Elias Gottlob Haußmann, 1746, via Wikimedia Commons
Hochverehrter Herr,
lieber Johann Sebastian Bach,
zwei Datumszahlen, 1685 und 2023. Die Zahlen für sich geben nicht viel her. Markieren einen Abstand, bestenfalls. Selbst dieser Abstand aber mag Ihnen gleichgültig sein, haben Sie sich doch längst unter die Zeitlosen gereiht, sind doch Ihre „Werke zum musikalischen Evangelium der Nachwelt“ (Klaus Häfner) geworden. Nichts Rundes somit, nicht einmal etwas Halbrundes böte somit in diesem Jahr Anlaß zum Jubilieren und Feiern. Auch die Forschung weiß von keinem „Erdbeben“ zu berichten, wie etwa 1962 bei einer Ihnen zu Ehren gehaltenen Tagung in Mainz, als der Musikwissenschaftler Friedrich Blume resümierte: „Der Erzkantor Bach, der schöpferische Diener am Wort, der eherne Bekenner des Luthertums ist eine Legende“. Schlüssige Neudatierungen Ihrer Werke rüttelten damals an Ihrem Bilde, der „fünfte Evangelist“ zu sein. Mithin zählt bei den Zeitgenossen das Skandalon oder wenigstens das Runde oder Halbrunde noch, daraus resultiert dann ein gewisses Interesse der medialen Zunft und der ihr im Schlepptau hängenden Öffentlichkeit. Ein wenig Zahlenmagie braucht es dann eben doch für den, der um Aufmerksamkeit buhlt. Selbst die Zahlen und die Musik gehören irgendwie zusammen. „Bach als Mathematiker“ hieß und heißt es immer wieder einmal.
Zweifellos beherrschten auch Sie eine mathematische Kompositionstechnik und machten Gebrauch von diesem Vermögen und gewisse Ausdrucksmittel wurden später methodisch zu Unterrichtsgegenständen geformt. Erklärt das aber Ihr Geheimnis, erklärt das Ihre einzigartige Musik? Benötigt die Musik die Zahl? Schon Ihren ersten bekannten Biographen Johann Nikolaus Forkel umtrieben Zweifel und er hielt fest: „Seine Handhabung des inneren Kunstmechanismus können wir allenfalls begreifen und erklären; aber wie er es gemacht hat, diesem ebenfalls nur von ihm erreichten so hohen Grad der mechanischen Kunst zugleich den lebendigen Geist einzuhauchen, der uns auch im geringsten seiner Werke so deutlich anspricht, wird wohl stets nur gefühlt und angestaunt werden können.“
Erregungen
Eine Erregung geht diesen Zeilen voraus. Mit ihnen soll gratuliert werden, mag der Geburtstag auch unspektakulär daherkommen. Kunst gilt es zu feiern, immer, auch wenn „keine Sprache in der Welt reich genug ist, um alles damit auszudrücken“, was diese Kunst ausmacht. Ihre Goldberg-Variationen waren mir einmal mehr Grund zu dieser Aufwühlung, zu meiner Faszination. Immer muß ich dann im Nachgang des Hörens dieser Musik auch in mich hinein schmunzeln, geht doch die Legende um, Sie hätten diese Musik als Einschlafhilfe komponiert. Der Cembalist Johann Gottlieb Goldberg müßte seinerzeit schon völlig talentfrei seinem Dienstherren, dem Grafen Hermann Carl von Keyserling, vorgespielt haben. Die geballte Fugen-Kunst, die ariosen Verlockungen der dreißig Variationen sind außerordentliche virtuose Herausforderungen. Aber vielleicht entwickelte sich nicht zuletzt aus solcherart Legende die Anschauung, man habe es bei klangschöner Musik mit „Sedativmusik“ zu tun. „Überraschungsfreie Tonwelten“ sind da ausgemacht, Unbekanntes würde durch Bekanntes ausgetrieben, schlechterdings liegt abgestandenster Konservatismus vor: Wiederholung und Harmonie. Bessere Musiklehrer, bitte. Wie überhaupt einen Musikunterricht, der den Namen verdiente! Schon hier die Forderung. Was es zur Musik braucht? Lapidar riefen Sie, wohl etwas gereizt, „man müsse nur die rechte Note zur rechten Zeit treffen, das sei alles …“ Freilich, Sie trauten sich da noch was, diese Verkürzung und zweimal im Teilsatz der Verweis auf das „Rechte“. Ihnen aber mag es noch geläufig gewesen sein, daß das Adverb „rechts“ der erstarrte Genitiv des Adjektivs „recht“ ist, was nichts anderes als „richtig“ bedeutet. Der Antipode von „recht“ jedenfalls ist „link“ und das war von alters her „unbeholfen“, „ungeschickt“ – linkisch eben. Als „schlecht, fragwürdig, hinterhältig“ erscheint das Linkische in der sogenannten Gaunersprache. Sie selbst werden die Bedeutung des Rechten wie des Linken anschaulich noch aus der Sitzordnung beim Gottesdienst kennen. Rechts saßen die Männer, links die Frauen. Rechts ist überhaupt der Ehrenplatz, die Bibel verweist häufig darauf und letztlich sitzt auch Jesus zur Rechten Gottes.
Als käme die Musik geradewegs vom Himmel herab
Weniger „rechter“ Takte also bedarf es nur und eine Erregung stellt sich ein. Eine Erregung, die darauf hindeutet, die Welt könnte im Entschwinden begriffen sein. So bei einem Konzert des Cellisten Sebastian Klinger, wenn er auf seinem Violoncello von 1736, aus der Werkstatt des Italieners Camillus Camilli, Ihre Solosuiten (BWV 1007–1012) zur Magie reifen läßt. Beispielhaft die Sarabande aus der Fünften Cellosuite (BWV 1011). So dann auch wenn der Violinvirtuose Linus Roth auf seiner Stradivari von 1703 mit den Sonaten und Partiten (BWV 1001–1006) brilliert. Schon der Auftakt der ersten Sonate (g-Moll) führt in die Welt des Intimsten, alles Äußere verliert seine Wirklichkeit. Ebenso wenn der überragende Pianist Martin Stadtfeld der Faszination Ihrer Goldberg-Variationen erliegt und sie mit seinen Hörern teilt: „Als käme die Musik geradewegs vom Himmel herab.“ Die noch unbestimmte Erregung gerät nach wenigen Tönen zur musikalischen Verzückung. Auflösung des Körperlichen, Widerstände der Psyche wie der Physis schwinden. Harmonien durchfluten Herz und Sinne. Vibrationen, intimste Resonanzen werden erfahrbar. Ein Ur-Erlebnis erreicht das Bewußtsein. Melodie und Traumelemente verschmelzen. Hörende Verlorenheit. Sehnsucht. Tiefste Befriedigung. Wo hätte bei solcher Virtuosität das Bekannte das Unbekannte getilgt? Wo wäre hier gar von stupider Wiederholung zu sprechen? Der musikalische Zustand aber ist dennoch keine Täuschung. Wie könnte ein Trug auch solch organischen Nachhall, solche Verzückung gewähren? Bestenfalls gesellt sich Sprachlosigkeit neben die Verzückung. Ihrem Biographen Forkel ist deshalb beizustimmen: „All unser Rühmen, Preisen und Bewundern […] wird stets bloß gutgemeyntes Lallen und Stammeln seyn und bleiben.“
Neuerliches Erregen
Alles Leben beginnt mit einer Erregung. So auch bei Ihnen, der Sie bald „überragte[n] alles Volk um Kopfeslänge“. Auch Ihr Eintritt in die Welt verdankt sich dieser sonderbaren Erregtheit. Daß sie lustvoll war, sei hiermit unterstellt. Die Bachschen Familientreffen legen solches Unterstellen nahe, sang man doch eben gerne „Volkslieder, theils von possierlichem, theils auch schlüpfrigem Inhalt zugleich […} Sie konnten […] „von ganzem Herzen dabey lachen“. Haben Sie sich dieser Lust und Unbeschwertheit später erinnert? „Mit dir und mir ins Federbett, mit dir und mir ins Stroh“, heißt es in einem damals bekannten Liede. In der Bauernkantate (BWV 212) begegnet die Melodie wieder. (Wer unverdrossen zwanzig Kinder zeugte, dem sind die Freuden im „Federbett“ wohl nicht allzu fremd.) Die Erregung wird bleiben, wohl häufig auch die Lust – Ihnen und uns. Wo Erregtheit und Lust zusammenfinden, da obwaltet zudem die abgründige Willkür, mithin Schmerz und Tod und Trauer. Sie spürten zeitlebens wohl viel von dieser tobenden Willkür. Dieses Unberechenbare, dieses Willkürliche reift in Ihnen zur scheinbar unerschöpflichen Lebensmelodie. Die Nachgeborenen deuten es so. Dabei gehörten doch Sterben und Tod als unablässige Begleiter zu Ihrem Leben. Dennoch scheint, Sie wollten dem Leben das Vertrauen nicht entziehen. Gleichsam dem Wort, gleichsam der Note nicht.
Die Note, welch Faszination: „Diese runden Köpfe auf langem Hals, diese unruhigsten Lebewesen von der Welt, in ständiger Bewegung über ihre fünfsprossige Leiter hinweg.“ Deren Sicherheit wollten und konnten Sie unmöglich bezweifeln, Sie hingen sonst mit einem Fuß schon im Abgrund. „Das Wort sie sollen lassen stahn“ wird Martin Luther zuvor schon gerufen und gesungen haben. Wohin auch fliehen, wenn alles zerbricht und entschwindet? Da ist wenigstens noch die Bindung an die Tradition, so war es schließlich immer. Zusammen gehörten einfach Handwerk und Zunft, war schließlich auch der Musiker zünftig gebunden, gehörte das Lehren wie das Lernen, Fleiß wie Dienst, Frömmigkeit und Frohsinn dazu. Die Weltsicht zeigt sich immer schon scharf umgrenzt. Ist nicht sogar Gott ein Gefangener einer solchen Umgrenzung? Überall steht ER in der Pflicht, überall und in allem hat ER zu sein. Gott der Sklave seiner Allheit und Omnipräsenz. Werden Sie, lieber Bach, hingegen nicht freier sein? Das Universum der Musik liegt seit Kindesbeinen vor Ihnen ausgebreitet. Sie werden darin aufgehen. Die Sphäre Ihrer Neigungen werden dann freilich auch Sie nicht mehr verlassen. Eine Gefangenschaft somit auch hier. Doch „gefangen“ von Umständen ist der Mensch immer. Schon der Fötus ist einer prägenden und stetigen Geräuschanwesenheit ausgeliefert. Das Ohr als Organ selbst ist ein sklavisches und ermöglicht zugleich doch Freiheit. Vernehmbar sind im Mutterleib zum einen die Herztöne, zum anderen ist da die begleitende Stimme der Mutter. Beider Melodie öffnet den Horizont und bereitet fernere, harmonische und disharmonische Hörereignisse vor. Beginn der akustischen Welterfahrung. Lange vor dem Schreiben war das Hören. Lange vor der Note war der Ton. Diese Rückbesinnungen braucht es wohl gelegentlich zur Standortbestimmung. Darf ich deshalb vermuten, es kommt nicht von ungefähr, daß Sie als Fünfzigjähriger sich an die Aufzeichnungen über den „Ursprung der musicalisch-Bachischen Familie“ machten? Zugleich arbeiteten Sie, so liest man, an der Kantate „Ein feste Burg ist unser Gott“. Vom ersten überlieferten Bach bis zu Ihnen waren immerhin 27 von 33 männlichen Familienmitgliedern Musikanten: Kantoren, Organisten, Stadtpfeifer, Hofmusiker. Eine Reminiszenz mithin an den frühen sonoren Melodien-Zauber. Die Musik des Lebens, Sie wollten sie (wieder)finden. Bach – der Komponist der Geheimnisse des Lebens.
Die Musik ist dämonisches Gebiet
Bald weiß oder – vorsichtiger noch – ahnt man, Musik ist vermintes Gebiet, sei es nun himmlisch oder dämonisch. Wer wollte sich da auch festlegen? Verführung kennt nicht nur eine Richtung. Unvermittelt bei Thomas Mann dann aber doch eine eindrucksvolle, geradezu apodiktische Bestimmtheit: „Die Musik ist dämonisches Gebiet …“ Im Romanwerk Doktor Faustus heißt es so. Freilich, Thomas Mann veröffentlicht diesen Gedanken im Jahre 1947. Soeben übt die Welt ein zaghaftes Umher- und Aufblicken, denn schon wieder hatte die Menschheit nur wenige Jahre gebraucht, um sich nach dem Ersten Weltkrieg in eine nächste, noch gigantischere Katastrophe zu stürzen. Auch Ihre Umwelt hatte noch mit den Verwerfungen und Verlusterfahrungen des Dreißigjährigen Krieges reichlich Bürde zu bewältigen. Wer konnte und wollte hier also länger zweifeln am Wirken von dämonischen Mächten und ihrer rauschhaften Verführungskunst?
Wer nach einem hörbaren Beispiel solcher Verführung sucht, der besorge sich die Liveaufzeichnung (EMI) des Konzertes der 5. Sinfonie (c-Moll, op. 67) von Ludwig van Beethoven, die gerne auch als „Schicksalssinfonie“ bezeichnet wird, vom 7. Februar 1944 aus der Staatsoper Berlin. Ich wünschte Ihnen, hochverehrter Herr, Sie könnten ebenfalls zuhören. Wilhelm Furtwängler dirigierte die Berliner Philharmoniker in geradewegs entfesselter und rauschhafter Heftigkeit. Das viertönige Kopfmotiv erscheint in unfaßbarer Eindringlichkeit. Die Wiederholungen des Anfangsmotivs formen sich immer gewaltiger, am Ende werden sie zu Hammerschlägen der Vernichtung, der Auslöschung – und bleiben dennoch sinnlich. Die gesamte Aufführung durchzieht eine unablässige Spannung. Der nahtlose Übergang vom dritten zum vierten, letzten Satz steigert diese Gespanntheit ins nahezu Unerträgliche. Den eigentlich triumphalen Charakter des Finalsatzes bricht Wilhelm Furtwängler durch eine zerreißende Verlangsamung des Tempos. Überhaupt: Kunst und Bestialität in Verzahnung. Das Schicksal offenbart sich beklemmend. Auflösungssehnsucht und zugleich reinster sinnlicher Genuß. „Die Musik ist dämonisches Gebiet“ – der Mensch ein Verführter, immer schon. Schließlich war es doch da: Das Versagen der Eva im paradiesischen Garten. Die Anfälligkeit ist geblieben. Dämonen halten eben nicht still; werden sie gerufen, zeigen sie sich bereit. Ihr Dämmerzustand ist fester Bestandteil des Täuschens.
Verfehlungen
Musik: Taumel ins Bodenlos. In der Musik aufgehoben ist das Geheimnis unseres Entsetzens, unserer Hilflosigkeit wie andererseits auch unserer Freude und unserer Kraft. Konglomerat ebenso unserer Schreie, Gebete, Hoffnungen, Sehnsüchte wie unserer Flüche und Lästerungen. Doch dieses Taumeln und Versinken soll nicht mehr sein. Eine elitär-intellektuelle Minderheit, gehegt und gepflegt im wohltemperierten Klimamilieu der Universität, Franz Kafka wird sie in seiner famosen gleichnamigen Parabel „Hungerkünstler“ nennen, feuert aus allen Rohren gegen die „rechte“ Musik. Die harmonische Musik sei verachtenswert, sie sei als „harmonische Musik […] als affirmativ zu verwerfen, die Idee von Harmonie dürfe nur negativ ausgedrückt werden, dann offenbare sie sich wie eine Komplementärfarbe, ohne tatsächlich zu erscheinen“, so lautet die prägnante Zusammenfassung der Musiktheorie des Philosophen Theodor Wiesengrund Adorno durch Michael Klonovsky. Adornos theoretischem Ansatz fühlt sich ein Großteil der zeitgenössischen Komponisten verpflichtet. Ob diese Musik, die sich gerne als „Neue Musik“ bezeichnet, noch Hörer erreicht, ist ihnen nebensächlich. Das Singen und Spielen wollen sie gerne den Traditionalisten überlassen, wobei nicht einmal das mehr sicher ist. 1967 forderte Pierre Boulez gegenüber dem Spiegel: „Sprengt die Opernhäuser in die Luft!“ Aber so mag es dann gehen, wenn es die Umhegung von Musik nicht mehr gibt, wenn niemand mehr weiß, was „rechte“ Musik ausmacht. „Ausgemacht bleibt es, wenn die Kunst Kunst bleiben und nicht immer mehr zu bloß zeitvertreibender Tändeley zurück sinken soll“ (Forkel). Wenn alles, was hörbar ist, als Musik aufzufassen ist, so hat die Rede über Musik ihren Gegenstand verloren. Die Grenzziehung von Musik und Nicht-Musik ist dann unmöglich. Vielleicht wird den Hungerkünstlern irgendwann das „Verzeiht mir alle“ entschlüpfen. Auch ein Karlheinz Stockhausen besann sich spät wieder auf die Melodie.
Komm, sanfter Tod, und führ mich fort
Sie, verehrtester Johann Sebastian Bach, wollten den Hörer wie den Musiker niemals zum Weghören zwingen, verspürten kein Bedürfnis, den Lärm und die Schäbigkeit des Alltags, die dauernde Dissonanz zur „Musik“ zu (er)heben. Vielmehr wollten Sie ihn hineinzwingen in die Melodie und damit in die Tiefen der Innerlichkeit. Die Harmonie kennt – wohl nur gleich der Liebe – die Sterbensfreude. Durchzuckungen der Wonne, sekundenlang nur spürbar, die inneren Vibrationen, die dann nicht auszuhalten sind. Kurzes Aufblitzen des Wunsches, jetzt zu vergehen. „Komm, sanfter Tod, und führ mich fort“, singt der Baß in der Kantate „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn“ (BWV 157). Aufblitzen der Todesbereitschaft. Fließen aber nur innerliche Tränen, wenn Sie flehend bitten (BWV 8): „Liebster Gott, wann werd ich sterben?“ Todessehnsucht, die mich beklemmend macht und zugleich fesselt (BWV 95): „Ach, schlage doch bald, selge Stunde, / Den allerletzten Glockenschlag! / Komm, komm, ich reiche dir die Hände, / Komm, mache meiner Not ein Ende, / Du längst erseufzter Sterbenstag!“ Den Tenor führen Sie an die Grenzen der Stimmlichkeit. Wer wollte nach solcher Hörerfahrung noch zurück in die Alltagswelt? Das endgültige Verlöschen ist der geringere Preis, auch nach erotischer Ekstase scheint es so. „Ach! wär ich doch nur tot!“ (BWV 125).
Dieses Todesverlangen, woher? Der biblische Glaube weiß davon wenig. Dort ist eher Gegenteiliges zu lesen: „Alle die mich hassen, lieben den Tod“ (Sprüche 8,36). Ist es die Erinnerung an das Sterben Ihrer Kinder, die diese Werke inspiriert? Ihren Biographen genüg(t)en tatsächlich drei Episoden: eine Degen-, Perücken- und Chorpräfekten-Geschichte, um Ihr Lebensbild zu rekonstruieren, um aus Ihnen einen „grobe[n] Mann“ zu machen, mit dem „schwer zu leben“ war. Sodann aber nur Bruchstückhaftes. Kaum etwas ist sicher, vieles Legende. Von Ihrem Verlust hingegen, vom Sterben Ihrer Frau, Ihrer Kinder, von neun Todesfällen in den Jahren zwischen 1726 und 1733, schweigen sie. Das erschütternde und zerrüttende Kindersterben findet in den Biographien kaum Erwähnung. Ihnen wird eine Schaffenskrise attestiert, die Gründe verbleiben im Nebel. Macht Trauer schamhaft?
Erregungen werden verbleiben. Musik und Liebe können den Tod zwar nicht bezwingen. Doch was wären schließlich unsere Freuden ohne unsere Betrübnisse, was bedeuteten auch unsere Tränen ohne Trübnis und Lust? Ihre Musik, lieber Johann Sebastian Bach, zeigt Antworten auf. Ihr Biograph Forkel war sich denn auch sicher: „Auch vor Einseitigkeit, wohin nichts so leicht als der herrschende Zeitgeschmack führt, werden wir durch das Studium solcher Klassiker bewahrt, die den Umfang der Kunst so erschöpft haben.“ Gratulation, Ihnen!
„Sey stolz auf ihn, Vaterland; sey auf ihn stolz, aber, sey auch seiner werth!“ (Forkel).
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