top of page

Susanne Begerow: WER SIND WIR? UND WENN NICHT, WARUM?

„Sag mir, du lustiger Freund, wer du seist?“

„Wer ich bin? Dumme Frage! Ein Mensch, wie Du!“

Was für eine Antwort: Einzig die Verbundenheit im Menschsein scheint dem Antwortenden bedeutsam zu sein. Im Dialog zwischen zwei sich unbekannten Männern bohrt der Fragende im Weiteren nach, offenbar sind ihm Landeszugehörigkeit, Stand und Herkunft sehr wichtig, der Antwortende hat für ihn fast nur unbefriedigende Auskünfte bereit, beruflich sei er im Vogelhandel, habe Speis', Trank und eine Hütte, Kümmernis bereite einzig das Fehlen einer passenden weiblichen Gefährtin. Was für ein beneidenswerter Zeitgenosse, was für ein friedvolles Weltbild ergibt sich daraus – und so tiriliert und frohlockt er „stets lustig, heisa hopsasa“.



Ein Vogelfänger in der Wüste Negev, 1948


Sie haben die beiden Herren erkannt: Tamino und Papageno lernen sich gerade kennen in der Zauberflöte.


Die beiden haben ganz offensichtlich verschiedene Vorstellungen von „Identität“: Während Papageno außer „Mensch mit Beruf Vogelfänger“ nichts benötigt, sogar die eigene Vergangenheit nebulös bleiben darf, sind Tamino familiäre Herkunft, Geblüt, Herrschaftsgebiete, Rang und Namen essentielle Eckpfeiler. Sogar als Steuerzahler verweigert sich der Vogelfänger offenkundig, da er vom Tauschhandel mit einer dubiosen Frau lebt.


Soweit die musikalische Einleitung zum Denkanstoß über Identitäten und zur Verschiedenheit, mit der man sie verstehen und sich in ihr vergewissern oder dabei verwirren kann – und zur Fruchtbarkeit der Vielfalt.


Ja – Vielfalt! An dieser Stelle ein kleines Repetitorium in der Farbenlehre: Gerne wird ja momentan das Attribut „bunt“ verwendet, da liegt es nahe, sich an den guten alten Malkasten zu erinnern: Mischen Sie alle Farben miteinander, so werden Sie schmutziges SCHWARZ sehen, kein fröhliches Bunt, die sogenannte „subtraktive Farbmischung“ macht's. Bleiben alle Farben hübsch in ihren Töpfchen, bleibt es bunt und man kann beim Mischen behutsam schauen, was sich farblich gut miteinander verträgt, wenn man denn durchrühren will.


Fragen wir nun aber endlich die zweifelsfrei wichtigste aller Wissenschaften – nein, nicht die Virologie, die Psychologie natürlich!


Die Lateiner kannten identitas, was als Wesenseinheit übersetzt werden kann. Eine Einheit (im Gegensatz zu Trümmern, Fragmenten, unvereinbaren Gegensätzen wie sie bei Traumata und Spaltungen z.B. resultieren können – bei Individuen wie bei Staaten) ist ein als Ganzes erscheinendes Gefüge nebst Zusammengehörigkeitsgefühl ohne allzu viele innere Brüche.


Ein Wesen meint eine charakteristische Summe von Grundeigenschaften, das meiner Katze beispielsweise, die sich klar identifiziert als Krone der Schöpfung mit Anspruch auf Haus, Bett, Spezialfutter und ungeteilte Aufmerksamkeit, sie liest sich toxisch weiblich, im Nebenberuf erbarmungsloser Jäger, ob sie sich als identitär verortet, kann ich nicht sagen, zu Migration fremder Katzen lässt sie aber eine entschieden ablehnende Haltung erkennen und verteidigt mit Klauen und Zähnen geschlossene Grundstücksgrenzen. Passt man sich ihr als Mensch in ihrem Haus gebührend an in Gewohnheiten, Kontaktverhalten und Kommunikation, so belohnt sie mit entzückender Sanftmut und relativer Treue. 


Manchmal noch ein Quentchen komplexer als die Wesenseinheit der Katze ist die des sich selbst mangels korrigierender Fremdwahrnehmungen aus Außenperspektiven als weise und vernunftbegabt bezeichnenden Homo sapiens. Eine Gesamtheit von Distinktion ermöglichenden Eigenschaften wächst in ihm durch einen individuellen Entwicklungsprozess, in den stetig Selbst- und Fremdwahrnehmungen eingehen. Soweit zum In-dividuum, dem Unteilbaren. 


Nun aber zur kollektiven Identität, eines Fußballvereines...oder auch eines Volkes beispielsweise.

Übertragen wir doch der Einfachheit halber die o.g. Erkenntnisse.


Geschichte, Kultur, Sprache, evtl. ein Phänotyp, Glaube, Traditionen, Errungenschaften, gemeinsame Werte und Normen formen kollektive und nationale Identitäten und schaffen auch für die individuelle Identität bedeutsames Zugehörigkeitsgefühl und darin eine wohlige Sicherheitsillusion. Oh, und die Küche dürfen wir natürlich nicht vergessen. „Auch einen Schweinskopf trug man auf, in einer zinnernen Schüssel. Noch immer garniert man den Schweinen bei uns mit Lorbeerblättern den Rüssel" wusste schon Heinrich Heine.


Es bedarf i.d.R. eines definierten Raumes, prägnanter Symbole (wie Adler oder Banane), der inneren und äußeren Abgrenzung (gute Zäune machen gute Nachbarn, sagt der Volksmund), der Selbstreflexion und der Einbeziehung von Fremdwahrnehmungen – und es gilt auch diesbezüglich „panta rhei“, oder wie das rheinische Grundgesetz treffend formuliert: „et bliev nix wie et wor“. Unterscheidbare Identitäten entfalten zudem Reiz und Inspiration, weiß jeder Urlauber in anekdotischer Evidenz zu berichten, der Reiz der Vereinheitlichung in einer homogenen Durchmischung lässt sich an der flächendeckenden McDonaldisierung ablesen.


Die Täter und Mitläufer mit ihrer himmelschreienden Schuld, die Opfer mit ihren unermesslichen Verlusten – ein kollektives Trauma wird Teil der Identität, es wird transgenerational weitergegeben. Aufarbeitung gab es damals kaum, aber wen wundert das, wenn man sich die aktuelle Aufarbeitung der Corona-Jahre vergegenwärtigt. Man erfährt nun staunend, dass man im besten Deutschland aller Zeiten lebt unter einer unfehlbaren Regierung, beschützt durch einen starken Staat, sogar das nächste Wirtschaftswunder wurde schon avisiert und auch dem rückständigen Rest der Welt bringen wir wieder unsere Werte, Normen und Methoden. Eine ideologisch unbeirrbare Regierung mit felsenfestem Glauben an die eigene Überlegenheit, getragen von einem schmerz- und schamlosen Sendungsfuror...ist das nicht der Stoff für eine kollektive Re-Inszenierung?


Es stellt sich also die drängende Frage: Wie therapiert man eine destabilisierte Nation? Wie groß muss diese Couch sein?


Als Psychologin kann ich Ihnen nur sagen: Ich habe keinen blassen Schimmer.


Es gibt allerdings etwas wirklich wunderbares, es ist kostbar und faszinierend – es nennt sich „posttraumatisches Wachstum“. Menschen, die dieses haben, sind oft beeindruckend, haben Tiefe und Reife und bewundernswerte Einsichten und Fähigkeiten nach dem erschütternden Erlebnis entwickelt.

Was sie auszeichnet, ist ausgeprägtes Mitgefühl, sie gehen meist achtsam mit sich und anderen um, haben ihre Werte neu geordnet. Materielles wird unwichtiger, bedeutsam werden echte, gesunde Beziehungen und einfache, existentielle Dinge des Daseins. Sinnstiftendes oder Spiritualität. Eigenverantwortung statt Opfer-Denken und ein Bewusstsein des Wertes allen Lebens, der eigenen Verletzlichkeit und der persönlichen Stärken wächst. 


Was wären wir für ein Volk, wenn dies unsere Wesenseinheit ausmachte! Wenn unser Wachstum die Dimension unserer Traumata bekäme, was hätten wir für eine Ressource! 


Über die Autorin: Susanne Begerow ist Diplom-Psychologin und lebt seit ihrer Flucht aus dem Wahnsinn in einer Hütte im norddeutschen Moor.



  *

 



        Hier können Sie TUMULT abonnieren.

                                              Für Einzelbestellungen klicken Sie bitte hier.



bottom of page