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Sven K. Knebel: ANSTECKUNG IDEALISTISCH — Reaktion auf Michael Esders

In seinem Aufsatz zu Schein und Sein der Pandemie (TUMULT 3/2020, S. 21-25) führt Michael Esders sehr plausibel die „virale Wirklichkeit“, wie er das nennt, auf das massenmediale „Perzeptionssystem der Angst“ zurück und verbucht die Pandemie als Beleg für die Triftigkeit von Berkeleys These Esse est percipi. Die medial vermittelte Wirklichkeit löst sich in Fiktion auf. Das läßt sich hören. Daß ein vermeintlich reales Prädikat, sei es eine Eigenschaftszuschreibung, sei es eine Existenzzuschreibung, aus dem betreffenden Ding hinausverlegt und als Projektion durchschaut wird, ist ja, kann man sagen, der Trick oder zumindest die ultima ratio einer Riesenabteilung im Supermarkt Aufklärung. Doch Vorsicht! Bisher hat noch jeder, der sich mit dem Materialismus der Schulmedizin anlegte, den Kürzeren gezogen. Will man es wirklich darauf ankommen lassen, daß eine von der Bevormundung durch den Obrigkeitsstaat gereizte Aufsässigkeit, verführt von solcher Aufklärung, die Köpfe zusammensteckt?


Lassen wir das Coronavirus. Ein Beispiel aus der Vergangenheit muß davor warnen, es darauf ankommen zu lassen. Wozu haben wir die in der Frühen Neuzeit sprudelnde Literatur der Pesttraktate? Unter den Ärzten seiner Zeit war Jan Baptist van Helmont (1577-1644) ein philosophischer Kopf, Gegner der galenischen Schulmedizin. Das Barockdeutsch von Knorr von Rosenroths 1683 erschienener Übersetzung des Tractats von der Pest schwelgt im poetisch-sinnlichen Glanz gerade auch dieser Materie.[1]


Das ganze „Trauerspiel der Pest“ entrollt sich vor uns. Der biochemische Beschreibungsaufwand bringt es trotzdem nur bis zu den Gelegenheitsursachen, nicht zu der Hauptsache, zu dem Pesterreger (virus Pestis). Auch und gerade für die Pest hatte Helmont eine psychosomatische Theorie. „Man hat aus der Erfahrung offtmahls befunden, daß einer oder der ander aus blossem Schrecken sich selbst und den Seinigen die Pest über den Hals gezogen, die doch sonst noch ferne von ihm war.“ Die Pest entspringt aus der Phantasie. Ursache ist die Panik, indem der „gählinge Schrecken des Lebens-Geistes die unmittelbahre Ursache ist des durch die Einbildung gebohrnen Bildes“ und dieses Bild „die eigentliche richtige Ursache der Pest ist, ja, ich sage, die lautere Pest selber“. Originalton: Qui panicus Archei terror est causa immediata imaginatione genitae imaginis… Quae imago est causa adaequata Pestis.[2] Nicht aus der freien Phantasie. Daß wir uns in der Phantasie Beliebiges vorstellen können, hatte Aristoteles an einer berühmten Stelle damit kontrastiert, daß, sobald wir uns intellektuell anders, nämlich urteilenderweise, zu dem gleichen Vorstellungsinhalt XYZ verhalten, wir keine Freiheit haben, sondern darauf festgelegt sind, entweder das eine oder das andere zu glauben, entweder „XYZ ist soundso“ oder „XYZ ist nicht soundso“; eine dritte Möglichkeit besteht nicht.[3]


Auch darin, was die fatalen Spiele der Phantasie bei Helmont anrichten, ist ein Urteilsverhalten involviert. Auch hier ist das Urteil unfrei, nur ist es anders determiniert, nicht logisch, wie bei Aristoteles, sondern kausal, durch den Schrecken. Unsere theoretischen Überzeugungen über die Pest, beruhigt uns Helmont, sind unschädlich (XII, 14). Zur Ansteckung kommt es nicht durch das Urteilsverhalten eines cartesischen Cogito, sondern in dem Bereich, den Helmont als das Unbewußte identifiziert, denn bei ihm sind wir eben nicht Herr im eigenen Haus. Bei der Reaktion auf den Schrecken wird zwischen dem „Menschen“ und dessen „Lebens-Geist (Archeus)“ differenziert. Es kommt vor, daß die beiden entgegengesetzt reagieren. „Und ist demnach die Ursach, warumb der Schrecken vor der Pest die Pest… verursache…, eigentlich diese: Weil das Gifft der Pest nicht allein entstehet aus der Furcht und Einbildung der erschrecklichen Würckung der Pest: Sondern weil sich zugleich dabey findet und unzertrennlich daranhänget ein gewisser Glaube, dadurch ein jedweder blöder und erschrockener Mensch sich fürchtend einbildet und einiger massen glaubet, er habe bereits etwas von dem Pest-Gifft an sich bekommen. Wodurch denn erst das Bild der Pest, so durch einen solchen Schrecken empfangen worden, würckend und fruchtbar wird. Denn dieser Schrecken samt dem leichtglaubigen Argwohn führet die solcher Gestalt erschrockene Seele in den Lebens-Geist (Archeum) hinein, daß derselbe bekleidet werde nach dem Bilde des empfangenen Schreckens.“ Der Lebensgeist „verunstaltet“ sich. Die Analyse führt also auf die Kombination von Schrecken und Irrationalität: „Welches geringe Stücklein eines Glaubens neben der Verwirrung des Schreckens ein würckliches Bild in dem Lebens-Geist völliglich hervor bringet, welches der Sahmen ist der darauf ausbrechenden Pest.“


Aus der Analyse folgt zweierlei.

Erstens sucht sich die Pest die Hypochonder aus. Der Optimismus der Sorglosigkeit macht umgekehrt immun: „… gleichwie der Pest-Schrecken mit und bey sich hat einen vermeinenden und furchtsamen Glauben, daß man nemlich bereits… eine Veränderung spühre: Also ist das Gegen-Mittel darwider ein Vertrauen, man werde nicht angegriffen werden…, das Nicht-Glauben, daß man werde getroffen werden. Und zwar nicht durch vernünfftige Ursachen, sondern bloß allein durch eine freye Krafft des beherzten Muths als eine blosse eintzige Mutter solcher Zuversicht… Denn das Nicht-Glauben, daß man werde angestecket werden, würcket weit stärcker als die furchtsame Vermuthung; nit allein, weil ein Nein stärcker umbstösset, als ein Ja aufrichtet, sondern weil es eine solche Ausschliessung in sich enthält, welche stärcker ist als alle Einschliessung…“ Eine Irrationalität schlägt also die andere. Praktisch geht nichts über den Placeboeffekt des Amuletts.


Zweitens, an dem Pestvirus krepiert auch die scholastische Ontologie, und zwar die Grundeinteilung von allem in Mentales und Extramentales. Helmont nennt das Virus ein „ens productum ex imagine pavoris et vestitum substantia Archei“, „ein Wesen, so entstanden ist aus dem Bilde des Schreckens und mit der Substantz des Lebens-Geistes bekleidet“. Die Pest ist Projektion, die hypostasierte Panik. Der Pesterreger hat damit eine unerhörte Seinsweise, er ist weder Gedankending noch extramental, sondern ein Gedankending (ens rationis), das in ein extramentales, materielles Ding mutiert.

Diese pfiffige Theorie findet sich hundert Jahre vor Berkeley. Man mag es bedauern, daß die Literatur über Saturn und Melancholie, darunter Walter Benjamins Trauerspielbuch, Knorr von Rosenroths herrliche Prosa seinerzeit links liegen gelassen hat. Wenn Esders vorschlägt, auf Helmont zu setzen, um uns auf Corona einen Vers zu machen, mag uns das Wagnis trotzdem zu hoch sein.


Man hat die Philosophen die Spezialisten fürs Allgemeine genannt. Schlecht an diesen Spezialisten ist, wenn sich unter ihren Händen, wie einst dem König Midas, alles in Gold verwandelt. Gold kann man bekanntlich nicht essen. Durch die philosophische Befassung mit der Gegenwart wollen wir klüger werden. Dazu bedarf es einer geistigen Nahrung, die uns mit der Wirklichkeit in Stoffwechsel treten läßt. Das tut das philosophische Nahrungsangebot aber nicht, wenn die berühmte Arbeit des Begriffs darin besteht, unsere Nöte seinsgeschichtlich zu überhöhen. Das versackt, wie Adorno unwidersprechlich dargetan hat, im Jargon der Eigentlichkeit. Nur daß aus der Betulichkeit dieses Jargons, über die sich Adorno damals an Heidegger und seinen Adepten lustig machte, bei den Adepten der Postmoderne ästhetisch eher Schwindelerregendes geworden ist. An und für sich unterscheidet sich das Tremolo der Philosophen, mit dem auf die Phänomene der Internetzivilisation reagiert wird, aber nicht von dem, mit welchem 1946 auf die ‚Wohnungsnot’ reagiert worden ist. Hier wie da wühlt ein Midas im Reichtum der Erscheinungen.


Wenn in der Not Empirisches ontologisch überhöht wird, ist das in der Mehrzahl der Fälle harmlos. Midas kneift einfach davor, Roß und Reiter zu nennen. Das empfiehlt ihn dem Feuilleton. Manchmal ist es aber auch nicht harmlos, sondern ein klein wenig unverantwortlich.


[1] Im Folgenden zitiere ich aus den Kapiteln 12, 14 und 17 in J.B. van Helmont: Aufgang der Artzney-Kunst… in die Hochteutsche Sprache übersetzet, Sulzbach 1683 / Repr. München 1971, Bd. 1, 595ff., 606ff., 633ff. [2] J.B. van Helmont: Opuscula medica inaudita: Tumulus Pestis 14, 26, Amsterdam 21648, 53b. [3] Aristoteles: De anima III, 3, 427b 20. Zur Interpretationsgeschichte S.K. Knebel: „Meinungsfreiheit? Der Aristotelismus und das Fürwahrhalten unter Willensbeteiligung in der lateinischen Tradition bis 1679“, in Irrtum – Error – Erreur , hgg. A. Speer / M. Mauriège (= Miscellanea Mediavalia Bd. 40), Berlin-Boston 2018, 555-86.




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