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Susanne Begerow: HERBSTLICHES HERZGEWIMMER

Liebe Freunde der gepflegten Melancholie, lassen Sie uns heute mit Theodor Storm gemeinsam wehklagen und bei einem Glase guten Weines und Regenprasseln am Fenster schauen, ob wir darin Wahrheiten und Trostreiches zu finden vermögen in den trüben Tagen des schwindenden Lichts.


Flammend aufleuchtendes Laub, das tiefe Rot des Tempranillos, Blutrot auf grauen Straßenpflastern, rostroter Stahl und in Dresdens Elbwasser rieselnder Brückenbeton – der Herbst zeichnet ein Land.


Blätter fallen zu Boden, Brücken in den Fluss, bald ist wohl Schluss: Gedungene Totengräber schaufeln fleißig und sind dabei weder von Amnesie, Adipositas oder Artikulationsstörungen aufzuhalten. Deutsche Eichen, die Windrädern weichen und Linden, die schwinden, wie so viele in der guten alten Zeit stolz gehegte Symbole nationaler Bedeutung und Schönheit. Heine wird wieder zensiert.


Die Pflege von Brandmauern ist priorisiert vor der der Brücken, ein neu errichteter „Antifaschistischer Schutzwall" wird politisch, medial und digital zementiert. Die Brücke als Symbol der Verbindung, der Verbundenheit, die Mauer als eines der Trennung und Spaltung, dazu ein tiefer Graben, welcher bald Volk und Herrschende unter gläserner Kuppel voneinander trennen wird – die Symbolik bleibt nicht unbemerkt in einem kurzen Lichtstrahl der Herbstsonne, die es rubinrot im Glase glitzern lässt.


Worauf wollen wir anstoßen?


Das Gute, Wahre, Schöne im Fall wie absterbende Blätter nach den ersten Frostnächten und sie nehmen Einigkeit und Recht und Freiheit mit zu Boden. Der Tod ist wieder ein Meister aus Deutschland und gibt sein Bestes, dass ukrainische Böden blutdurchtränkt zum Ausverkauf stehen.

„Was ward die Welt so welk!... Dies ist der Herbst: der bricht dir noch das Herz! Flieg fort! Flieg fort!", mahnte Nietzsche und floh in die Berge.


Wir sollten anstoßen auf Storm und ein „rechtes Herz“ – dass dieses unzerbrechlich ist! Nietzsche und Heine weinten damals, was täten sie heute? Wieviel Rebensaft Storm genoss, ist nicht kolportiert, nur dass sein Sohn verstarb daran. 


Samtig und opulent ist dieser Wein...eigentlich war diese Dresdener Brücke doch ziemlich hässlich, meinen Sie nicht auch? Draußen ziehen dunkle Wolken auf, es könnte Sturm geben. Darf ich nachschenken?


Mauern, die niemand die Absicht hatte zu errichten, zerfallen genau wie Brücken, selbst wenn sie in der Tarnfarbe des Regenbogens illuminiert werden oder aus Bits und Bites gebaut sind. Mir deucht, wir bekämen eine Lektion in Loslassen, dürfen schauen, wie die windgeschüttelten Bäume welke Blätter loslassen, ihr Totholz abwerfen, während Fallobst auf feuchtem Boden verdirbt. Erste Sturmböen sendet der Herbst, es wird kälter im Land und Zeit, sich auf den nahenden Winter vorzubereiten: Was wird vom Winde verweht werden, wie lang wird dieser Winter, was braucht unser Herz, bis die Welt wieder in Veilchen stehen wird?


Doch nun will ich aufhören und den Rest köstlichen Weins mit Ihnen teilen – und dieses Gedicht mit seiner wahrhaftigen Vorfreude auf Erneuerung, mit der Huldigung des dionysischen Genusses und der Entdeckung des erhaschten güldenen Augenblicks, in dem das Unverwüstliche verborgen steckt.


Erfreuen wir uns an Parteileichen, die der unaufhaltsame Fluss wie Trümmerteile davonspült. Lesen wir an dunklen Abenden den heiteren Heine über die deutsche Tradition, aufgetischte Schweinsköpfe mit Lorbeeren zu zieren. Genießen wir, wie gut Papier, das den R-Wert der Lüge trägt, vom Kaminofen verzehrt wird und bringen wir die Asche im Garten aus, wo unzählige regenfeuchte Eicheln geduldig warten, Baum zu werden.



Oktoberlied 


Der Nebel steigt, es fällt das Laub;

Schenk ein den Wein, den holden! 

Wir wollen uns den grauen Tag

Vergolden, ja vergolden! 


Und geht es draußen noch so toll,

Unchristlich oder christlich, 

Ist doch die Welt, die schöne Welt,

So gänzlich unverwüstlich! 


Und wimmert auch einmal das Herz –

Stoß an und laß es klingen! 

Wir wissen's doch, ein rechtes Herz

Ist gar nicht umzubringen. 


Der Nebel steigt, es fällt das Laub;

Schenk ein den Wein, den holden! 

Wir wollen uns den grauen Tag

Vergolden, ja vergolden! 


Wohl ist es Herbst; doch warte nur,

Doch warte nur ein Weilchen! 

Der Frühling kommt, der Himmel lacht,

Es steht die Welt in Veilchen. 


Die blauen Tage brechen an,

Und ehe sie verfließen, 

Wir wollen sie, mein wackrer Freund,

Genießen, ja genießen!


Theodor Storm, 1848



Über die Autorin: Susanne Begerow ist Diplom-Psychologin und lebt seit ihrer Flucht aus dem Wahnsinn in einer Hütte im norddeutschen Moor.



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