Wenn sie für ihre persönliche Diskriminierung nun wirklich keinerlei Beleg mehr finden könne, so Michael Klonovsky in 'Aphorismen und Ähnliches', fühle sich die moderne Feministin eben stellvertretend in Afrika oder in der Antike unterdrückt. Auch wer für autochthonen Judenhass täglich weniger Belege mit Gegenwartsbezug vorzuweisen hat, so ließe sich nach ähnlichem Muster folgern, weicht erleichtert und erfolgsgewiss in vergangene Jahrhunderte aus, den Zeigefinger lieber bequem fremden Zeiten als souverän Raumfremden gegenüber hebend: Bach traf es unlängst, nun sind die Brüder Grimm an der Reihe.
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Könnte es sein, dass der Generation von Literaturwissenschaftlern nach 1945 die Vorstellung „schlichtweg anstößig erschienen“ sein mag, dass die Gebrüder Grimm „an ihrer Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten nicht gänzlich unschuldig gewesen“ sein dürften, und sie daher das Forschungsfeld „Antisemitismus“ bei den Brüdern mit einem Tabu belegte? Mit dieser These forderte der Publizist und Ex-Titanic-Redakteur Gerhard Henschel in der schüchtern-unverfänglich klingenden Rubrik „Marginalien“ des Novemberhefts des Merkur, der 1947 gegründeten „Zeitschrift für europäisches Denken“, nach gründlicher Lektüre ihrer Briefe und Tagebücher weitere Forschungen über dieses Thema. Grund: Wilhelm Schoof (1876 - 1975), der erste Germanist, der sich mit dem Judenbild der Grimms beschäftigte, schrieb im Hanauer Anzeiger am 3. Januar 1935, einen Tag vor Jacob Grimms 150. Geburtstag, dass „Jacob Grimm von den gleichen Gedanken beseelt war und um dasselbe Ziel gerungen hat wie Adolf Hitler“.
1941 legte Schoof in der Zeitschrift Rasse nach:
„Obwohl ihm die heutigen Probleme von Blut, Rasse, Erbe noch nicht geläufig waren, hat Jacob Grimm mit genialem Spürblick doch ihre grundlegende Bedeutung für das Volkstum vorausgeahnt und betont, dass es für die Formung der Geistes- und Lebensrichtung eines Geschlechtes nichts Wertvolleres geben könne als das stolze Bewusstsein einer völkischen Kultur [...] Am klarsten hat er seine Anschauung im Sinne unserer heutigen völkischen Selbstbestimmung in der Vorrede zu seiner deutschen Mythologie umrissen: ‚Jedwedem Volke scheint es von Natur eingeflößt, sich abzuschließen und von fremden Bestandteilen unangerührt zu erhalten‘.“
Henschel berichtet nun: „Nach Kriegsende ließ er diesen Forschungszweig kommentarlos auf sich beruhen und wandte sich weniger verfänglichen Aspekten der Grimm-Forschung zu“. Man muss dem Autor, der der „Neuen Frankfurter Schule“ zugerechnet wird, zunächst akribische Quellenarbeit zugutehalten – wenn es ihm nur darum ginge, den Umstand darzustellen, könnte man dies unter wissenschaftlichem Aspekt als positiv verbuchen. Doch Mainstreammedien aktualisierten das sofort politisch: „Wir haben einen hermeneutischen Extremfall – und in Zeiten steigenden Antisemitismus einen klaren Forschungsauftrag an die Germanistik“, dekretiert Jan Drees im DLF. Woher der aktuelle Antisemitismus mehrheitlich stammt und was die Germanistik damit zu tun haben sollte, diskutiert Drees natürlich ebenso wenig wie er die historische Einordnung der Grimms in den soziokulturellen Kontext durch Henschel referiert.
„In der Romantik war Antisemitismus nichts Ungewöhnliches“
Denn erst am 14. Mai 1816 räumte das Kurfürstentum Hessen den Juden durch ein Gesetz staatsbürgerliche Rechte ein: die Zeit des Lebens im Ghetto war also gerade zu Ende gegangen, die Emanzipation der Juden hatte erst begonnen. Gegen ihre Aufnahme in die bürgerliche Gesellschaft gab es weiterhin die aus dem Mittelalter rührenden Vorbehalte, die sich dann allmählich in den modernen Antisemitismus wandelten. Doch dass der kein hauptsächlich deutsches Kind ist, sondern um 1900 in Russland, Griechenland und vornehmlich in Frankreich wesentlich ausgeprägter als in Deutschland gelebt wurde, stellte zuletzt der renommierte Historiker Götz Aly in seinem 2017 erschienen Buch „Europa gegen die Juden“ dar.
Vor diesem Hintergrund sind viele „unschöne Bemerkungen“ zu sehen, die von einer „diffusen Antipathie“ zeugen, meint der Lehrstuhlinhaber der Brüder-Grimm-Stiftungsprofessur an der Universität Kassel, Holger Ehrhardt. So schreibt Jacob in einem Brief an seinen Bruder Wilhelm, dass der „Arzt Koreff aus Breslau wie alle getauften Juden etwas vorlautes Widriges“ habe. Er spottet über „jüdisches Gepräge“, alles zu treiben, „was Wirkung macht und wovon sie sich Vortheil versprechen.“ Wilhelm wiederum notierte in seinem Wiesbadener Kurtagebuch 1833: „Ich bemerke nur daß die Juden immer mehr überhand nehmen, ganze Tische u. Plätze sind damit angefüllt, da sitzen sie mit der ihnen eigenen Unverschämtheit, fressen Eis u. legen es auf ihre dicken u. wulstigen Lippen, daß einem alle Lust nach Eis vergeht. Getaufte Juden sind auch zu sehen, aber erst in der 5ten oder 6ten Generation wird der Knoblauch zu Fleisch.“ Zur Erinnerung: Karl Marx und Heinrich Heine waren zwangsgetaufte Juden, die doch als Exilanten starben.
Ein eigenes Kapitel ist allerdings das wenig bekannte Hausmärchen „Der Jude im Dorn“ (KHM 110), in dem ein Jude in einer Dornhecke tanzen muss und am Ende aufgehängt wird. Grimms verschärften in der Neuauflage von 1837 gegenüber der Erstausgabe von 1815 die antijüdische Stigmatisierung, wenn aus „begegnet einem Juden“ ein „Jude mit einem langen Ziegenbart“ wird, der sich überdies einer Sprache bedient, die ihn lächerlich erscheinen lassen sollte: „Herr Richter, au weih geschrien!“. „Man hätte dieses Märchen durchaus weglassen können. Das haben die Brüder Grimm aber nicht getan, weil der Jude ein negatives Klischee erfüllt hat, das zu Lebzeiten der Grimms nicht als anstößig empfunden wurde“, so Ehrhardt.
Auch in den Grimm‘schen Sagen-Sammlungen werden in „Der ewige Jude“, „Der Judenstein“ oder „Das von den Juden getötete Mägdlein“ antijüdische Klischees und Ritualmord-Legenden als deutsches Volksgut transportiert und zur Volksweisheit überhöht. Letztere beginnt so:
„Im Jahr 1267 war zu Pforzheim eine alte Frau, die verkaufte den Juden aus Geiz ein unschuldiges, siebenjähriges Mädchen. Die Juden stopften ihm den Mund, daß es nicht schreien konnte, schnitten ihm die Adern auf, und umwanden es, um sein Blut aufzufangen, mit Tüchern. Das arme Kind starb bald unter der Marter und sie warfens in die Enz, eine Last von Steinen oben drauf.“
Jetzt dürfe man diesen Aspekt allerdings auch nicht überbewerten: „In der Romantik war Antisemitismus nichts Ungewöhnliches, und die Brüder Grimm waren hier leider keine löblichen Ausnahmen“, so Ehrhardt in der NOZ. Denn die Suche nach nationaler Identität in Deutschland führte damals zu jenen unseligen historischen Verknüpfungen. „In ihrer biedermeierlichen Gelehrtenhaltung beschränkten sich die Brüder Grimm auf das Sammeln und Hegen und übersahen, dass sie die antijüdischen Vorbehalte bedienten und gesellschaftlich akzeptabel machten“, befindet Ehrhardt. Er verweist aber auch darauf, „dass die Grimms im täglichen Umgang mit Juden durchaus fair waren. Beispielsweise waren die Kasseler Brüder Rinald diejenigen, die die Geldgeschäfte der Grimms erledigt haben, auch noch, als diese schon in Berlin wohnten.“
Affekte statt Argumente
Problematisch an der durch Henschel initiierten Diskussion sind vor allem drei Dinge. Zum einen die - begrifflicher Unschärfe zwischen Antisemitismus und Antijudaismus geschuldete - Beschädigung von Heinz Rölleke, dem verdienten Nestor der Märchenforschung, der 2007 in einem Aufsatz schrieb, man sage den Brüdern Grimm „zuweilen unbesehen, einigermaßen töricht und ganz zu Unrecht“ Antisemitismus nach. „Heinz Rölleke, übernehmen Sie!“ trötet Drees prompt am Ende seines Beitrags und fordert damit unverblümt einen öffentlichen Widerruf. „Ihr Antijudaismus war zwar noch kein antichristlicher und insgesamt antihumanistischer oder gar rassistischer, aber auch so ein zweifelsfreier“, hat zu den Grimms jedoch schon 2002 der Literaturwissenschaftler Richard Faber angemerkt. Das sieht Ehrhardt trotz beibehaltener begrifflicher Unschärfe ähnlich: „Man muss an dieser Stelle vorsichtig sein: Das hat mit dem ‚Dritten Reich‘ nichts zu tun. Antisemitismus oder Antijudaismus ist sehr kompliziert, und er hat eine lange Geschichte. Die Frage hier ist: Was macht eigentlich den romantischen Antisemitismus aus, wie weit geht er, und wie äußert er sich?“ Der Kontext sei immens wichtig.
Zum zweiten platzt Henschels Forderung „Jetzt lässt sich das alles endlich unbefangen in den Blick nehmen, und man darf gespannt darauf sein, welche Wahrheiten noch an den Tag kommen werden“ in eine Zeit, in der importierter islamischer Antisemitismus hierzulande einen ungeheuren Aufschwung feiert, die mithin so „unbefangen“ nicht ist. Die Hadithe fordern Muslime ausdrücklich dazu auf, Juden zu töten. Bereits der Prophet ließ jüdische Stämme vernichten und verübte laut Yehuda Bauers „Der islamische Antisemitismus“ (Münster 2018) nach heutigen Maßstäben einen Genozid. Mohammed Amin el-Husseini, der berüchtigte Großmufti von Jerusalem und Nazi-Kollaborateur, predigte in seinen Radioansprachen aus dem Deutschland der 1940er Jahre ganz in diesem genozidalen Sinn. Heute pflegt diese religiöse Tradition die Terrororganisation „Hamas“, die der 1928 von Hassan al-Banna gegründeten Muslimbruderschaft verpflichtet ist.
Dass Drees daraus einen „klaren Forschungsauftrag an die Germanistik“ ableitet, liest sich trotz des unsäglichen Attentats von Halle wie Orwell’sches Doppeldenk. Konterkarierende Beschämung am Rande: während der Lightshow zur Feier des dreißigsten Jahrestag des Mauerfalls in Berlin tauchte die Aussage auf: „Es reicht mit der Besatzung!“ – auf Hebräisch, damit die Juden auch wissen, dass sie gemeint sind. An einer anderen Stelle wurde ebenfalls auf Hebräisch erklärt: „Land ohne Mauer“.
Damit wurde Israel an einem 9. November von deutschem Boden aus aufgefordert, die Selbstverteidigung aufzugeben, schlussfolgert Gerd Buurmann auf dem Blog Tapfer im Nirgendwo. Die verantwortliche Agentur Kulturprojekte Berlin GmbH erklärte später, hinter der Forderung, die Besatzung zu beenden, sei keine politische Absicht versteckt gewesen, vielmehr handle es sich um ein Missgeschick. Bei der Show seien Bilder und Sprüche mehrerer Protestbewegungen gezeigt worden. Agenturchef Moritz van Dülmen hat sich beim israelischen Botschafter inzwischen entschuldigt: Ihm sei die Bedeutung des Schriftzugs nicht bewusst gewesen, sagte er laut Welt.
Auf einen sekundären Aspekt – oder je nach Perspektive die andere Seite derselben Medaille – wies bereits 1984 der Literaturwissenschaftler Raimund Kemper auf dem Deutschen Germanistentag hin: „Auf welche Weise gerade Wilhelm Schoof das Werk der Brüder für faschistische Zwecke ausschlachtete, wird in bundesdeutschen Bibliographien der Schriften dieses Spezialisten geflissentlich nicht erwähnt.“
Henschel bezeichnet Schoofs „geflöhte Bibliografien“ prompt als „Dokumente der Verdrängung“, die man mit einigem Wohlwollen auch als „Ausdruck der Scham“ interpretieren könne: „Es war Schoof und seinen Schülern peinlich, was er als Nationalsozialist geschrieben hatte, und sie wollten diese Dinge gern unter den Teppich kehren.“ Seine Arbeiten nach 1945 trugen Schoof 1952 die Ehrensenatorwürde der Marburger Philipps-Universität und 1954 die Ehrenpräsidentschaft des Schillerbunds ein. Für Erhardt dagegen hat in Anlehnung an Henschels Tabu-These die angeprangerte Forschungslücke eher mit einem Grimm’schen Image-Euphemismus zu tun: „Sie haben uns die schönen Märchen beschert, und dazu passt es eben nicht, dass man eine etwas dunklere Seite beleuchtet.“
„bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt“
Zum dritten aber ist dem Bürger nur allzu gut das Schicksal des Worts „Neger“ in Klassikern wie Lindgrens „Pippi Langstrump“, Preußlers „Kleine Hexe“, Twains „Tom Saywer“ oder Christies Krimi „Zehn kleinen Negerlein“ im Bewusstsein. Wurde letzterer bereits 2002 umbenannt zu „Und dann gab‘s keines mehr“, erreichte die Debatte um „politisch korrekte Sprache“ 2013 ihren Höhepunkt. „Diese Werke wurden mit spitzen Fingern im Namen der Vielfalt, Toleranz, dem Gendermainstream und der politischen Korrektheit aus den Regalen geschmissen und bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt neu aufgelegt“, trauert Birgit Stöger auf Journalistenwatch. Da Pippi einen unterschwelligen Rassismus transportiere, ging es dem „Negerkönig“ an den Kragen. Der Thienemann-Verlag ersetzte prophylaktisch „Neger“ in Otfried Preußlers „Die Kleine Hexe“ – sinnigerweise durch „Messerwerfer“.
Mark Twains Jim kann aber kein „Farbiger“ o.ä. sein, weil das ein reziproker lexikalischer Anachronismus wäre. Denn ein vielleicht politisch korrektes Ersatzwort ändert am wie auch immer beschaffenen Faktum selbst nichts – einerlei, ob das Ursprungswort inzwischen sozial geächtet ist, weil „Betroffene“ sich davon betroffen fühlen. Sollte den Brüdern Grimm dasselbe Schicksal drohen? Reinhard Mohr beklagte in der Welt „die ebenso blitzschnelle wie bedenkenlose Moralisierung aller Diskurse, die die Widersprüche der Realität unter sich begräbt. Es geht um Affekte statt um Argumente. Ein Reizwort reicht, und schon gerät die praktische Vernunft unter die Räder. Schande, Scham und der Aufschrei im Chor ersparen das Selberdenken. Nie war die Moral to go billiger zu haben.“
Der Vorgang ist ein weiterer dekonstruktivistischer Mosaikstein in der Zertrümmerungslandschaft alles kulturell Tradierten. Grimms Verdienste können nicht bestritten werden: Die Brüder gelten als mindestens Mit-, wenn nicht gar als die Begründer der Germanistik, haben neben ihrer Sammlungstätigkeit mit der Deutschen Mythologie, der Deutschen Grammatik und dem Deutschen Wörterbuch ungeheure wissenschaftliche Leistungen erbracht und sind mit den anderen Hochschullehrern der „Göttinger Sieben“ als Vorkämpfer des Liberalismus zu würdigen. Achten wir tunlichst darauf, dass die so eröffnete Antisemitismus-Debatte nicht zu Moralisierung, Verfälschung und Verfemung führt!
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Über den Autor:
Thomas Hartung, geb. 1962 in Erfurt; promovierte nach seinem Lehramtsstudium in Magdeburg 1992 zur deutschen Gegenwartsliteratur und war danach als Radio- und Fernseh-Journalist in Sachsen-Anhalt und Sachsen sowie als freiberuflicher Dozent für Medienproduktion und Medienwissenschaft an vielen Hochschulen Deutschlands tätig. Der bekennende „Erzliberalkonservative“ trat als Student in die LDPD ein und 1990 aus der FDP aus: von „misslungener Einheit“ nicht nur mit Blick auf die Parteienfusion spricht er bis heute. Hartung war im April 2013 Mitbegründer der AfD Sachsen und wurde zweimal zum Landesvize für Presse und PR gewählt. Bei Weltbuch sind „Wie steht‘s um Deutschland“ sowie „Zöpfe, Blutwurst und Kartoffeln“ erschienen.
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