Die Menschenrechte in ihrer aktuellen Ausprägung sind wesentlich ex negativo und als Sperrriegel für mögliche Wiederholungen tatsächlich erlebter Gewalt in totalitären Diktaturen konzipiert. Doch indem sie anstelle des Kollektivs den Einzelnen zum moralischen Absolutum erklären, so Rudolf Brandner im vierten Teil seiner Kolumne, reproduzieren sie - womöglich ungewollt - die totalitären Konturen ihrer historischen Negativfolie.
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In der Logik des Menschenrechtsdiskurses liegt mit der Sakralisierung des Einzelnen auch die seines unmittelbaren, naturgegebenen Seins - außerhalb aller ethischen Selbstbildung, die er sich selbst abzuverlangen hätte. Konsequent zu Ende gedacht führt er damit zur Aufhebung aller menschlichen Ethik und Moral: Wo der Mensch in seiner naturhaften Faktizität, all seinen Anlagen, Impulsen, Neigungen und Absonderlichkeiten für «unverletzlich» erklärt und dies als Rechtsanspruch gegen jedwede Form von «Diskriminierung» anerkannt wird, gibt es an ihm auch nichts zu bilden, durch Selbstüberwindung zu verwirklichen und zu verantworten. Der rein biologische Gattungsbegriff «Mensch überhaupt» stellt ihn ins Jenseits aller kulturgeschichtlichen Zugehörigkeit und seiner autonomen Selbstbestimmung, die ihm ein Transzendieren seiner physischen Faktizität abverlangen könnte: Er bleibt ein «Neutrum» außerhalb aller konkreten menschlichen Wirklichkeit, die er übernehmen und selbst gestalten muß.
Im Schattenreich solcher Neutra hat sich auch der Freiheitsbegriff autonomer Selbstbestimmung längst in sein Gegenteil verkehrt: Denn ursprünglich bezeichnet er die Macht menschlichen Erkennens, seine naturhaften Triebe überwinden und zur Impulsivität seines Handelns jederzeit «Nein!» sagen zu können. Nur durch diese eigens auszubildende geistige Kraft transzendierenden Neinsagens ist «Selbstbestimmung» überhaupt ein Begriff menschlicher Freiheit. Dem menschenrechtlichen Zeitgeist aber fällt er mit dem, wovon sich die Freiheit zu befreien hat, um wirkliche Freiheit zu sein, zusammen; und meint nun nichts anderes mehr als den ungehinderten Vollzug physisch übereigneter Faktizität lebendigen Daseins, die als subjektive Beliebigkeit erscheint, aber in Wahrheit nur die naturhafte Determiniertheit des Subjekts ist. Das wird ihm dann auch ebenso überzeugend wie entschuldigend von der Neurophysiologie vorgerechnet: Er kann eben nichts anders. Von einer Bildung zur Freiheit ist nicht mehr die Rede: Sie ist naturgegeben der unmittelbare Lebensvollzug selbst. Das ganze Freiheitsproblem bestehe nur darin, alle äußeren Hindernisse, Störungen und Zwänge, die samt und sonders dem Untier «Gesellschaft» angelastet werden, beiseite zu räumen. Im Menschenrechtsdiskurs steht dafür Staat, der an der naturgegebenen Faktizität des Einzelnen den Altar sakraler Achtung aufrichten soll.
Damit stehen wir vor dem Paradox, daß der in seiner Grundintention moralische Menschenrechtsdiskurs den Menschen gerade nicht als moralisches Subjekt sichtet, sondern als biologisch verdinglichtes Objekt. Der in seiner biophysischen Unmittelbarkeit sakralisierte Einzelne ist der immer und überall gleiche allgemeine Mensch: der an sich «Gleichwertige» an «Würde», obgleich er als ethisch-moralisches Neutrum weder «Wert» noch «Würde» noch allgemeine, unveräußerliche «Rechte» in Anspruch nehmen kann. Dazu müßte er Subjekt sein; aber sobald er das ist, gibt er sich auch seine an Wert und Würde unterschiedene Wirklichkeit, die nicht für alle die gleiche ist. Der Widersinn erkärt sich nur daraus, daß es dem Menschenrechtsdiskurs überhaupt nicht um den Menschen als ethisch-moralisches Wesen geht, sondern um den Staat, die politische Organisationsform der Gemeinschaft, in der die einzelnen Menschen als reine Objekte kollektiver Macht existieren und deshalb vor ihr zu schützen seien. Er fungiert nicht als binnengesellschaftliche Moral, die das Verhältnis der Einzelnen zueinander regeln soll, wie das heute weitverbreitete moralische Mißverständnis der Menschenrechte unterstellt; sondern allein als Staatstheorie, die an der Unverletzlichkeit des Einzelnen ihr moralisches «Absolutum» hat, aus dem die politische Institution der Gemeinschaft in ihren Rechtsverhältnissen zu konzipieren ist. Wie dies zur Auflösung des Staates und damit aller Rechtsverhältnisse - und damit auch der Menschenrechte selbst - führt, wurde schon im vorangegangenen Blog (3) dargelegt.
Resultat: Der Menschenrechtsdiskurs hebt unter dem moralischen Absolutum des Einzelnen nicht nur alle Ethik und Moral, sondern auch jede staatliche Rechtsgemeinschaft auf, um die in ihrer naturhaften Unmittelbarkeit «autonome» Subjektivität gleichwohl der unbedingten Geltung von Recht und Moral zu unterstellen, die weder Einzelne noch Gemeinschaften, also überhaupt niemand, mehr gewährleisten kann.
Dieses, nur auf den ersten Blick paradoxe Resultat, entspringt wesentlich der dialektischen Kontamination des Menschenrechtsdiskurses, der als Gegenreaktion auf die Gewalt totalitärer Diktaturen den Einzelnen zum moralischen Absolutum erklärt, damit aber das Totalitäre des Staates in der moralischen Unbedingtheit des Einzelnen reproduziert: Ein geradezu klassischer Fall von Überkompensation. Die moralische Unbedingtheit nimmt nun dieselben Züge an wie das, wogegen sie gerichtet ist – und eben darin besteht die dialektische Kontamination, mit dem Gegensatz identisch zu werden. Das klingt abstrakt, ist aber in seinen realgeschichtlichen Konsequenzen überall greifbar, wo das staatliche Handeln wehrlos gegenüber den Rechtsansprüchen von Einzelnen wird - eine Wehrlosigkeit, die bis in den Schutz der Illegalität reicht und selbst die Verbrechensbekämpfung unter Menschenrechtsvorgaben behindert, wenn nicht gar vereitelt. Als Spielball von sakrosankten Einzelnen erodiert die staatliche Rechtsgemeinschaft, indem ihr die Basis im Gemeinschaftsethos der Einzelnen selbst entzogen wird. Denn sie sind ethisch-moralisch neutralisierte «Bio-Menschen», bar aller geschichtlichen und kulturellen Eigenheiten: eigenschaftslose «Neutra»; und so soll auch der Staat in seinen Institutionen ein in jeder Hinsicht kulturell und geschichtlich «neutraler» sein – eine Neutralität, die alle kulturgeschichtliche Bedingtheit ins Eigenschaftslose auflöst – und sie nun als pseudo-religiöse Transzendenz anbetet.
Aber wie der Mensch immer ein in seiner Faktizität vergemeinschaftetes Wesen ist, das an seiner sprachlich-kulturell über zahllose Generationen erzeugten Welterschlossenheit die Grundlage seines eigenen Seins hat, so ist auch der Staat als ethische Gebilde gemeinschaftlichen Rechtsbewußtseins kein «Neutrum», und eine vermeintlich «weltanschauliche Neutralität» des Staates ein Unding, die nur einem der geschichtlichen Wirklichkeit entfremdeten Denken entspringen kann. Der Menschenrechtsdiskurs aber lebt von der Verleugnung der geschichtlichen Wirklichkeit individuellen wie kollektiven Menschseins: Er überführt die Menschen ins Schattenreich eigenschaftsloser Neutra, die sich mit der Selbstverleugnung ihrer Wirklichkeit zu Phantasiewesen ohne Kern und Eigenheit verflüchtigen: Nehmen wir den Menschenrechtsdiskurs als geschichtliches Symptom des Zeitgeistes und Bildungsmedium des allgemeinen Bewußtseins, dann wird er zum Zeichen einer tiefen existentiellen Selbstentfremdung des modernen Menschen von seiner physischen und geschichtlichen Wirklichkeit, die sein Unvermögen besiegelt, mit der Negativität des Wirklichen umzugehen.
Denn er arbeitet nicht nur an der Entmachtung der Staates: der geschichtlichen Selbstbehauptung der Rechtsgemeinschaft, sondern ebensosehr an der des einzelnen Menschen: Seine Sakralisierung enthebt ihn aller Bildungsverantwortung und befördert mit dem Kollaps aller Bildungsinstitutionen auch die intellektuelle Verwahrlosung des öffentlichen Raumes, die der Beliebigkeit des Meinens keinerlei kritische Selbstreflexion oder sachliche Fundierung mehr abverlangt.
Der sakralisierte Einzelne existiert als die Heiligkeit seines Meinens; seiner Bildungsverpflichtung enthoben, entbehrt er der Ausbildung seiner personalen Eigenheit und damit seiner Lebenstüchtigkeit, Bildungskraft und Reflexivität, sich umwillen seiner selbst ein freies Dasein zu geben. Wo das Subjekt seiner Eigenheit entleert ein nur noch allgemeines Schema bioförmiger Existenz ist, hat auch die reflexive Bildungskraft keine Instanz mehr, auf die sie zurückkommen und gestalten kann, um sich von ihrer Negativität zu befreien. Es fehlt das ethische Subjekt der Freiheit: «Mensch überhaupt» oder «Menschheit» ist gerade kein solches Subjekt, auf das reflektierend der Einzelne sich in der Freiheit seines Daseins ausbilden könnte. Der seiner eigenen Wirklichkeit entfremdete Mensch wird als sakralisiertes Subjekt nicht mehr in seiner lebendigen Bildungskraft, der ethischen Transzendenz seiner Freiheit gefordert; und seine Sakralisierung erzeugt ihn nun als den Wildwuchs aller moderner Untugenden, von Eitelkeit, Faulheit, Anmaßung, Gier, Scham- und Charakterlosigkeit, Verblendung und Realitätsflucht. Was bleibt, ist die Therapie als Reperaturstätte ohnmächtigen Lebens, das mit sich nicht mehr zurecht kommt. Die Sakralisierung wird zum Signum einer zur Therapiegesellschaft degenerierten Welt; und die Ideologie der Menschenrechte zum Versuch des modernen Menschen, sich – seine Verwahrlosung – anzubeten.
In der Bildungsgeschichte der Moderne ist der Menschenrechtsdiskurs längst zu einem selbstlaufenden und auch lukrativen Geschäft von hauptberuflichen Moralagenturen geworden, die sich dem Guten selbst widmen und daran ihre existentielle Selbstbefriedigung finden. Während der nebenberuflich Gute etwas kann und macht, das, wenn es gelingt, auch gut ist, geht der hauptberuflich Gute ohne weiteres Können und Machen auf das Gute selbst, das seine Sphäre an der Idealität des Vorstellens und seiner Postulate des Seinsollenden hat. Dazu bedarfs es auch keiner Bildung, sondern allein des zeitgeistigen Riechers. Geschichtlich rückblickend aber ist es eine Binsenweisheit, daß er an der anderen Sphäre: der Sphäre der geschichtlichen Wirklichkeit und ihrer Gewalt – nicht einen Deut verändert, gar verbessert hat. Eher im Gegenteil. Im Feld des Politischen wird alles, es mag noch so gut gemeint sein, zum Gegenstand von Machtinteressen, die es anders meinen und mitunter ins Gegenteil verkehren. Die Dynamik des Faktischen boykottiert die Postulate des Seinsollenden, so «unbedingt» sie auch gemeint sein mögen. Wer sich an die Menschenrechte bindet, mag zum Gefangenen derer werden, die sich dadurch nicht binden lassen - und an ihrem Machtüberschuss zugrunde gehen. Wo die Menschenrechte als politisches Machtinstrument eingesetzt und zu moralischen Unbedingtheiten übersteigert werden, verschärfen sie die realgeschichtlichen Gegensätze zu kulturellen Unversöhnlichkeiten, die auf wechselseitige Übermächtigung lauern. Moralische Unbedingtheit aber gehört in die Theologie oder Metaphysik – nicht aber ins Feld der Politik, die es als Kunst der Immanenz immer mit der unendlichen Welt wechselnder Bedingungen zu tun hat, das eigene geschichtliche Dasein zu bewähren und fortzubilden.
Der Menschenrechtsdiskurs krankt an seiner Prätention von Unbedingtheit, Absolutheit, Universalität, die ihn überall in Widersprüche und Auswegslosigkeiten verstrickt. Er ist der große Apell an den Staat: die Rechtsgemeinschaft, etwas zu sollen, was er von keinem Einzelnen fordert – ethische Selbstbildung. Es fehlt die zum Menschenrecht komplementäre Menschenpflicht ethischer Selbstbildung: die Pflicht, sich in seinem Menschsein zu bilden. Es ist das jedem Einzelnen übereignete Sollen, sich eine freie Wirklichkeit zu geben, die aus dem geschichtlichen Erfahrungshorizont gemeinschaftlichen Daseins, ihrer Kunst, Religion oder Philosophie ihre maßgeblichen Vorbilder ausgebildet hat. Allein daran hat der Mensch auch seine lebendige Wirklichkeit, die ihn aus dem Schattenreich der Neutra ins wirkliche Menschsein heraustreten läßt. Und die erste Aufgabe aller Politik wäre nicht Bildungspolitik?
Nicht die Menschenrechte, sondern allein die geschichtlich gewachsenen Bildungsinstitutionen und ihr kultureller Reichtum bilden das ethische Fundament im Gemeinschaftsbewußtsein der Einzelnen, das letztlich auch der einzige Garant einer wirklich demokratischen Staatsverfassung ist. An die Stelle des menschenrechtlichen Universalismus tritt dann die Rückbesinnung auf das Eigene menschlich-geschichtlicher Wirklichkeiten, die nur dadurch, daß sie übernommen und ausgetragen werden, ihre Freiheitspotentiale entfalten können. An dieser kulturellen Eigenheit hat jede menschliche Gemeinschaft den Grund politischer Legitimität, wie er von der UN-Charta als kulturelles Selbstbestimmungsrechts der Völker festgehalten wird. Dieses steht aber in einem spannungsreichen Gegensatz zur «Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte». Dazu mehr im nächsten Blog.
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Über den Autor:
RUDOLF BRANDNER, geb. 1955, Studium der Philosophie, Psychologie und Indologie in Freiburg, Paris (Sorbonne) und Heidelberg, 1988 Promotion über Aristoteles, 1993 Habilitationsarbeit zum philosophischen Begriff der Geschichtlichkeit. 1985 – 1999 neben Lehr- und Vortragstätigkeit im deutschsprachigen Raum zahlreiche Gastprofessuren in Frankreich, Italien und Indien. 2000 – 2005 Rückzug in die philosophische Grundlagenforschung. Brandner lebt als freier Philosoph in Freiburg i. Br. und Berlin. Hier geht es zur Internetseite von Rudolf Brandner.
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