler, gelernt. Seine Skulptur, elf Jahre nach den horrenden Erfahrungen von Krieg und Faschismus, zeigt „eine dem Leben zugewandte Figur. Ein hoffnungsvolles Symbol für eine neue, friedliche Zeit“, meint Anette Schneider im NDR. Was genau sollen die Flensburger Studenten eigentlich daraus lernen, wenn ihre Uni nach fast 70 Jahren ein Kunstwerk aus dem Foyer entfernen lässt? Die (Akt-) Skulpturen Fritz Durings sind übrigens überall in Schleswig-Holstein zu finden: In Parks und Gärten, Museen, Schulen und öffentlichen Einrichtungen. Kann es ein schlechteres Beispiel für den wachsenden linken Zeitgeist geben als diese Mischung aus toxischer Gesinnungshuberei und Feminismus? Nebenbei: die Uni – übrigens in Beate Uhses Sex-Stadt – liegt in Robert Habecks Wahlkreis.
Dann muss im Umkehrschluss zu Maus auch die Behauptung gestattet sein: „Kunst zu entfernen ist wie Grüne wählen“. Dass diese Behauptung vollkommen gerechtfertigt ist, zeigt die Petition des erbosten studentischen Uni-Senators Janko Koch: „Dass sich Gleichstellungs- und Diversitätsbeauftragte die Deutungshoheit über Kunstwerke zu eigen machen, ist höchst problematisch“, heißt es darin. Und weiter: „Die demokratischen Regularien zum Entfernen der Skulptur wurden sowohl seitens des Präsidiums wie auch seitens des Gleichstellungs- und Diversitätsausschusses des Senats nicht eingehalten. Es kann nicht sein, dass ein Ausschuss eines Gremiums dieses übergeht und somit unsere demokratischen Strukturen vorsätzlich missachtet. Kunst darf nicht einfach so verschwinden. Dem Gleichstellungs- und Diversitätsbeauftragen die alleinige Deutungshoheit über die Kunst zu übertragen löst genau dieses Problem, das die Petition beheben will, aus. Abgesehen davon: der Imageverlust ist durch die Aktion entstanden, ein Kunstwerk wegen hanebüchener Befindlichkeiten zu entfernen. Die Rückführung des Kunstwerkes könnte indes das Image des Gremiums wieder herstellen, weil damit ein gemachter Fehler eingestanden wird.“
Auch der AStA hat sich eingeschaltet. Die Studierendenvertretung kritisierte die Einschränkung der Kunstfreiheit und forderte, die umstrittene Skulptur wieder am ursprünglichen Ort aufzustellen. „Ich habe mit vielen Studentinnen gesprochen, die entsetzt auf die Entfernung der Primavera reagiert haben. Dass die Darstellung von Weiblichkeit an unserer Universität nun vollständig von der Interpretation des Gleichstellungs- und Diversitätsausschusses abhängig ist, ist katastrophal. Die Universität muss mit der Rückführung der Statue ein Zeichen für einen offenen Diskurs in Sachen Kunstfreiheit setzen“, so Alina Jacobs, stellvertretende AStA-Vorsitzende. Das Präsidium der Universität teilte nun Ende Juli mit, es bedauere, dass die Plastik ohne vorangehende Diskussion aus dem Foyer entfernt wurde. Das Kunstwerk solle ab dem Herbstsemester 2023 wieder öffentlich zugänglich gemacht werden. Außerdem werde es Gelegenheit für Diskussion und Meinungsaustausch geben. Die Universität stellt übrigens seit 2021 „kostenlose Periodenprodukte“ allen, die sich angesprochen fühlen, zur Verfügung: Hier gibt es offenbar ein ausgeprägtes Bewusstsein fürs Weiblichsein, das nur bei Skulpturen unerwünscht ist.
Mütterverachtend und destruktiv
Diese Facetten allerdings verdecken die eigentliche, die zivilisationspolitische Dimension dieses barbarischen Akts. Denn was passiert zunächst, wenn weibliche Körperformen problematisiert werden? Mädchen und Frauen versuchen dann noch mehr – als ob sie nicht schon genug Stress mit Instagram-Schönheiten und anderen Influencern haben – einem Ideal zu entsprechen, um auch an der Uni gelten zu können. Und dieses Ideal heißt: Schaff deine Hüfte ab, werde weniger Frau und mehr – ja was eigentlich? Irgendwas dazwischen, oder vielleicht doch ganz Mann, denn der ist nicht fruchtbar und damit sicher klüger. „Der regenbogenfarbengeschulte Blick nimmt die Entfernung der Kunstskulptur als ein Angebot an jene ‚Transfrauen‘ wahr, die nun mal weder ein weibliches Becken haben noch gebärfähig sind. Offensichtlich wimmelt es an der Universität nur vor in dieser Form kränkbaren Personen“, flüchtet sich Cora Stephan auf Tichys Einblick in Ironie. Haben Frauen so wenig Selbstvertrauen, dass sie eine Skulptur aus der Fassung bringt? Und wie sehen eigentlich denkende Frauen aus – wie Annalena Baerbock, Saskia Esken oder Ricarda Lang? Dann passt es doch.
Ein Fragezeichen in Regenbogenfarben ist natürlich entspannter und lenkt von den eigenen Unzulänglichkeiten ab statt sich täglich damit zu konfrontieren. Das alles ist weniger feministisch denn mütterverachtend und destruktiv. Zu betonen, dass Frau mehr ist als „Becken“, ist schon absurd. Vielleicht dachte der Künstler an eine Hommage, etwa an das Wunder der Schöpfung, oder an die Herrlichkeit der Frau? Als die Primavera-Figur entstand, wurde sie als innovative Kunst gepriesen, die das wachsende Leben repräsentiert. Es ist mehr als anmaßend zu unterstellen, dass sie nicht auch denken könnte. Nun versuchen Aktivisten wie so oft, die Kunst der Vergangenheit nach ihren aktuellen, subjektiven Maßstäben zu beurteilen, die sie für das Maß aller Dinge halten. Es ist ihre eigene Deutung, die das Unbehagen auslöst, sie sind es, die beim Anblick eines breiten Beckens an Kindergebären denken. Sie schließen von der Anatomie auf die Bestimmung der Frau. Würde der Begriff nicht inflationär gebraucht von ebendiesen Kreisen, könnte man ihre Ansicht sexistisch nennen.
Wohl jedem gebildeten Leser kommt spätestens an dieser Stelle Spenglers „Ibsenweib“ in den Sinn, „die Kameradin, die Heldin einer ganzen weltstädtischen Literatur vom nordischen Drama bis zum Pariser Roman. Statt der Kinder haben sie seelische Konflikte, die Ehe ist eine kunstgewerbliche Aufgabe und es kommt darauf an, ‚sich gegenseitig zu verstehen‘… Sie gehören alle sich selbst, und sie sind alle unfruchtbar.“ Er konstruiert es in bewusstem Gegensatz zum Urweib, zum „Bauernweib“ als „Mutter. Seine ganze von Kindheit an ersehnte Bestimmung liegt in diesem Worte beschlossen.“ Für das moderne Ibsenweib hatte Spengler nur Verachtung übrig, und es schauderte ihn vor dessen Verehrern: „Auf dieser Stufe beginnt in allen Zivilisationen das mehrhundertjährige Stadium einer entsetzlichen Entvölkerung. Die ganze Pyramide des kulturfähigen Menschentums verschwindet. Sie wird von der Spitze herab abgebaut … Nur das primitive Blut bleibt zuletzt übrig, aber seiner starken und zukunftsreichen Elemente beraubt. Es entsteht der Typus des Fellachen.“
Buchstäblich ratlos
Ohne zu unterstellen, dass alle Diskutanten diese Sätze aus dem „Untergang des Abendlandes“ parat hätten, zeugt der Hüftprotest mindestens unbewusst von der Wahrhaftigkeit des Spengler‘schen Verdikts, auf dem Zustimmung und Ablehnung gleichermaßen beruhen: Wer sich als über die Natur erhaben fühlt, blickt verächtlich auf dieselbe herab – und vice versa. Heute studieren mehr Frauen als Männer, kaum jemand stellt noch infrage, dass Frauen Männern intellektuell ebenbürtig sind. Dafür muss eine Frau ihre Körperlichkeit nicht abspalten – aber wird genau darum wieder von einem Studienort verbannt? Durings Frauenstatue weckt Phantasien und provoziert Deutungen. Man findet sie schön und anmutig, oder sie gefällt einem nicht, und man nimmt Anstoß, so wie es Aufgabe der Kunst ist. „Dass ein buntes Fragezeichen einen Denkprozess in Gang setzt, muss man nicht befürchten. Es macht buchstäblich ratlos. Das Fragezeichen bezeichnet nichts und kann deshalb auch keinen Anstoß erregen. Es ist das angemessene Zeichen für junge Menschen, die durch nichts beunruhigt werden möchten. Alles potenziell Störende ist in der Harmonie des Regenbogens aufgelöst, dem Symbol für Vielfalt und Toleranz“, so Alexander Kissler in der NZZ.
Genau diese Toleranz lassen die Kritikerinnen vermissen. Stattdessen verfahren sie nach einer bekannten Methode des Queer-Feminismus: Die Frau wird zum Verschwinden gebracht, und alle anderen Geschlechter werden unter dem Regenbogen versammelt, damit niemand ausgegrenzt wird. In der Nürnberger St. Egidien-Gemeinde etwa wurde Ende Juli Rosa von Praunheims schwul-pornographische Ausstellung „JESUS LIEBT! Bilder zu Liebe, Sex und Christentum“ im Rahmen der Prideweeks zum CSD Nürnbergs nach massiven Protesten abgehängt. Zum Abschluss sollte Mitte August gar ein Kulturgottesdienst „Von rosa Brillen und schwulen Blicken“ stattfinden. „Die Regenbogenflagge ist zum Leichentuch geworden, mit dem Frausein unsichtbar gemacht, begraben, vernichtet werden soll“, so eine FDP-nahe Anwältin auf Facebook.
Die Verzweckung der Kunst führt früher oder später in ihre Selbstabschaffung, befindet Hanno Rauterberg im NDR. Nützlichkeit und Freiheit schließen sich in der Kunst aus: sie muss aus sich heraus wertvoll sein und nie ihren Wert in der gesellschaftlichen Wirklichkeit erwirtschaften müssen. Die Aktion ist ein weiteres Beispiel für die illiberalen Irrungen und Wirrungen an Universitäten. 2018 wurde an der Alice-Salomon-Schule in Berlin ein Liebesgedicht von Eugen Gomringer übermalt. Studentinnen hatten beanstandet, dass es Frauen zum Objekt männlicher Bewunderer degradiere. Letztes Jahr hängte die Universität Leiden ein Gemälde des Künstlers Rein Dool ab, welches sechs Männer, drei davon rauchend, zeigt. Eine Doktorandin fühlte sich unbehaglich, wenn sie es im Sitzungszimmer anschauen musste. Während der Metoo-Debatte ließen Museen Gemälde mit nackten Frauen im Depot verschwinden, in Manchester traf es Nymphen aus dem 19. Jahrhundert. Die Diskussionen um Rassismus und Kolonialismus veranlassten Museen, teils jahrhundertealte Kunstwerke umzubenennen: Begriffe wie „Zigeuner“ oder „Neger“ wurden aus den Bildtiteln gestrichen. In Dresden wurde so aus dem „Kopf eines Negerknaben“ der „Studienkopf eines jungen Mannes“, ohne dass sich die längst verstorbenen Künstler wehren konnten.
Der bügelt Geschichte glatt
„Man könnte diese Schönschreibungen als Kleinigkeiten abtun, hätten sie nicht fatale Folgen: Wer unbequeme Kunstwerke abhängt oder historisch gewachsene Bildtitel verändert, der bügelt Geschichte glatt“, ärgert sich Schneider. Ein anderer Name für Universität ist die lateinische Bezeichnung Alma Mater, was übersetzt „gütige, nährende Mutter“ heißt. Fragt sich, wie lange noch. Denn Universitäten sind Orte von Wissenschaft, Aufklärung und Bildung, an denen für Freiheit, auch die Freiheit der Kunst, gekämpft wurde. Seit rund 300 Jahren hat sich dabei die Methode des historischen Denkens, die Kunstwerke aus ihren jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Kontexten heraus beurteilt, bestens bewährt. Nun reicht ein „Unwohlsein“, um Kunst aus dem öffentlichen Raum zu verbannen. Das ist leider auch kein Witz. Muss sich Mann „unwohl“ fühlen, wenn er Michelangelos „David“ ansieht?
Eindimensionalität als Koordinatensystem infantiler Ästhetik: Vielleicht machen es die Taliban ja doch richtig, wenn sie den Frauen einfach einen Sack überwerfen, denn dann kann sich darunter alles verbergen, oder auch nichts. Der Hass aufs Weibliche ist ebenso wie der Hass aufs Männliche eine Verachtung des Menschlichen. Die Vernichtung von Männlichkeit und Weiblichkeit, von Kultur, Kunstsinn und Humanismus, von Geschichte, ja beseelten Identitäten jenseits der identitätspolitisch motivierten Barbarei, die die europäische Zivilisation verabscheut und alles angreift, was eine aufgeklärte, differenzierte und vielfältige Tradition von Meinungs- und Kunstfreiheit ausmacht, beweist erneut, dass geschichtslose Narzissten verbannen, was sie nicht verstehen können oder nicht verstehen wollen. Seit wann sind Unis eigentlich Wohlfühloasen, in denen die Studenten nicht mit Meinungen und Weltanschauungen konfrontiert werden wollen, die ihren eigenen widersprechen?
Den vorläufig letzten Akt dieser Vernichtung läutete Mitte August die FDP ein: Jürgen Lenders, MdB, hält es laut BILD für richtig, dass „Transmenschen entscheiden können, ob sie in einem Frauen- oder Männergefängnis inhaftiert werden“. Hintergrund seiner Äußerung ist die Transperson Penelope Frank, die als Mitglied der „Letzten Generation“ im Herbst letzten Jahres in einer Sabotageaktion den Berliner Flughafen BER lahmgelegt hatte. Mit 50 umgeleiteten Flugzeugen und tausenden gestrandeten Reisenden war ein Millionenschaden entstanden. Nun droht Frank dafür eine Haftstrafe. Der biologische Mann befürchtet jedoch eine „erhöhte Transfeindlichkeit“ in der JVA für Männer. Daher möchte er im Frauengefängnis untergebracht werden. Frank soll laut Medienberichten keine eigene Wohnung besitzen und „sexuelle Leistungen“ anbieten – vor allem für Frauen. Auch das ist kein Witz.
„Wer sich abwendet von der Schönheit / der begeht / Verrat an der Schönheit des Lebens / und an der Schönheit der Welt“, dichtete Erich Fried. „Männer werden gefügig gemacht, indem man ihnen einredet, sich als ‚toxisch‘ und schuldig zu betrachten; und Frauen, indem man ihnen weismacht, hilflose Opfer zu sein, die ohne den Schutz des Feminismus allein nicht bestehen können“, fasst Pütz beide Demontagen blendend zusammen. Das ist „ein Radikalfeminismus, der gegen Männer und Frauen gleichermaßen kämpft, indem er beide entmündigt.“ Das nächste Stadium ist dann wohl ein Bürgerkrieg der Gefühle.
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Über den Autor: Thomas Hartung, geb. 1962 in Erfurt; promovierte nach seinem Lehramtsstudium in Magdeburg 1992 zur deutschen Gegenwartsliteratur und war danach als Radio- und Fernseh-Journalist in
Sachsen-Anhalt und Sachsen sowie als freiberuflicher Dozent für Medienproduktion und Medienwissenschaft an vielen Hochschulen Deutschlands tätig; der bekennende „Erzliberalkonservative“ trat als Student in die LDPD ein und 1990 aus der FDP aus: von „misslungener Einheit“ nicht nur mit Blick auf die Parteienfusion spricht er bis heute; Hartung war im April 2013 Mitbegründer der AfD Sachsen und wurde zweimal zum Landesvize gewählt. Seit März 2020 ist er Pressesprecher der AfD-Fraktion Baden-Württemberg. Hier können Sie TUMULT abonnieren. Für Einzelbestellungen klicken Sie bitte hier.