Aus einer beeindruckend teilhabenden Perspektive vermag der 1966 im Sächsischen geborene und aufgewachsene Jörg Bernig zu erzählen. Ein mehrjähriger Aufenthalt in Wales und Schottland ermöglicht ihm zudem die großartige und „langsame Fahrt der Literatur“ (Uwe Tellkamp). Mit seinem Roman „Eschenhaus“ ist Bernig ein großer Wurf gelungen.
Eine unerwartete Erbschaft, mithin die Versicherung, einen Pferdefuß an der Sache gäbe es nicht. Das „Eschenhaus“ gehöre fortan ihr, keine Belastung läge auf dem Haus, ein paar Reparaturen irgendwann, wie an jedem Haus nötig, die einzige Last. Zudem sei es an der walisischen Küste wunderbar gelegen, sie, Anna, möge die Erbschaft nicht ausschlagen. Zweimal wird nacheinander betont: „Nehmen Sie das Haus an […] Nehmen Sie das Haus an, machen Sie es sich zu eigen.“
Mit der Erbschaft beginnt dann sogleich die Einholung des Vergangenen. Der beigefügte Brief wirft schließlich Fragen auf, Fragen nach der Vergangenheit. Wer war der Unbekannte, der behauptet, die „glücklichste Zeit“ seines Lebens mit ihren Eltern in Leipzig genossen zu haben und der obendrein behauptet, die Eltern seien „die einzigen richtigen Freunde“ gewesen? Von einem Mann aus Großbritannien war von den Eltern hingegen nie zu hören. Die Eltern: „Heidi, Lohnbuchhalterin, früher Literaturwissenschaftlerin an der Universität Leipzig / Hans, Friedhofsarbeiter, früher Musikwissenschaftler an der Universität Leipzig.“
So begibt sich Anna, Anfang vierzig, „mit verwaistem familiären Hintergrund“, als Zeichnerin und Buchillustratorin tätig, auf eine Spurensuche. Der Anprall der Vergangenheit wird zunehmend heftiger. „Noch konnte sie umkehren und alles ungeschehen machen, im Vorhinein. Zukünftiges ungeschehen machen …“ Eine Verunsicherung tritt hinzu, ausgelöst durch die Frage, die doch eigentlich nur zu einer ersten Verständigung dient, die, neben dem Blick und einem Lächeln vielleicht, sich unscheinbar gibt und mögliches Eis brechen soll: „Was macht man bei Ihnen …?“ Nia fragt so, die Lebensmittelhändlerin, die erste Kontaktperson in neuer Umgebung, die Anna bekannt machen will mit den Dörflern. Denn da sind im Laufe der Zeit einige Fremde gestrandet. „Dragan der Serbe“ aus Belgrad etwa, dazu die „Wanderer“, Deutsche, so wie Anna. Suchende, Entwurzelte sind es, Versprengte, die sich stemmen gegen immer bedrohlichere und sich verkrustende Tendenzen der Gegenwart. Unklar bleibt, „[w]ie lange sie bleiben wollte“, drei Wochen hatte sie sich freigenommen und ahnte doch, „daß sie in etwas anderes geraten würde, in Seltsamkeiten, Merkwürdigkeiten, ja, und das im besten Sinn, in Fremdheiten, gar ins Fremde“.
Eine Religion zieht herauf
Überhaupt wird das Gefühl stärker, „einen Sicherheitsabstand zu haben. Einen sicheren und sichernden Abstand zu dem, was sie dort, wo sie herkam, zurückgelassen hatte, und was dort, wo sie herkam, sich erst noch ereignen würde“. Denn ihre Beunruhigung kommt nicht von ungefähr, auf dem Kontinent vollziehen sich verstörende Umbrüche. Freilich, auch sie „hatte lange Zeit geglaubt, weit entfernt zu sein von dem, was unten und draußen sich ereignete“. Das war naiv. Doch Anna begreift immer mehr, die Korridore werden schmaler, der Verlag erwartet ein schriftliches Bekenntnis zu den neuen Werten. Der diktaturerfahrene Leser erinnert sich an desaströse Verödungen und wird Vergleiche ziehen wollen, auch zu dem „besten Deutschland aller Zeiten“. Und für alle Voreiligen sei gleich hinzugefügt: Vergleichen bedeutet nicht notwendig ein Gleichsetzen. Der Vergleich aber legt Unterschiede offen, deshalb vergleicht man schließlich.
Annas Wirklichkeit war in Auflösung begriffen, ein Auseinanderdriften vollzog sich, „Tag um Tag war das so gegangen“. Tröstlich erscheint somit das Haus am Meer. Das Meer wird sie zum sicheren Gefühl beglückwünschen und ihr einflüstern: „Sieh zu, daß Du einen Ort für dich an einer meiner Küsten findest. Du weißt nicht, ob du mich als Weg, vielleicht gar als Fluchtweg, wirst brauchen können oder als ein Hindernis zwischen dir und etwas oder jemand Zurückgelassenem.“ Dann waren da Nias zwei Worte sogleich wieder – „bei Ihnen“ – und in Anna begann „das Vorbeizischen der Gedanken“. Deutschland befand sich inmitten eines Zerfallsprozesses, die „deutschen Länder wichen Distrikten, weil die Namen der Länder zu sehr auf die Namen obsolet gewordener Völkerschaften aus einer nicht weniger obsolet gewordenen Besiedlungsgeschichte verwiesen und Bewohner anderer Herkunft ausschlössen“. Vor dem Verfassungsgericht wurde das verhandelt wie auch das Wort „Deutschland“ zu verhandeln war – „das frühere Deutschland, das ehemalige Deutschland, das historische Deutschland, das früher sich auf diesem Territorium befunden habende Deutschland“. Mit dieser „grundsätzlichen Wandelbarkeit“ sei die „Bundesrepublik“ immerhin „nun endlich auf der Höhe der Zeit“ angekommen. Und Anna erinnerte sich der großen Zustimmung unter den führenden Repräsentanten der Kirchen bei einer Pressekonferenz, „bei der auf jegliches religiöse Symbol verzichtet wurde“, schließlich seien „die Gefühle der Nicht-Glaubenden oder Anders-Glaubenden nicht zu verletzen“.
Die Kirchenvertreter stellten jedenfalls heraus, „daß sie nicht nur auf eine Vereinigte Kirche der Bundesrepublik (VKB) hinarbeiten, sondern daß es ihr erklärtes Ziel sei, bald eine Institution mit dem Namen Vereinigte Glaubende der Bundesrepublik (VGB) zu schaffen“. Längst aber gab es Gebiete, in der eine neue Religion über das Zusammenleben bestimmte: „Ewarelia“, die „Einzig wahre Religion“. „Die Namensgeber agierten aber offiziell nur unter der englischen Bezeichnung: Otrelia, the Only true religion.“ Gewißheit war schnell zu erlangen, für den, der hinsehen wollte: „die Welt Otrelias erlange im Namen eines Höheren und Besseren den totalen Zugriff auf alles, auch und gerade auf den einzelnen, Otrelia verlange die totale Selbstaufgabe.“
Untergang und Entstehung von Systemen
Jörg Bernig unternimmt in seinem neuen Roman Eschenhaus eine faszinierende Wanderung, die zugleich immer auch eine Spurensuche nach der eigenen Identität ist, durch untergehende wie entstehende gesellschaftliche Systeme. DDR – BRD – „Otrelia“.Neuerlich aber stellt sich die Frage: Warum hat die Literaturkritik kein Interesse mehr an der Literatur? Warum ist die subtile und feinsezierende Sprache des Literaten Jörg Bernig kein Aufmerken wert? Müßte dann den Kritikern und Journalisten doch endlich wieder ins eigene Bewußtsein rücken, daß die europäische und deutsche Politik wie die europäischen und deutschen Institutionen an einem Größenwahn leiden, der keine Grenzen (mehr) kennt? Veröffentlichte nicht schon im Jahre 2011 Hans Magnus Enzensberger im damaligen „demokratischen Sturmgeschütz“ SPIEGEL seine Warnung: „Es wäre doch so schön, Weltmacht zu sein! […] Wir rauchen, wir essen zu viel Fett und Zucker, wir hängen Kruzifixe in Schulzimmern auf, wir hamstern illegale Glühbirnen, wir trocknen unsere Wäsche im Freien, wo sie nicht hingehört. Wo kämen wir denn hin, wenn wir selbst entscheiden könnten, wem wir unsere Wohnung vermieten wollen! Kann es angehen, dass es Abweichler gibt, die ihre Betriebsrenten auszahlen, wie es ihnen beliebt und dass jemand in Madrid oder Helsinki ein Tempolimit einführen will, das der Euronorm widerspricht? Müssen nicht überall, ganz ohne Rücksicht auf Klima und Erfahrung, genau dieselben Baustoffe verwendet werden? Kann es jedem Land überlassen bleiben, wie es in seinen Universitäten und Schulen zugeht? … Solche Extratouren dürfen auf keinen Fall geduldet werden. Die Europäische Union weiß alles besser als wir.“
Empörtes Wohlmeinen
Bernig freilich gelingt mit seinem Roman eine tiefreichende Analyse. Zeitsprünge, Brechungen, Charaktere finden sublime Äußerungen. Gleich seiner Romanfigur Anna umtreibt auch Bernig der Versuch, Zeiten und Entwicklungen zu verstehen. Eine kritische Distanz wird notwendig, die angestrebten neuen Ordnungen im Alltag der Gegenwart wie auch im Roman scheinen eher ideologischen Phantasiewelten entlehnt als an der Wirklichkeit orientiert.
Jörg Bernig wagte 2015 einen Einspruch. Als freier Bürger ergriff er das freie Wort und kritisierte in öffentlicher Rede Merkels Grenzöffnung und die Folgen solch grenzenloser Masseneinwanderung, dazu erlaubte er sich die Veröffentlichung von Gedichten und Texten in den falschen Zeitschriften. Seine Kandidatur und gar die Wahl zum Kulturamtsleiter verschreckten das links-grüne Milieu vollends. Allenthalben Empörung. Radebeul urplötzlich im Mittelpunkt medialer Verstörung, deutschlandweit las man mit fast deckungsgleichem Wortlaut zur erfolgten Wahl: „CDU und AfD wählen neurechten Denker zum Kulturchef“ (Süddeutsche Zeitung). „Neurechter Kulturchef für Radebeul” (Sächsische Zeitung). „Der Schriftsteller vertrete neurechtes Gedankengut und für ihn haben vor allem CDU- und AfD-Fraktion gestimmt, kritisieren Räte von Linke und Bürgerforum/Grüne. Die Entscheidung macht sie fassungslos“ (Leipziger Volkszeitung). Empörte aller richtig gesinnten Sparten vereinigt euch! Auch Bernigs Kollege Uwe Tellkamp durfte solcherart Demokratieverständnis kennenlernen. Die 3sat-Dokumentation „Der Fall Tellkamp“ sei ausdrücklich als Hintergrund und zum besseren Verständnis empfohlen.
Doch die falsche Meinung hatte bereits im deutschen Staat mit antifaschistischen Antlitz seine unerbittlichen Konsequenzen: „Wer Loyalität aufkündigt, kann in dieser Sache unsere Solidarität nicht haben“, hieß es in einer Beschlußvorlage des DDR-Schriftstellerverbandes vom Juni 1979. In der ZEIT hob Fritz J. Raddatz hinsichtlich des Literaturbetriebs in beiden deutschen Staaten einen qualitativen Unterschied heraus: „Man kennt, bislang, keinen Beleg dafür, daß westliche Schriftsteller die eigenen Kollegen drangsalierten, sich – über die zum Metier gehörende Häme hinaus – beteiligten an Unrecht, die Hand reichten zur ‘Maßnahme’.“ Zeiten ändern sich, doch Ideologien und auf sie sich berufende Denkmuster sind kaum wandelbar. Die Alleinstellungsmerkmale der DDR wurden nachgerade großzügig an die Bunte Bundesrepublik Deutschland übertragen. Ausgrenzung und Stigmatisierung sind für freie Autoren auch weiterhin existenzbedrohend. Selbst das Deutsche PEN-Zentrum will liefern, veröffentlicht ein Statement und läßt wissen: „[…] wir [stehen] ein für das Ideal einer einigen Welt und einer in Frieden lebenden Menschheit. Wir verpflichten uns, jedwede Form von Hass – wie etwa Rassen-, Klassen- oder Völkerhass, Hass aufgrund des Geschlechtes oder der sexuellen Orientierung – mit äußerster Kraft zu bekämpfen“. Daraus zieht es den Schluß: „Vor diesem Hintergrund bitten wir Herrn Bernig zu prüfen, inwieweit er seine Verpflichtung gegenüber der PEN-Charta wahrnehmen kann, und ggfs. die notwendigen Konsequenzen zu ziehen.“ Keine Spur also von Rückendeckung, keine so gern beschworene Solidarität, kein Wort zum „freien Wort“, konfuse Gereiztheit dafür umso sichtbarer. Vielleicht könnte deshalb auch hier die Rückbesinnung wichtig sein, daß die 1921 gegründete Autorenvereinigung PEN International sich dazu verstand, der Freiheit des Wortes und dem freien Gedankenaustausch Geltung zu verschaffen. Wurde im Herbst 1989 nicht gerade daran erinnert? „1989 bedeutet für viele Sachsen [und DDR-Insassen] den Übertritt ins mündige Leben“, schrieb Jörg Bernig in seinem Beitrag Revoltierende Resteverwerter verfallner Imperien und folgerte luzide: „Der Irrtum, dem manche dabei lange aufgesessen waren, ist die Annahme, daß dieser Übertritt ins mündige Leben gleichsam der Übertritt in die von Mündigen bewohnte Bundesrepublik war. Aber siehe: Es gab dort keine solchen Bewohner, es gab bestenfalls einige mutige Pioniere und erste Siedler im Land der Mündigen. Mit ihrer Berufung auf den aufklärerischen Akt von 1989 zerren die Sachsen nun den in der alten Bundesrepublik kultivierten Schweige- und Duldenskonsens ans Licht, der so auch im wiedervereinten Deutschland gelten sollte.“
Was wäre Kunst also ohne Hoffnung? Am Ende des Romans besucht Anna ihre Freundin Barbara, die in einem Dorf der Lausitz Zuflucht gesucht hat mit anderen Menschen, die sich einer Diktatur nicht beugen wollen. „Sie seien das Europa des Freien Denkens, des Freien Wortes, der Musik, des Bildes und der Liebe.“ Breslau scheint diesen Menschen näher als Berlin und so trifft man auf polnischer Seite in Wahlstatt auf Jugendliche aus ganz Europa, die an den alten europäischen Wurzeln festhalten wollen. „Der Weg in irgendeinen Untergang war keine Option […] Bleibt mir vom Leib mit euren Untergängen!“
Jörg Bernig: Eschenhaus. Roman. Edition Buchhaus Loschwitz 2023. 398 Seiten, 28.00 €
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