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Sylvia Taraba: DAS DILEMMA DER GOTTLOSIGKEIT

Aktualisiert: 14. Mai 2019

Auf einen Text von Rudolf Brandner, der anstelle des siechen europäischen Christentums die abendländische Kultur einer kritischen Rationalität als Gegengewicht zum expansiven Islam in Stellung brachte, reagiert die österreichische Philosophin Sylvia Taraba mit ihrem ausführlichen Plädoyer wider die voreilige Abschreibung der christlichen Bestände.



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Rudolf Brandners auf hohem analytischem Niveau operierender Essay „Paradoxien der Migration“ (erschienen im TUMULT-Blog) müsste eigentlich den Titel „Das Dilemma der Gottlosigkeit“ tragen und aufzeigen, wie die hypertrophe Rationalität der Moderne (und mangelnde Selbsteinfühlung?) Gott „getötet“ haben.


Der Text endet abrupt bei einer selbsterzeugten „Verwirrung“, die eintritt, wenn man nur an den „Fortschritt“ geglaubt hat und an nichts sonst. Kognitive Dissonanz ist eine unangenehme Beobachtung und ein unangenehmer Zustand. Auch Larmoyanz trägt nicht zu seiner Aufhebung bei. Diese Frustrationen erzeugt der Text.


Man müsste sich heute schlankweg vom Diskurs frei machen und direkt an die Wurzel gehen, um zur Inneren Wahrheit zu gelangen, aus der wir geistig, seelisch, materiell, psychisch wie physisch erwachsen.


Das Dilemma ergibt sich daraus, dass Brandner nicht bereit ist, den tragenden Letzt-Begriff zu nennen, der Aufklärung und Rationalität wieder in Oszillation versetzt, sie relativiert, beides hinter sich lässt, um eine zweite Aufklärung und neue Unterscheidung einzuleiten. Das ist heute als Denken einer reflektierten Autologie möglich, nämlich der Beobachtung dritter Ordnung. Sie entspricht der Stufe eines hochkomplexen, selbstreferentiellen Reflexionsgrades, und zieht eine autopoetische Unterscheidungs-Potenz ernsthaft in Betracht. Also das Selbstverständliche, Nichtvorstellbare, aber schlechthin Unbezweifelbare!: nämlich Gott als den Geist, der sich in sich und von sich unterscheidet. (Sylvia Taraba: Das Spiel das nur zu zweit geht, Heidelberg 2005)


Aber langsam und der Reihe nach. Welches sind die offenen und versteckten Postulate der Analyse Brandners, der es nicht gelingt, den „Beweis“ dafür zu erbringen, dass die „Rationalität“ gegenüber der „Regression“ zu bevorzugen ist? Abschließend zieht Brandner das Resümee einer „Verwirrung“, die rückwirkend das Bestehen auf Rationalität erst erzeugt und Gott, Glauben und Intuition gänzlich unter den Tisch fallen lässt, um sie unbesehen mit Füßen zu treten. Sind wir Realisten, Rechten und Konservativen nicht eher beweglich auf Seiten der Re-aktion und kehren nichts unbesehen unter den Teppich?


Die Verwendung einer leeren, nichtssagenden Floskel, nämlich die Rede von einer „modernen Erkenntniskultur“ als ultima ratio Europas, wird hier zur subjektideologischen Kompensation für den Verlust des Glaubens an Gott.


Der Gedanke von Rudolf Brandner, nur die „moderne Rationalität“ könne den Islam aufhalten, wenn die „falsche Identität“ des Christentums durchschaut und aufgegeben würde, ist grundsätzlich falsch, wie in der Folge allmählich deutlich werden sollte.


Sie ist falsch, weil die willkommene Aufnahme des Islam und seine „Integration“ in eine rationale europäische Moderne bestenfalls auf der trügerischen Hoffnung beruht, diese würde sich – dank westlichen Charmes und seines wirtschaftlichen Anreizes – auf die Massen des Islam übertragen lassen.


Sie ist doppelt falsch, weil die westliche Entwicklung der „Grundlage eines menschlichen Weltverhältnisses“ von der „Offenbarungsreligion hin zur Selbstgewissheit des Erkennens“, also hin zum rationalen technologischen Fortschritt, ein unlogischer Alleingang und somit ein Selbstbetrug des vor- und nachmaligen „Erkenntnis-Subjekts“ ist. Doch der Reihe nach: Das Dilemma der Gottlosigkeit ist die eine Sache. Das Dilemma des gottlosen Christentums die andere.


Der Religionsverlust (genaugenommen der Verlust der verbindlichen, weil realistischen Rückbindung an die Transzendenz) bewerkstelligt sich in der Zeit und bewirkt zahllose falsche Identitäten als notwendige Religionssubstitute. Ideologien, die da heißen „moderne Rationalität“, „Autonomie des Subjekts“, „Selbstgewissheit“, „Freiheit“, „Atheismus“, „Feminismus“, „Egalität “, „Multikulti“, „Vielfalt“, „Diversität“ sowie Sozialismus, Kommunismus, Internationalismus, und, na klar, Universalismus. Ideologien, die alle der Realität nicht standhalten.


Die von Brandner nun angesprochene „Pathologie des Zeitgeistes“ besteht in den nie erfüllbaren und daher nie begrenzbaren, oben aufgezählten Utopismen, denen Brandner ja selbst anhängt. Gerade die „moderne Erkenntniskultur“ (der Gott und die christlichen Dogmen angeblich „nicht zumutbar“ sind) beruht darauf, dass wir uns von der Kirche – in gewisser Hinsicht zu Recht – befreit haben.

Doch diese Befreiung auch von Gott hat ja erst die hier nun tief bereute Wurzellosigkeit und Orientierungslosigkeit an die Stelle der täglichen Psychohygiene und der religiös motivierten Erneuerung des Charakters gesetzt und jene Ersatzreligionen und Ideologien, die uns seither in strikter Immanenz gefangen halten, befördert. Ist diese Immanenz gleichzusetzen mit Realismus? Kaum.


Der Atheismus als Krone der Selbstverwirklichung und Selbstherrlichkeit des wissenschaftlichen Erkenntnis-Subjekts gipfelt entweder im stoischen Rückzug in den Nihilismus oder im exzessiven Hedonismus. Dazwischen liegt die ganze Bandbreite von Haltlosigkeit und Beliebigkeiten und die fortwährende Inszenierung von Brot und Spielen, solange die entsprechenden Branchen funktionieren und die Masse schweigt. Ist das Realismus? Kaum.


Christentum und Atheismus sind kein Antagonismus, denn in beiden ist ja offenkundig Gott im Spiel und somit und sogar die ganz klar gottgewollte stete persönlich Auseinandersetzung mit Gott. Das wäre Realismus.


„Die europäische Welt ist keine christliche mehr“ ist die Behauptung eines Atheisten, der sich oberflächlich verrechnet. Es ist ja alles da, um auf den Weg der Auseinandersetzung zurückzufinden, wenn man bereit ist, die Sünde des Hochmuts und der Trägheit von sich zu weisen und die Todsünde des Zweifels beizeiten zu zerstreuen. Das Christentum – die Kirche – ist nicht Gott! Eine „Autonomie des Erkennens“ müsste gesunden Abstand von der Kirche nehmen, aber ohne auf die von ihr gebotenen Räume, Rituale, Sakramente, Feste, Gebote, Bibel, Evangelien, Liturgie, Erzählung, Musik, Gesang, Kunst und Geschichte zu verzichten.


An die „Dogmen“ kann man schlicht glauben oder sie sich verordnen, oder sie sich sogar erklären. In jedem Fall nun näher bei Gott, wird man den transzendenten Gott & Geist & der Menschwerdung als reell anerkennen. Sie ist ja sichtbar, diese Schöpfung. Man wird, menschgeworden, dem Geist Gottes Ehrfurcht entgegenbringen und sein persönliches Christentum leben in der Gemeinschaft der Heiligen. Was ist daran abwegig oder schwer, wenn man einmal bereit ist, das (früh entstandene und früh geweckte) Ressentiment gegen Gott aufzugeben und Liebe, Güte und Gerechtigkeit bei sich selbst zu suchen? Das wäre zwar auch nicht unbedingt realistisch, aber Anfang einer Antwort und einer Verantwortung Gott gegenüber.


Im Text von Rudolf Brandner geht es auf höchster analytischer Ebene darum, ob das Christentum als veritable Identität gegen den Islam taugt. Dies wird wahrheitsgemäß verneint mit der zunächst stimmig erscheinenden Begründung, dass die europäische Welt längst keine christliche mehr sei und deshalb der Gegensatz zum Islam kein religiöser von zwei verschiedenen „Religionen“, der sich unter „Religionsfreiheit“ abhaken lasse.


Der Gegensatz Christentum/Islam wäre nämlich, wie behauptet, ein „geschichtlicher“, der in der neuzeitlichen Abkehr von dem offenbarungstheologischen Wahrheitsanspruch seinen Ursprung habe. Das heutige „Weltverständnis“ sei deshalb wieder der „Autonomie des Erkennens“ zu unterstellen, „wie (dies) zum Teil schon in der Antike“ der Fall gewesen sei.


Doch das Do-it-yourself-Phantasma des autonomen Erkenntnis-Subjekts verwirklicht sich zunehmend in einem unreflektierten utopistischen Konstruktivismus. Der Wir-schaffen-das-Wahn politischer Globalisten und wissenschaftlicher Universalisten und deren Verwechslung von „Freiheit“ mit Vermessenheit wird kaum aufgehen. Sie werden irgendwann den negativen Beweis erbringen, dass die Moderne Gott nicht ersetzt hat, und dass „geschichtliches Bewusstsein“ eben keines ist, wenn es keine Transzendenz kennt, und, aus Ressentiment (!) gegen Gott, keine Intuition mehr davon besitzt, dieser Transzendenz reell verbunden zu sein.


Transzendentale Verbundenheit beinhaltet übrigens den Glauben an Wunder und die immer neue Verwunderung und das Staunen über das Wunder des Lebens. Rudolf Brandners Diktum, dass das Christentum ganz allgemein zu einer „Sache der Vergangenheit“ geworden sei, obwohl es, wie er betont, „seit 500 Jahren zur Identitätsbildung Europas gehört“, ist ein Widerspruch in sich. Solch widersprüchliches Denken konnte die hochstrapazierte „Selbstgewissheit des Erkennens“ – über die Aufklärung zur Postmoderne, hin zur Beliebigkeit – in ein „orientierungsloses Weltverhältnis“ führen.

Könnte Letzteres es nun erlauben, sie auf direktem Weg in ein autokratisches, totalitäres Weltverhältnis zu locken? Uns also (über den modellierten Kollektivwahn der „Klimarettung“ und die europäische Unterwerfung unter den abgefeimten „Globalen Pakt für Migration“) in eine „bunte“ Superrepublik Europa einzugemeinden und letztlich in die gewaltsam zu organisierende One World zu überführen (falls EU und UN, Juncker, Merkel, Macron et al. dies schaffen)?


Eine satanische Konstruktion auf den ersten Blick. Auf den zweiten wächst Hoffnung auch und geht Hoffnung auf. Eine solche Welt wird es realistischerweise niemals geben. Was sich in der kognitiven Dissonanz des Autors selbst noch als überhebliches, verwirrtes Subjekt geriert ... und in einem völlig unerwarteten Schwenk am Ende des Textes sich auf die Gesetze und Menschenrechte beruft, die auch wir noch haben, die auch für uns noch gelten, die auch uns immerhin zustehen, deren wir uns nur bewusst werden müssen ... hat eine reelle Chance, sich regressiv „zurück“ in ein stabiles Weltverhältnis zu arbeiten.


Doch zurück zum Glauben. Wenn der Glaube an die Unbefleckte Empfängnis (Idee der Parthenogenese), der Glaube an die Erbsünde (die erste Unterscheidung jetzt), an die Erlösung von der Erbsünde durch den Kreuzestod (erfüllte Lebensspanne in Freud und Leid zu Tod und Auferstehung jetzt), das Jüngste Gericht (es tagt immer jetzt), die Auferstehung vom Tod zum Ewigen Leben, oder ewiger Verdammnis (nur jetzt), der Glaube an die Dreifaltigkeit (fest gegründet in der autologischen Triadik), wenn all diese nachvollziehbaren, erklärbaren, unbezweifelbar bezweifelbaren Dogmen der hochstrapazierten „modernen Erkenntniskultur“ nicht mehr „zumutbar“ wären, dann muss man sich eben ganz persönlich fragen: warum? Vielleicht gibt es keine wichtigere Frage als diese? Wir müssten sie erst wieder neu entdecken und aus einem neuen, anderen Blickwinkel in Angriff nehmen.


Denn die Orthodoxie kann heute im Zeitalter der kommenden zweiten Aufklärung – ganz ohne Abstriche der Ehrfurcht vor dem Heiligen und den Dogmen – in zäher Selbstbefragung modernen wissenschaftlichen, ja mathematischen und quantenlogischen Erkennens dessen, wie sich Gott uns heute erklärt, individuell im persönlichen Gespräch mit Gott ausgelegt und in Kommunikation vertieft werden. In Hegels Dialektik heißt das 'Arbeit am Begriff'. Mit Luhmann ist diese Arbeit am Begriff die Arbeit an der Zwei-Seiten-Form.


Die Anerkennung der Notwendigkeit von Dogmen als Traggerüst der Kirche kann nicht das Problem sein. Der sich ausgerechnet deswegen herausbildende „Nihilismus“ eigentlich auch nicht. Und jeder legt sich sein Christentum selbst aus (konnte ich beobachten) und orientiert sich in dieser einen und wahren Freiheit durchaus immer wieder an orthodoxer „Rechtgläubigkeit“, die nicht schwer, ja geradezu fröhlich und leicht scheint, wenn man G. K. Chesterton und seinem Freund Matthias Matussek zuhört. Ganz abgesehen davon, dass man der Kirche alles Mögliche zutrauen darf, aber nicht unbedingt alles glauben muss.


Das Problem der Moderne sind nicht die praxisorientierten Erfinder, Helden, Eroberer, Frontiers, Macher, also der „alte weiße Mann“. Das wirkliche Problem heute ist der sich ganz allgemein gerierende Größenwahn im Gefolge des sich „autonom“ denkenden „Erkenntnis-Subjekts“. In Gestalt des „kleinen Mannes“, der „feministischen Frau“ und deren durch die Institutionen marschierenden globalen Eliten. Hinter dem „Tod Gottes“ und hinter der allgemeinen Beliebigkeit des Anything goes hält sich weiterhin das linke autonome Subjekt verborgen. Man erkennt es daran, dass es ständig von einer „Befreiung“ und „besseren Welt“ spricht, die sich als ökologisch verlogene, banale, schale, liberalistische „Erkenntniskultur“ hier nun gegen beide, Christentum und Islam, wenden soll.


Doch was ist das Besondere, das Andere, das Einmalige des Christentums? Schon das archaische, das ägyptische und das antike Heidentum kannten die dreifaltige Gottheit. Es bot dem monotheistischen Christentum die aufgefächerte mystische Basis für etwas logisch Größeres und zugleich dem Menschen Näheres. Die Kluft der Allgemeinheit des Denkens und der alles durchwirkenden Gedankenströme Gottes ist nun nicht mehr unüberbrückbar. Im Gegenteil – im Anfang ist das Wort.

Der dreifaltige christliche Monotheismus konnte sich nur deshalb reell über dem antiken Heidentum errichten, weil die Rückbindung an ein imaginär operierendes Transzendentes dem reellen, logischen Gesetz des Tertium-non-datur der Aristotelischen Logik hochkomplex überlegen ist. In der – menschlichem Erkennen unzugänglichen, aber spirituell erfahrbaren – Sphäre der Transzendenz ist das logische Dritte zu Hause.


Die transklassische Logik Hegels arbeitet zeitgerecht das Antinomien-Problem auf, erkennt, dass im Ich, das immer schon vorausgesetzt ist, der Unterschied liegt, erkennt so den notwendigen Zirkel des Ich, seine Paradoxie, auf dessen notwendig asymmetrischer Operation der Zwei-Seiten-Form die Welt beruht. Der Mathematiker George Spencer Brown zeigt in seinem konsistenten mathematisch-logischen Formenkalkül (Gesetze der Form, 1969), dass die Erste Unterscheidung, die Markierung und der Beobachter, identisch sind.


Die weiterhin phantasierte „Autonomie“ eines „autonomen Subjekts“ ist ein Trugschluss, den der „abrahamitische“ Monotheismus (in der zentralen Ausformung des Christentums) als Negativerscheinung und dezidiert als unsere Möglichkeit des Bösen aufzeigt.Wir besitzen, ja besitzen einen dreifaltigen, menschgewordenen Gott: geboren aus dem Heiligen Geist und Maria der Jungfrau, gekreuzigt, gestorben, begraben, auferstanden von den Toten, aufgefahren in den Himmel. Nichts ist einfacher für Gott als seine Menschwerdung zur gebotenen Stunde zeitgemäß zu inszenieren und zu vollziehen. Und nichts ist schwieriger und schwerer und ergreifender, als diese freiwillige Passion als Mensch bis zum Ende durchzuhalten. Jesus hat durch diese „seine“ offenbar gemachte Passion uns von der „Schuld“ der „Erbsünde“ befreit. Was kann das bedeuten? Hatte Gott sozusagen diese umgehend vererbte „Schuld“ seiner Ersten Unterscheidung in-sich und von-sich zunächst an uns kleben gelassen? Warum unterscheidet Gott sich überhaupt in-sich und von-sich? Darf man ohne Vermessenheit vermuten: aus eben jenem injunktiven, dem Nichts innewohnenden Verlangen, sich von Etwas zu unterscheiden?


Jedes individuellen Menschen Passion besteht ja ebenfalls in diesem Verlangen und in ebendieser Erfahrung seiner individuellen Passion. Das notwendige Schuldigwerden ist ihm gegeben und vergeben. Die Verantwortung dafür trägt er selbst. Darin liegt seine Freiheit. Doch ausgerechnet Gottes Menschwerdung haben wir modernen Autonomen nicht verstanden oder sie uns von der Kirche falsch auslegen lassen. Sie erscheint uns absurd, sie hat uns gegen ihn aufgebracht. Und gar erst seine (logische!) Auferstehung. So haben wir Gott nach seiner Kreuzigung ein zweites Mal „getötet“.

Darin – in dieser Menschwerdung und dem freiwilligen Tod des „Menschensohnes“ – liegt die unglaubliche Überraschung, Überzeugungs-Kraft und Freiheit des Christentums. Das war unsere Stärke.


Gottes (scheinbarer) Verlust ist momentan unsere letale Schwäche. In dieser Perspektive ist der in Europa sich möglicherweise noch zuspitzende Gegensatz zwischen aufgehendem Islam und untergehendem Christentum nur der letzte Ausdruck des Todes Gottes im Christentum. Der Trugschluss der Autonomie (also unserer „Freiheit“ vom transzendenten Gott) ist jedoch viel früher anzusetzen, nämlich als diese „Freiheit“ sich als neutrales „Erkenntnis-Subjekt“ wähnte, proklamierte und propagierte und damit ihre autologische Zwei-Seiten-Form negierte. John von Neumann bemerkte früh, dass eine notwendige Bedingung für die Selbstverdopplung bei Maschinen die Zusammenarbeit zweier Maschinen sei.


Die Tatsache der binären Differenzierung der Gameten, Spaltung und Verdopplung als Grunderfordernis des Lebens, sind von Gregory Bateson in der kleinen Preziose „Der Fall der zwei Geschlechter“ (Geist und Natur, Frankfurt/Main 1979, S. 99) stringent zusammengefasst. Spaltung muss anscheinend durch Fusion interpunktiert werden: „Eine allgemeine Wahrheit, die das Prinzip der Informationsverarbeitung exemplifiziert: dass nämlich zwei Informationsquellen (oft in entgegengesetzten Modi und Sprachen) einer einzigen weit überlegen sind.“


Die sexuelle Differenz, deren unterschiedene Unterscheidungen, logische Asymmetrie, konditionierte Koproduktion und Prokreation, ist die Informationsbasis, die die Welt im Innersten zusammenhält.

Die Form – also die primäre Form der Zwei-Seiten-Form – konnte in den vergangenen, sagen wir, fünfzig Jahren schwerwiegend in Frage gestellt werden. Als sogenannte „heteronormative“ Zwangsveranstaltung konnte sie innerhalb kurzer Zeit als „konstruiert“ (!) desavouiert und scheinbar problemlos „dekonstruiert“ werden.


Ich will damit beileibe nicht sagen, dass ausgerechnet der „Feminismus“ daran etwas ändern sollte oder gar könnte. Ich will nur darauf aufmerksam machen, dass die „Emanzipation“ der Frau zum quasi „besseren“ Mann und beider zum „Transgender“ das gemeinschaftliche Ergebnis des hier nur angedeuteten Problems ist.


Der entwickelte Kapitalismus und die staatliche Trias der möglichen ideologischen Übergänge von Kommunismus-Demokratie-Faschismus, haben sich (nicht von Gottes Gnaden) über dem neuzeitlichen Tod Gottes, seinem Grab und dem Verlust spiritueller Intuition errichtet. Jedoch das Grab ist leer – Gott ist immer schon auferstanden, niemals tot gewesen. Es liegt an der sich erneuernden Philosophie in einer nun zweiten Aufklärung, zu verkünden, dass „Gott lebt“. Es war ja die Philosophie, die Gott tötete. Spätestens dann, als sie sich im Namen der Aufklärung und des Frühsozialismus, die „Rettung“ der Welt anmaßte.


Die Kirche besitzt offenbar nicht einmal zu Ostern die beseelende Kraft, Gottes Auferstehung glaubhaft zu verkünden. Der Konzernkapitalismus seinerseits bietet keinerlei Raum für eine „Selbstgewissheit des Erkennens“. Er gibt uns die trügerische Selbstgewissheit des immerwährenden Konsumierens und Sich-Verlustierens. Der ihm in seiner dienenden Rolle stets verbündete Sozialismus phantasiert sich selbst als elitäre Weltgewerkschaft und verwirklicht international das gerechte, volltechnifizierte und -digitalisierte Paradies von Brot und Spielen und Glück für alle. Und wären in der Umma und unter der Scharia die Massen nicht sowieso viel besser aufgehoben?


Europas „Befreiungsgeschichte“ hat letztlich nicht das Volk befreit, sondern Eliten auf allen Ebenen kreiert und all seine Bildungs- und Bindungskraft sukzessive durch Multikulturalismus, unterhaltungs- und konsumorientierte Industrien, Freizeitparadiese, Reisewahn und langsame Zerstörung der Familie mittels feministischer Pseudowissenschaft und linksgrün-bürgerlichem Feuilleton verdorben und gelähmt.


Die Legende von der Befreiung wird in der kognitiven Dissonanz Brandners, seinem Sarkasmus und betrübter Reue offenbar, wenn davon die Rede ist, dass das „christliche Monopol“ heute nur mehr ein „leeres Allgemeines ohne reale Bildungskraft bleibt, das sich auch in zahlreichen anderen Religionen finden lässt.“ Dies besagt nur, dass insgeheim dem Christentum weiterhin eine besondere Kraft zugedacht wird, die im Dilemma der Gottlosigkeit nicht mehr zu formulieren ist.


Hegel beziehungsweise nach und mit ihm Luhmann wollten es einer von (postmoderner) Verzettelung befreiten Philosophie zutrauen, sich auch und wieder den Letzten Dingen zu widmen. Welcher Gestalt oder Form könnten diese sein?


Ich will hier nur ein paar Denkanstöße geben. Hegels Phänomenologie des Geistes und große Logik erkennt die Antinomie beziehungsweise Paradoxie als das oberste Gesetz der Logik. Gott/Geist/Ich: In diesen liegt der Unterschied. Ohne Bezeichnung bleibt eine Unterscheidung unentscheidbar, also paradox. Luhmann sieht Gott lapidar als „Kontingenzformel“.


Gott/Geist – als omnipräsente Unterscheidungs-Potenz mit dem Verlangen zu unterscheiden – bilden – zeitlosvor der paradoxen, weil unmarkiert oszillierenden Zwei-Seiten-Form einen unmarkierten Raum. Dieser Leere inhärent lässt sich ein injunktives, dem Nichts innewohnendes Verlangen, zu unterscheiden und zu bezeichnen, vermuten ...

Es geht um Sinn und beim Unterscheiden also um das Bezeichnen von Sinn. Sinn muss markiert werden, um seine realistische, weil Sinn-volle Erfahrung zu gewährleisten. In der Spekulation Hegels (1807), in der Mathematik Spencer-Browns (1969) und in der Soziologie Luhmanns (1983) wird die Form von Sinn exemplifiziert.


Im Rahmen der Sinnproduktion – im Übergang von der Beobachtung erster Ordnung zu einer Beobachtung zweiter Ordnung – muss, so Luhmann, das „Selbst“ der Selbstbeschreibung der Gesellschaft identifizierbar sein – das heißt, heute neu bestimmt werden. Also geht es darum, dass die Form (sic) der Selbstbeschreibung sich ändern muss. Diese Form ist heute nun als eine Zwei-Seiten-Form erkannt und bekannt geworden.


Es geht so Luhmann ganz konkret um die Frage: Ist das „Projekt der Moderne“ (Habermas) beendet oder nicht? Oder im Einzelnen darum, ob es gut ausgehen wird oder nicht. Doch wenn man weiterhin von einem „Projekt der Moderne“ sprechen will, so ist dieses Projekt unvollendet, ja noch gar nicht einmal adäquat entworfen, trifft Luhmann den wesentlichen Punkt:


„Es kann jedenfalls nicht auf der Basis des Subjektbegriffs ausgeführt werden, wenn dieser Begriff weiterhin nur das individuelle Bewusstsein bezeichnet. Man wird weiterhin an Hegel denken – der bisher einzige und voll durchdachte Versuch. Aber dann dürfte man einen Terminus wie Geist nicht ans Ende der Geschichte setzen, darin keinen Abschlussgedanken, keine Überlegenheitsfigur setzen (... ) der Beobachter des Beobachters sollte (...) zumindest bemerken, dass er autologisch operiert.“

(Niklas Luhmann: Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 2, Frankfurt/Main 1999, S. 1142)



Ich meinerseits gehe davon aus, dass das Habermasche Projekt der Moderne unter falschen Voraussetzungen verkündet wurde, und – aus der Sicht der Form – nämlich der Zwei-Seiten-Form – noch nicht einmal angedacht worden ist. Das hängt nun, bei den oben skizzierten philosophischen Voraussetzungen, an den zwei hier aufgeworfen und hier beantworteten Fragen. Sagen wir, dass Gott als Zwei-Seiten-Form ex-sistiert? Also Gott sich zeigt? Und sagen wir, dass nicht ein neutrales, sogenanntes autonomes Subjekt, sondern die Liebe, in der logischen Form der Geschlechterliebe und der ästhetischen des Geschlechterpaares, also Gottes Unterscheidung in sich und von sich, und das Geschlechter-Verhältnis auf dieser Basis wieder und ganz neu belebt werden kann, muss und wird, weil nur diese Liebe und dieses Verhältnis und diese Beziehung Quelle und Prinzip aller Informationsverarbeitung und der Operationen allen Selbst-Bewusstseins und allen menschlichen Bewusstseins ist?


Der einzelne individuelle Christ, Atheist, Nihilist kann ja kraft seines Glaubens und seiner Ratio erkennen, dass es, rein reflexionslogisch, nicht möglich ist, nicht zu kommunizieren. Er trägt ja das Du schon in sich. Er kann also zwischenzeitlich, durch seine Intuition im bewussten „Selbstgespräch“ – so als ob oder – jetzt einmal wirklich – Gespräche mit dem Transzendenten Gott, dem Transzendenten Du führen und diese notieren! Und daraus, aus den Unterscheidungen und Zurufen, Bitten und Fragen, die er tätigt, und den Worten, die er hierbei erschafft und erklingen lässt, personierende Kraft generieren, und so erfahren und umsetzen, zu welchen Kommunikationen und Handlungen er/sie fähig ist, um ein Du zu erfreuen und es zu bereichern, sich von ihm zu unterscheiden, sich gegen es abzugrenzen.


Innere Wahrheit, geistige Wachheit und Widerstand gegen Unrecht sind seelische Notwendigkeiten, um Gottes Willen zu erkennen und die Kraft zu generieren, ihn umzusetzen. Gottes Verlangen, zu unterscheiden, d.h. sein Wille, der geschieht, ist vermutlich der Wille zur Erfahrung. Wir verhelfen Gott (und einem Du) in aller unendlichen Ehrfurcht vor seiner Ersten Unterscheidung (aus der alles folgt, was ist) dazu, in jeder einzelnen Biografie. Besonders auch, wenn wir Wagemut zeigen.

Wenn wir uns und unser Eigenes behaupten und behalten wollen, es wagen, es zu halten, um es durch diese Zeit so gut es irgend geht, gemeinsam hindurchzutragen, und dies nur über diese Intuition und deren Reflexion tun und weitergeben können, dann ist es dies, was zu tun ist. Denn der Glaube ist nicht blind, er hat seine Unbedingtheiten und Gewissheiten. Deswegen: „Meyn Geduld hat Ursach!“




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Über die Autorin:


Dr. phil. Sylvia Taraba; Künstlerin, Philosophin, Autorin. Lebt und arbeitet in Dornbirn und Wien; Meister-Diplom an der Hochschule für Angewandte Kunst, Akademie der Bildenden Künste in Wien; Doktoratsstudium der Philosophie und Wissenssoziologie bei Prof. Dr. Rudolf Burger an der Universität für Angewandte Kunst Wien und Universität Klagenfurt; Diverse Publikationen, Buchveröffentlichungen: Das Spiel, das nur zu zweit geht. Die seltsame Schleife von Sex und Logik (2005); Sylvia Taraba, Gottfried Bechtold: Mitten durchs Herz (2016).



 

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