Wir wollen in den Böhmerwald fahren, um ein recht spezielles Musik-Festival zu erleben. Es heißt „Eternal hate fest“ und findet bereits zum 19. Mal auf einem Festplatz der Gemeinde Nyrsko/Neuern statt. Statt Love and Peace zu frönen, finden sich die Besucher also zusammen, um ewigen Hass zu schwören. Statt in eine Versammlung von Blumenkindern einzutreten, machen wir uns auf echte Enfant terribles gefasst.
Die provokante Ablehnung der ewigen Friedensbeteuerungen vom Schicksal verwöhnter Bürgerskinder bringt Scott Kelly von der amerikanischen Band „Neurosis“ zum Ausdruck: „Die Hippies sind und bleiben unsere Erzfeinde, weil sie vorgaben, Kinder der Natur zu sein, aber in Wirklichkeit ihre Natur geleugnet haben. Sie glaubten, ihre 'happy family', dieses dumpfe Leben in Liebe, Drogen und Tanz, wäre ein Ausdruck von Freiheit, habe etwas mit Natur zu tun. Blindheit war es! Mir wird schlecht, wenn ich all diese Gestalten vor mir sehe, wie sie damals auf einem Grateful Dead-Konzert mit Grinsen im Gesicht abhingen und nur noch ein verzücktes 'la la la' wimmern konnten. Das ist die Vision der Hölle: eine unzählbare, gezähmte Masse von grinsenden Gesichtern.“ Und tatsächlich gibt es Menschen, die außen hell wirken, aber innen finster sind, während äußerlich dunkle Gestalten von innen leuchten können. Die genussvolle kultursoziologische Feldforschung im Böhmerwald hat diese paradoxe Vermutung vollauf bestätigt.
Für die weite Anreise haben wir uns für das Abenteuer des 9-Euro-Tickets entschieden. Los geht es um 13 Uhr am Bahnhof von Radebeul, das fahrplanmäßige Ende erfolgt gegen 21 Uhr im bayerisch-böhmischen Grenzbahnhof von Bayrisch-Eisenstein. Wir brechen sofort auf in die Dunkelheit Noch vor zwei Tagen war Vollmond, den eine Wolkendecke vom Dresdner Elbtal getrennt hatte. Hier im Grenzland ist es klar und es bestehen gute Aussichten, die Pfade vom abnehmenden Heumond beleuchtet zu bekommen. Wir gehen straff bergan, in den sagenhaften Böhmerwald, der großen europäischen Hauptwasserscheide zwischen Nordsee und Schwarzem Meer. Hier hat der Borkenkäfer schon vor dreißig Jahren der Holzindustrie zugesetzt.
Eine geräumige Schutzhütte nahe des eiszeitlichen Teufelssees ist zur nächtlichen Herberge vorgesehen. Kurz bevor wir diese erreichen tritt wie ein großer goldgelber Eierkuchen der Mond hervor und verzaubert den nächtlichen Wald. Als wir schon eine Weile hingestreckt liegen, erklingen plötzlich Schritte. Das fröhliche Geplauder einer jungen Tschechin ist zu vernehmen. Es genießen also auch andere diese mondhelle Nacht. Die Geräusche entfernen sich und kehren nach einer Weile zurück, bevor sie ganz verschwinden.
Am frühen Tag durchdringt die Morgensonne das klare Wasser des Gebirgssees. Nach einem Abstecher zum größten Wasserfall des Gebirges steigen wir hinab zum Bahnhof Eisenstrass/Hojsova Stráž, von wo uns die Lokalbahn nach Neuern bringt. Das Festivalgelände ist etwas außerhalb des kleinen Landstädtchens gelegen. Auf dem Weg dorthin ziehen wir mit einer Menge schwarzgekleideten Volks, auf dessen T-Shirts die zumeist unleserlich zierlichen spiegelsymmetrischen Kalligrafien der einschlägigen Bandnamen stehen.
Wir treffen pünktlich gegen 14 Uhr ein und ebenso pünktlich beginnt der Auftritt der ersten Kapelle, „Dark Seal“ aus Brünn. Ganz gleich bei welcher Sparte, ob Punk, Metal oder Ska, es ist ein spezifisches böhmisches oder eben in diesem Fall mährisches Musikantentum fast immer vernehmbar. Das verleiht der Musik eine wohlige Dichte gegenüber der flachbrüstigen Heiserkeit mancher hiesigen Vertreter des Genres. Wir errichten neben dutzenden von Zelten das unsere und erkunden die Lage, während bereits die zweite tschechische Black Metal Band, „Serzabil“, zu spielen begonnen hat. Die dunklen Gesellen mit den Kutten voller martialischer Signets und Parolen gebärden sich allesamt sehr höflich. So ist zu sehen, wie düstere Damen von ihnen tatsächlich mit einem angedeuteten Diener begrüßt werden.
„Burkhartsvinter“ aus Singen präsentieren sich mit wüst bemalten Gesichtern und ungerührter Standhaftigkeit, ebenso die Vertreter des Erzgebirges, „Ad Mortem“ aus Zschorlau, deren minimalistische Bühnenpräsenz zur Ernsthaftigkeit der frühen Tage des Genres verpflichtet. Einst galt das sächsische Erzgebirge als legendäre Hochburg des deutschen Black Metal. Auf der Bank rücken wir derweil zusammen mit drei ebenfalls aus dem sächsischen Erzgebirge stammenden Besuchern, darunter Vater und Sohn. Der Alte meint, es entspräche zwar nicht ganz seinem Musikgeschmack, aber er genieße die besondere Stimmung dieses Tages…
Einige Festivalbesucher tragen die Aufnäher von „Schwarzmetall Erz“ auf ihren Kutten. Am nächsten Wochenende werden sie wohl im erzgebirgischen Annaberg sein, um dem Festival „Schwarzmetall überʼm Miriquidi“ beizuwohnen. Der Black Metal hat nach dreißig Jahren inzwischen längst selbst Veteranen hervorgebracht. Da gibt es den Besucher in fortgeschrittenem Alter, dem eine Dozententätigkeit an einer Universität durchaus zuzutrauen wäre. Für diesen Sommerabend hat er sich in seine alte Kutte gezwängt. Gemeinsam mit dem Ruhm von Bands wie „Loits“ aus Reval ist er gut gealtert. Die Esten haben eher den Habitus einer Bluesrockband. Ihre Plattenfirma nennt sich „FlakʼnʼRoll Records“. Der bereits etwas altersranzige Sänger versucht glücklos das Publikum zu animieren. Ein volltrunkener Zuhörer, der immer wieder den Hitlergruß präsentiert, wird von einem stämmigen Sicherheitsmann, dem wie zum Hohn ein großes christliches Kreuz auf der Brust hängt, mit entschiedener Kraft entfernt.
„Sekmeth“ aus Tetschen/Děčín sind so etwas wie die Gastgeber des Festivals. Sie feiern heute „Twenty Years of Blasphemy“. Es wird fast genauso viel Feuer gespien wie gebrüllt. Köpfe von Tierkadavern sind am Bühnenrand aufgepfählt. „Sekmeths“ blutrünstige Spektakel laufen ihrem akustischen Massaker beinahe den Rang ab. Die Schergen in langen Kapuzenmänteln, mit Gasmasken und Fackeln sind die Maskottchen des Festivals. Eine Darstellerin wird von ihnen an das umgekehrt aufgestellte Kreuz gebunden und mit Kunstblut besudelt. Das ist herrlich infantil! Im Gegensatz zu den Scheußlichkeiten der Wiener Aktionisten ist dieses Spiel von nahezu kindlicher Freude geprägt. Es ist eine Festfreude, wie sie seit vielen Jahren aus den Kleinstädten und Dörfern verschwunden ist. Zu derartigem Ausgelassen-Sein gehören eben nicht nur eine Stimmungskapelle und Freibier, sondern auch etwas destruktive Kreativität. Zudem wirken solche Bacchanalien kathartisch auf die Teilnehmer. Was hier vorgeführt wird, das ist der Seele abgestreift. Danach spielen sehr straff und professionell die berüchtigten „Ad Hominem“ und „Antimateria“ aus Finnland. Unterdessen versichert uns ein betrunkener Tscheche, der uns nachmittags bepackt hat eintreffen sehen, mittels Gesten und Wortbruchstücken seiner Verehrung: „Sumava! Deutsch! Wandern!“.
Fotos: SH
Als wir schließlich am Bahnhof früh um 7 Uhr in den Zug steigen, sind dort zwei aufgeweckte Schwarzmetaller auf der Bank einer kleinen Partie Taschenschach hingegeben. Ein Foto aufzunehmen wird uns gestattet. In einem Interview der taz bemerkt Steve van Till von „Neurosis“ über den vermuteten Widerspruch zu seinem Beruf als Lehrer: „Für mich ist das alles eins“, sagt er, „unser Krach soll Leuten helfen, eine Balance im Leben zu finden, genauso sollte ich als guter Lehrer meinen Schülern helfen, eine Balance zu finden.“ Mental gut ausbalanciert unternehmen wir anschließend noch eine dreitägige Wandertour von Tachau bis Flossenbürg.
Über den Autor: Sebastian Hennig, geb. 1972 in Leipzig, lebt als bildender Künstler, freier Publizist und Buchautor in Radebeul bei Dresden. Letzte Buchveröffentlichungen u.a.: Unterwegs in Dunkeldeutschland (2017), 37 Federzeichnungen zu Gedichten von Uwe Lammla: Unstrutleuchten (2020).
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