Als Industriemacht ist Europa von seinem wachsenden Gasverbrauch abhängig. Seit 150 Jahren sind die rheinischen Chemiewerke ein zentraler und unverzichtbarer Bestandteil der deutschen Industriemacht. Die Digitalisierung des Kontinents führt jedoch zu einem übermäßigen Energieverbrauch. Island fehlt es an Strom, ebenso wie Irland, das viele digitale Unternehmen auf seinem Territorium beherbergt: Die GAFAM (Microsoft, Apple, Facebook, Google und Amazon) lassen dort nach und nach ihre Datenzentren errichten. Es gibt über siebzig Rechenzentren dieser Unternehmen, deren Betrieb eine elektrische Leistung von über 900 Megawatt erfordert. Zehn weitere Rechenzentren befinden sich noch im Bau und werden für ihren Betrieb zusätzliche Energie benötigen. Angesichts des Risikos, dass die russischen Gasimporte eingestellt werden könnten, erhöht Dänemark seine Erdgasproduktion in der Nordsee und wird bis 2023 autark. Das Land plant außerdem, seine Wind- und Solarenergieproduktion bis 2030 um das Vierfache zu steigern. Auch die Niederlande kurbeln die Förderung von Kohlenwasserstoffen wieder an.
Diese Lösungen sind jedoch nicht ausreichend. Deutschland, das 55 Prozent seines Gases aus Russland über Onshore-Pipelines importierte, reduzierte diesen Anteil zugunsten größerer Importe aus den Niederlanden und Norwegen auf 40 Prozent. Auf Einladung der USA investiert es 3 Milliarden Euro, um drei oder vier schwimmende Terminals für den Import von verflüssigtem Erdgas (LNG) zu mieten. Diese imposanten Schiffe sollen es Deutschland ermöglichen, seine LNG-Importkapazitäten zu erhöhen und damit seine Abhängigkeit von russischem Gas so schnell wie möglich zu verringern, bis der erste Terminal an Land gebaut ist. Der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck (Die Grünen) war ebenfalls gezwungen, nach Katar und in die Vereinigten Arabischen Emirate zu reisen, um dort Verträge für verflüssigtes Erdgas (LNG) auszuhandeln.
Italien, das rund 95 Prozent seines Gasverbrauchs importiert, ist eines der europäischen Länder, die am stärksten von russischem Gas abhängig sind. Es bezieht gegenwärtig 45 Prozent seiner Gasimporte aus Russland. Die italienische Regierung hat nach der russischen Invasion in der Ukraine und der Salve westlicher Sanktionen gegen Moskau eine breit angelegte diplomatische Offensive zur Diversifizierung ihrer Energiequellen gestartet. Luigi Di Maio reiste nach Algerien, Katar, in den Kongo, nach Angola und Mosambik. Mario Draghi selbst reiste nach Algier, wo er eine Vereinbarung über die Steigerung der algerischen Gasexporte auf die Halbinsel bekannt gab. Algerien, einer der wichtigsten Handelspartner Italiens, ist nach Moskau der zweitgrößte Gaslieferant des Landes. Spanien wiederum, das gegenüber Russland und der Ukraine weniger exponiert ist, setzt auf grünen Wasserstoff. Allerdings reichen die alternativen Gaslieferungen nicht aus; daher die Wiederbelebung des Nuklearsektors in Frankreich, Großbritannien und Belgien. Blickt man auf die spekulative Flucht nach vorn im Windsektor, so hat der Krieg eine Rückbesinnung auf die geoökonomische Realität ausgelöst.
Dies gilt auch für den Agrarbereich, in dem Europa versucht, jene Selbstversorgung, die es sträflich aufgegeben hat, wiederzufinden. Italien ist bei der Herstellung von Nudeln zu 60 Prozent von russischem und ukrainischem Weizen abhängig und stellt die Tomatenplantagen im Süden auf Weizenfelder um. Im Süden des Landes werden 500.000 Hektar Land auf eine andere Kultur umgestellt. Irland ist auf Viehzucht spezialisiert und importiert zwei Drittel des Getreides, das es verbraucht. Die Regierung hat 12 Millionen Euro bereitgestellt, um die lokale Produktion zu fördern. Auf der Grünen Insel sind nur 7,5 Prozent des Landes für den Getreideanbau reserviert. Von den 5,5 Millionen Tonnen Getreide, die das Land benötigt, um seine Einwohner und Tiere zu ernähren, kommen 60 Prozent aus dem Ausland. Frankreich hingegen ist davon kaum betroffen – mit einem Selbstversorgungsgrad von 200 Prozent bei Weichweizen, von dem 50 Prozent exportiert werden, und 150 Prozent bei Mais, von dem 40 Prozent exportiert werden. Allerdings hat der Ultraliberalismus der Europäischen Union die Spekulation mit Getreide gefördert, was zu einem plötzlichen Preisanstieg führte. Spanien, das sich plötzlich Marokko angenähert hat, stößt auf die Agrarsanktionen Algeriens, das sich weigert, seine Rinder zu kaufen. Die Neuausrichtung auf Getreide betrifft jedoch nicht alle Flächen: Portugal steigt in profitablere Kulturen ein: vor allem in den Anbau von Cannabis, das angeblich der Erholung dient. Die größten Exporte werden nach Deutschland gehen, das den Gebrauch dieser giftigen Substanz gerade legalisiert hat.
Alles in allem diente der Ukraine-Konflikt als Auslöser für eine beispiellose Beschleunigung der euro-atlantischen Integration auf Kosten der eurasischen Verbindungen. Dies erzeugt einen Windfall-Effekt für die US-Industrie, die plötzlich von drei Märkten profitiert: dem Wiederaufbau der Ukraine, der Lieferung von Flüssigerdgas und genmanipuliertem Getreide. Aus ökologischer Sicht ist der Rückschritt für Europa beispiellos.
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Über den Autor:
Thomas Flichy de La Neuville war Professor an der Eliteuniversität l’Ecole Spéciale Militaire de Saint-Cyr, der Offiziersschule des französischen Heeres, und Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Paris IV (Sorbonne) und lehrt heute an der Rennes School of Business. Seine Studien konzentrieren sich auf geopolitische Fragen. La Neuville ist Experte für die Entwicklung der arabischen Welt und für die Geschichte des Iran.