Sie traf mich unvermittelt und inmitten einer sehr besonderen Stimmung, diese Frage nach Schuld und Verstrickung. Meine entspannte Haltung unter Kopfhörern auf der zum Aufenthalt genutzten Parkbank und mein leicht entrückter Gesichtsausdruck ließen wohl Neugier beim sich hinzugesellenden Pärchen, so um die zwanzig, auf der Nachbarbank entstehen. Bald schon obsiegte die Neugier: Was hören Sie da? Bach unter Furtwängler, so meine Antwort. Ein Aufmerken und das Heben der Augenbraue: Furtwängler? Der Furtwängler – der Nazi? Ein Aufmerken nun auch meinerseits, ich hatte die Bekanntheit des Namens angesichts des „staatlich gezüchteten Bildungsschwund[s]“ (Gottfried Benn) nicht erwartet. Es schien mir – mit Fred K. Prieberg – jedoch einmal mehr, „[d]as persönliche Verhalten eines namentlich bekannten Menschen unter den Bedingungen der Diktatur macht hierzulande – falls es sich nicht um „linke“ Diktatur handelt – immer noch ungeliebten Stoff“. Ein Gedanke will dann nicht mehr aus dem Kopf, der unausweichlich fragen läßt: Gibt es tatsächlich zweierlei Maß in unserer Erinnerungskultur gegenüber den beiden deutschen Diktaturen? Was unterschiede dann aber die Opfer? Ist brauner Terror verabscheuungswürdiger? Welcher Firnis verdankt sich die Verharmlosung der kommunistischen Diktatur, die sich gerne selbst als „Diktatur des Proletariats“ benannte?
Die Keule war also in Anschlag gebracht. Nur ein Masochist verspürte dann noch Neigung auf Erwiderung oder Aufklärung. Dabei wäre doch – wie der französische Historiker Marc Bloch einmal meinte – über den „Leitstern“ des Forschens und Erkennens „ein einziges Wort“ zu sprechen: „verstehen“. Viel Romantik mag schon in diesem „Leitstern“ anklingen, doch Geschichtswissenschaft wie Biographik sind keine „exakten“ Wissenschaften. „Ist wirklich eine einzige Thatsache richtig wiedergegeben? [...] Wie oft mag der Neid, die Bosheit, die Rache, der Haß die Feder geführt [...] haben“, schrieb eingedenk eigener biographischer Arbeit 1905 Elisabeth Förster-Nietzsche in ihrem Essay „Nietzsche-Legenden“.
Kammermusikalisches mit zwölf
Meine Befürchtung, neben dem Unwissen träte einmal mehr die Ideologie vor die Kunst, wurde allerdings flugs zerstreut. Wir redeten dann zu meiner Überraschung tatsächlich noch über Furtwängler, den Menschen, den Musiker, sprachen über das (Über-)Leben und das Mitmachen in der Diktatur und der Gegenwart, über die Kontinuität des Zivilen, über Erinnerungskultur und ihre Schwierigkeiten. Trefflich notierte dazu schon 1938 Heimito von Doderer im Roman „Ein Mord, den jeder begeht“: „Was an Schrecken oder Großartigkeiten von einer Zeit im Menschengedenken übriggeblieben und auf uns gekommen ist, sehen wir durch die weite Perspektive gleichsam zusammengedrängt. Damals war es verteilt und schwamm in der Flut einer ganzen Zeitstimmung, ja, es befand sich vielfach fast in der Schwebe des beinah Selbstverständlichen.“
Er, Furtwängler, Gustav Heinrich Ernst Martin Wilhelm, wollte von Kindesbeinen an Komponist werden. Mit sieben Jahren erfolgten erste kleine Kompositionen, Kammermusikalisches dann mit zwölf. Der Durchbruch als Komponist blieb ihm verwehrt, manch Nackenschlag war einzustecken, so der Schiffbruch bei Aufführung seiner „D-Dur-Symphonie“ in Breslau: „Der Applaus war endenwollend“, wird überliefert, „und man pfiff tüchtig“. Stetig aber setzte er seine Anläufe fort, um Komponist zu werden, das Ziel irgendwie zu erreichen, Studien zu Kontrapunkt und Harmonielehre folgten, Privatstudien dann bei Max von Schillings. Doch trotz allen unablässigen Drängens, der junge Furtwängler spürte, ein Broterwerb mußte dennoch her. Mit 20 Jahren gibt er sein Debüt in München als Dirigent. Gegen Widerstände bringt er Anton Bruckners „Neunte“ zur Aufführung und verschafft sich Achtung. So wird er nach verschiedenen Anstellungen als Korrepetitor bald Kapellmeister, dann Hof- und Staatskapellmeister, im Juli 1933 wird er zum Preußischen Staatsrat ernannt, im August 1944 findet er sich als Verzeichneter auf der „Sonderliste“ der „Gottbegnadeten-Liste“.
Die Auferstehung der Romantik
Furtwängler. „Er war ein Symbol. Er verkörperte – vor der großen Öffentlichkeit, ja in den Schlagzeilen der Weltpresse – wie kein anderer deutscher Musiker die deutsche Tonkunst. Er hatte, nicht erst seit 1933, sondern schon während der Republik, eine so fest etablierte Machtstellung, daß in der öffentlichen Meinung Aufgabe und Person verschmolzen: Furtwängler, Begriff für genialische Kunstübung, Symbol der treibenden Kraft im Musikbetrieb des Reiches“, wird sein Biograph Fred K. Prieberg schreiben. Furtwängler – Symbol, doch vielmehr noch – Faszinosum, Mysterium. In Furtwängler feiert die Romantik ihre Auferstehung, für ihn bedeutet sie existenzielles Erfahren und Erleben. Aus diesem Universum erwächst die vulkanische und oftmals barbarisch anmutende Kraft seiner Interpretation. „Bárbaros“, das Wort der Griechen für alle Nicht-Griechen, für alle Fremden, bedeutet in seinem Ursprunge „lallend“ oder „stammelnd“ und meint dann im Kern „grobschlächtig, feurig, roh, grausam, ungebildet, habgierig, treulos, wild, gewalttätig, entfesselt“. Dieses Entfesselte, Feurige, Wilde bricht sich oftmals Bahn und erzeugt zusammen mit der Suche nach Maß, Spannung eine künstlerische Qualität, die denen der großen Kompositionen gleichrangig wird. „Es scheint, als hätte er selbst die Musik komponiert“, heißt es schon 1911 aus Lübeck, der Stadt seiner ersten Anstellung als Kapellmeister. Doch keine Aufführung ist willkürlich, der Notentext freilich muß jedoch erst zur Existenz gelangen, soll die Komposition lebendiges Klangereignis werden. Das jeweilige Ereignis dann aber ist einmalig, es kann ausschließlich in dieser, seiner Einmaligkeit erlebt werden. Bestenfalls ist eine Aufzeichnung möglich, die das Ereignis bannt, aber dabei einen Großteil der ursprünglichen Atmosphäre preisgibt. Natürlich unterscheiden sich zudem die geplanten Studioaufnahmen von den Livemitschnitten. Unterliegen die einen einem gewissen Zwang der „Endgültigkeit“ und somit einer möglichen Hemmung in der Interpretation, so bilden die anderen die Atmosphäre aufgrund der technischen Beschränkungen nur unzureichend ab. Zerhustete und durch Nebengeräusche belastete Konzertmitschnitte sind immer ein Ärgernis. Doch diesen Widrigkeiten zum Trotz, Furtwängler hinterläßt der Nachwelt sein Werk, das abgeschlossen und unwiederholbar ist. Einzigartig – ein Solitär.
Beispielhaft sei hier angeführt die Liveaufzeichnung des Konzertes der 5. Sinfonie (c-Moll, op. 67) von Ludwig van Beethoven vom 7. Februar 1944 aus der Staatsoper Berlin. Furtwängler dirigierte die Berliner Philharmoniker in geradewegs entfesselter, „barbarischer“ und rauschhafter Heftigkeit. Das viertönige Kopfmotiv erscheint in unfaßbarer Eindringlichkeit. Die Wiederholungen des Anfangsmotivs formen sich immer gewaltiger, am Ende werden sie zu Hammerschlägen der Vernichtung, der Auslöschung – und bleiben dennoch sinnlich. Die gesamte Aufführung durchzieht eine unablässige Spannung. Der nahtlose Übergang vom dritten zum vierten, letzten Satz steigert diese Gespanntheit ins nahezu Unerträgliche. Den eigentlich triumphalen Charakter des Finalsatzes bricht Furtwängler dann durch eine zerreißende Verlangsamung des Tempos.
Apollo und Dionysos
Zwei Dirigenten legten vermutlich die Wurzeln für Furtwänglers unvergleichlichen Interpretationsstil. Sie wurden als Verkörperungen des Apollinischen wie des Dionysischen wahrgenommen. Dort das didaktische Vermögen eines Hans von Bülow, klar und intellektuell, hier das intuitiv Magische, der schwärmerische Wohlklang eines Artur Nikisch. „Diese beiden antagonistischen Stile“, so notierte der Musikkritiker Karl Schumann, „verlangten nach einer Synthese, und die kam durch Wilhelm Furtwängler. Es war die Kombination des Apollinischen mit dem Dionysischen, unterstützt von einer intuitiven schöpferischen Vorstellungskraft, die Furtwänglers Position in der Entwicklung der orchestralen Dirigiertechniken in ihrer Essenz unterschied. Bülow und Nikisch waren die beiden antipodischen Patriarchen dieser Stil-Synthese. Wagner, Weber und Liszt spielten die Rolle der geistigen Vorgänger. Die Grundlage bildete die Romantik mit ihrer Wertschätzung einer starken und eigenwilligen Persönlichkeit.“
Furtwänglers Verknüpfung von intellektuellem Scharfsinn mit elementarer Leidenschaft lassen seine Dirigate zu eigener, erhabener und eben unvergleichlicher Kunst werden. Natürlich war ihm immer bewußt, daß der Interpret allererst der Partitur verpflichtet ist. Er sah die Interpretation als „eine Frage des musikalischen Schicksals“, so hieß es in seinem gleichnamigen Aufsatztitel aus dem Jahre 1934, „die Musik sollte dem Interpreten wie seine eigene Haut passen“. Das Eintauchen in das Werk als Ganzes wird er immer herausstellen. Mag diese Konzeption des „Eintauchens“ und Versenkens auch romantischer Natur sein, die Aufgabe des Dirigenten, führt er aus, „ist nicht, so objektiv wie möglich zu berichten, sondern die Musik zu einem brennenden Leben zu erwecken, mit all der Leidenschaft und all der Liebe, zu der er fähig ist“.
Angst vor Pathos
Das Unvergleichliche sind die perfekt ausgeloteten melodischen Bögen, sind die mannigfachen und schillernden Klangebenen, sind die charakteristischen Stimmungen der Soli, die Wichtungen des Zusammenspiels, die überraschenden Momente, die Spannungen. Dem Hörenden bleibt von nun an – nach Martin Walsers gleichnamigen Roman – „Seelenarbeit“ zu leisten. Dieses trefflichen Romantitels erinnerte ich mich auf der Parkbank, als ich die Liveaufnahme von den Salzburger Festspielen vom August des Jahres 1950 hörte: Johann Sebastian Bach, Brandenburgisches Konzert Nr. 5 D-Dur, BWV 1050. Furtwängler dirigierte und übernahm zugleich den Klavierpart. „Obwohl es auch damals bereits Übung geworden war, für derartige Aufgaben bei Bach das Cembalo zu verwenden, wählte Furtwängler das Klavier […] Sein Klavierton gewann auf geheimnisvolle Weise die gleiche Klangqualität, die das Orchester unter seiner Leitung hatte – eine unwiederholbare Mischung“, schwärmt Gottfried Kraus. Die Seele – was immer sie auch sei – hat hier tatsächlich zu „arbeiten“, reichlich gar. Rauschhafte Durchflutung, zerreißende Tempi, unablässige Spannung, gigantische Klangvolumen. Seelenarbeit ist zu leisten. Im Nachgang solchen Hörens bleibt das Staunen und die Frage wird unabwendbar, was der Mensch wohl ohne diese Musik sei. Genialität begegnet sich hier doppelt, in der Komposition wie in der Interpretation.
Aufführungen solcher Art sind heute nicht mehr zu hören, die meisten Interpreten wie Dirigenten sind von einer eigenartigen Angst befallen. Es ist die Angst vor dem Pathos. Abgründe könnten sich auftun, so tief will man weder blicken noch letztlich fallen. Seichtigkeit allerorts. Furtwängler kannte diese Angst nicht, er ließ sich von der Komposition hineinziehen in den Strudel seelischer Abgründigkeit. Seine Orchestermusiker und Solisten folgten ihm auf dem Weg ins Himmlische wie auch ins Bodenlose.
In leichter Variation bleibt mit Marc Bloch das Desiderat bestehen: „Anhänger von Furtwängler, Gegner von Furtwängler, wir flehen Euch an: Sagt uns bitte nur, wer Furtwängler wirklich war!“ – ein Mythos jedenfalls schon zu Lebzeiten.
*
Hier können Sie TUMULT abonnieren.
Für Einzelbestellungen klicken Sie bitte hier.