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Rudolf Brandner: DER TEUFEL UND DER LIEBE GOTT (1) – Die Ideologie des Allgemeinen

Aktualisiert: 10. Sept. 2019

Bisher hält Bettina Gruber mit ihren Betrachtungen unter dem Reihentitel 'Männerhass und schlechte Laune' einsam die Kolumnisten-Fahne in der TUMULT-Landschaft hoch. Zu ihr sollen in Zukunft einige regelmäßige Mitstreiter treten. Den Anfang macht der Freiburger Philosoph Rudolf Brandner, bekannt aus Druck- und Blog-Auftritten, mit seiner 'Der Teufel und der liebe Gott' betitelten Reihe zu übergeordneten, metapolitischen Belangen. Die erste Episode widmet sich der Frage nach angeborener Menschenwürde und ihrem Verhältnis zu Freiheit und Selbstbestimmung des Einzelnen.



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«Der Teufel steckt im Detail» - also im Besonderen, jeweils Eigentümlichen, Einzelnen. In der Umkehrung heißt dies: «Der liebe Gott wohnt im Allgemeinen». Denn das Allgemeine sieht ab (abstrahiert) von allen Besonderheiten; in ihm sind alle Eigentümlichkeiten, die das jeweilig Einzelne zu einem besonderen Diesen machen und in seine Gegensätze zu Anderen verspannen, aufgehoben, verschwunden und getilgt. Das Allgemeine ist das Eine über den Gegensätzen, frei von ihrer Negationsmacht wechselseitigen Entgegenseins; aber es ist diese Transzendenz immer nur in der Idealität des Begriffs, der von der Vielfalt absieht, wie sie die konkrete physische Wirklichkeit ausmacht. Eben darin: der Negativität des Wirklichen - «steckt der Teufel»; und der Gott, der im Allgemeinen über den Gegensätzen thront, wohnt im reinen Licht des von allen Gegensätzen befreiten Vorstellens.


Das Denken in abstrakten Vorstellungen bietet sich damit als Erlösungsfigur an, um den Widrigkeiten des Wirklichen zu entkommen: Es genießt nur sich selbst und die Güte seiner Gottesnähe. Wo ihm das Wirkliche widerspricht und sauer ankommt, ist es des Teufels - es muß bekämpft und ausgerottet werden! Damit stürzt sich die Idealität des Vorstellens in den Kampf mit dem Wirklichen – es soll ein ebenso Allgemeines wie es selbst und aller Eigentümlichkeit entkleidet sein. Aber wie es dann ein seiner Wirklichkeit beraubtes und nur Vorgestelltes wäre, so ist umgekehrt auch das allgemeine Vorstellen, indem es aus der Sphäre seiner Idealität heraustritt und den Kampf mit der Wirklichkeit aufnimmt, selbst ein eigentümlich Wirkliches, das in seine Widrigkeiten verstrickt zu einem Moment seiner Negativität wird: Es verliert die Idealität des Allgemeinen. Wo der Gott aus der Transzendenz des Allgemeinen in die Wirklichkeit hinaustritt, wird er selbst zum Teufel; und jeder Teufel wird zum Göttlichen, sobald er sich selbst ins abstrakte Vorstellen zurückzieht, das ja nur den einen Inhalt: das Gute selbst – hat.



Salatintentionen oder wie man mit der Schrotflinte denkt


Nach Aristoteles erfasst der Mensch zuerst das Allgemeine: so würden die Kinder alle Frauen erst einmal «Mama» nennen, das Differenzieren gehöre einer späteren kognitiven Entwicklung an. Wo sich der Mensch in bloßen Allgemeinheiten ohne sachliche Differenzierung herumtreibt, könnte man deshalb von einem mentalen Infantilismus sprechen; und wo die öffentlichen Diskurse ganzer Gesellschaften davon befallen werden und nur noch eine sprachliche Etikettenwirtschaft betreiben, müßte man ihnen kollektive Altersdemenz (Senilität) attestieren – ein Zerfallssymptom vergreisender, überalterter Menschheiten.


In der Verabschiedung geistiger Vitalität tritt dann an die Stelle von Negation, Widerspruch, Unterscheidung und Gegensatz ein bloßes «Bäh!» oder «Pfui»!-Rufen, also eine rein gefühlsmäßig abwehrende Befindlichkeitsäußerung ohne jede sachliche Bedeutung: Zuletzt fehlt auch noch jeder allgemeine Begriff, der eine bestimmte Sache anzeigen könnte, und der öffentliche Diskurs degeneriert zu einem Sprachsalat aus Äquivokationen und Bedeutungsverwirrungen, assoziativen Unterstellungen und pauschalen Etikettierungen - einer Art mentalem Allerlei, darin sich ganz verschiedene Sachverhalte tummeln.


Übrig bleiben begriffslose Affektschemata: Salatintentionen mit der Schrotflinte in der Hand. die ihre Be­deutungs­streuung so flä­chen­deckend gestalten, dass auf jeden Fall alles dabei ist, was sich im asso­ziativen Umkreis unangenehm regen könnte. Irgendwo im Salat wird schon was getroffen, und sei es auch das falsche. Wer könnte heute noch die sachliche Bedeutung der im öffentlichen Diskurs gebrauchten Schimpfworte (Nazi, Rassist, Antisemit etc.) ausmachen? Die geistige Regression wird zum Schwanengesang einer lebensmüden Menschheit, der alle Auseinandersetzung mit den Gegensätzen des Wirklichen zuviel geworden ist. Die Flucht zurück ins affektive Allgemeine gewährt den von allem Realitätsdruck losgelösten Selbstgenuß eines mentalen Substrates, das sich seinen eigenen Zustand als das allgemeine Heil des Menschseins vorstellt.



Die Ideologie des Allgemeinen oder die Würde des Säuglings


Es ist die Geburtsstunde der Ideologie des Allgemeinen. Das Allgemeine wird zur Erlösungschiffre, die ein normatives Maß vorgibt, wie der Mensch sein geschichtliches Dasein realisieren soll: Es geht um das Menschsein überhaupt, um universelle Werte, die unbedingt und absolut gelten sollen, um den Menschen von allem Übel, das er selbst ist, zu erlösen. Indem sich der Menschen­rechtsdiskurs im obersten Allgemeinbegriff «Mensch überhaupt» zentriert, abstrahiert er von allen Eigenheiten und Besonderheiten, welche die geschichtliche, kulturelle und ethische Wirklichkeit des Menschen ausmachen.


Es handelt sich um ein Abstraktum, dem jede konkrete Realität fehlt: Der Mensch wird als «Menschheitsunmittelbarer» (Sieferle) thematisch, beraubt aller geschichtlichen und ethischen «Vermittlungen», die als Bedingungen die Geltung der Menschenrechte einschränken könnten: Sie sind «unveräußerlich», gelten «unbedingt», «absolut» und «universell» für das Menschsein schlechthin. Um was für eine «Geltung» handelt es sich da? – Um eine ideell postulierte, ein moralisches Sollen. Dieses folge, so die allgemeine Begründung, aus einer «angeborenen Würde»: Alle Menschen seien aus einem Ursprung (Monogenesie) und damit an Würde gleich geboren.


Aber sowenig es die geschichtliche Wirklichkeit mit Neugeborenen zu tun hat, sowenig ist die «Würde des Säuglings» mehr als eine verkünstelte Preisung menschlicher Hilflosigkeit - es sei denn, sie wollte die Infantilität zum Ideal des Menschseins erheben. So wie der Säugling ein Mensch nur ganz im allgemeinen: ein «allgemeiner Mensch» - ist, so ist auch das Kind ein ganz Allgemeines vor und außerhalb seiner autonomen Selbstverantwortung. «Würde», die angeboren ist, muß nicht selbsttätig bewährt, sondern nur passiv versorgt werden: Ihr Status ist der einer ethischen Entmündigung, die alle Freiheit, Autonomie und Selbstbestimmung des Menschen aufhebt. Das Angeborensein der Würde ist schon die Entwürdigung des Menschseins schlechthin und als eines solchen.


Was begründet dann solche «Würde» in den allgemeinen Menschenrechten anderes als das Ideal des Menschen als «totales Kind», das durch supranationale Transzendenz betreut werden muß?



Supranationale Transzendenz und das totale Kind


Als moralische Absoluta des Westens in die Weltpolitik eingeführt, stehen die Menschenrechte für die Vermoralisierung des Politischen und fundieren das Leitparadigma eines neuen, «post-nationalen» Politikverständnisses, das die Auflösung aller geschichtlichen, kulturellen und ethischen Differenzen zu einem «Supranationalen» betreibt. Damit aber auch die Aufhebung von «Nationalstaaten» und die Entmachtung demokratisch legitimierter Parlamente.


Der Menschenrechtsdiskurs ist so keine Nebensache, keine nur moralische Garnitur eines sonst Machtpolitischen; vielmehr gehört er zum Kernbestand einer neuen Ideologie des Allgemeinen (Universellen), die zur Erlösungsfigur der Überwindung aller kulturgeschichtlichen Partikularitäten wird: Sie wird zum Befreiungsideal einer von allen Differenzen erlösten Menschheit und verkündet sich als «Zivilreligion» säkularisierter (= religionsprivativer) Gesellschaften, die sich mit dem Schein einer quasi-göttlichen Transzendenz umgeben.


Unter westlicher Dominanz sind es weitgehend demokratisch nicht-legitimierte supranationale Institutionen und Nicht-Regierungs-Organisationen (NGO), die durch gesetzgeberische Leitvorgaben die nationalstaatliche Souveränität aushöhlen und die Öffentlichkeit einem autoritären Diskurs der «political correctness» unterwerfen: Vor lauter Menschenrechten, Diskriminierungsverboten & Gleichheitsgeboten, die mit moralischer Unbedingtheit verfolgt das Wirklichkeitsbewußtsein des Menschen beschneiden und zu Heuchelei, Realitätsverleugnung und –verdrängung verpflichten, stranguliert sich das freie Denken und steckt das Recht der Meinungsfreiheit in die Zwangsjacke autoritärer Verordnungen.


Der Menschenrechtsdiskurs nimmt totalitäre Züge an, die schon in seiner moralischen Unbedingtheit angelegt sind: Nur als «totales Kind» einer transzendenten Funktionärselite erlöst sich die Menschheit von ihrer immanenten Negativität. Aber die Domestikation der Weltgeschichte durch moralische Unbedingtheiten und supranationale Hegemonialinstitutionen kann nur scheitern. Denn nicht die Transzendenz des Allgemeinen, sondern das je eigentümliche Besondere (tode ti) ist das Reale (Aristoteles) und als solches Gegenstand der Politik – der Kunst der Immanenz.


Dies ist, womit sich der folgende Blog in einer Reihe von monatlichen Einzelbeiträgen beschäftigt: nicht, um dem lieben Gott teuflische Details entgegenzuhalten oder ihn gar selbst zu verteufeln, sondern um das Bewußtsein menschlicher Wirklichkeiten jenseits seiner moralischen Ausgrenzungen zu stärken.




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Über den Autor:


RUDOLF BRANDNER, geb. 1955, Studium der Philosophie, Psychologie und Indologie in Freiburg, Paris (Sorbonne) und Heidelberg, 1988 Promotion über Aristoteles, 1993 Habilitationsarbeit zum philosophischen Begriff der Geschichtlichkeit. 1985 – 1999 neben Lehr- und Vortragstätigkeit im deutschsprachigen Raum zahlreiche Gastprofessuren in Frankreich, Italien und Indien. 2000 – 2005 Rückzug in die philosophische Grundlagenforschung. Brandner lebt als freier Philosoph in Freiburg i. Br. und Berlin. Hier geht es zur Internetseite von Rudolf Brandner.



 

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