Orthopädisch bleibt die Lage anhaltend bedenklich, psychologisch indes scheint sie gar aussichtslos und auch HNO-Ärzte verzeichnen einen massiven Patientenansturm. „Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst“, warnte einst eine längst abgetauchte ehemalige Frau Bundeskanzler Angela Merkel. Denn in den Ohren vieler klingelte es ununterbrochen, betätigte man 2021 den Einschaltknopf des Radios: „Lauterbach mahnt …“, „Lauterbach fordert …“, „Lauterbach warnt …“ — (40 Mal war Karl Lauterbach allein 2021 in den sogenannten Talkshows von ARD und ZDF zu Gast) — und klingelt nun verstärkt: Demokratie, Demokratie, Demoooookratie und Rechts, Rechts, Rääääächz. Keine Verschnaufpause mehr, kein Tag mehr, an dem nicht der Bundespräsident warnend den Zeigefinger hebt oder der Bundeskanzler es ihm gleich tut, an dem sich politisches Personal aus Reihe eins bis drei findet, um eindringlich dem Medienvolk einzuträufeln, die zweite deutsche Demokratie sei um jeden Preis zu erhalten. Die Sekundanten aus Medien, Kirchen und weiteren staatstragenden Institutionen melden sich bereitwilligst zum Dienst. Unwilliges Kopfschütteln dann, wenn ein Unbelehrbarer darauf verweist: Opposition und Regierung, da war doch einmal was, wenigstens auf dem Papier. Dieser Dauerklingelton und Nachhall zermürbt und mancher vermutet, er könnte längst einen Hörschaden davon getragen haben.
Nachklang und Erlebtes wollten nicht recht zusammenpassen. Denn wurde nicht durch staatliche Organe vor ein paar Monaten noch derjenige verfolgt, natürlich „zur Eindämmung des Virus“, der das Grundgesetz mit sich führte und gelegentlich seinen Mitmenschen daraus öffentlich vortrug? Wurden nicht Schlittenfahrer per Hubschrauber verfolgt, Liebespaare auf Parkbänken mit Bußgeldern belegt? Sah man nicht Polizisten mit Abstandshölzern auf den Straßen und allerorts das Geplärr: „Maske auf!“ Eigenverantwortung und Risikoabwägung wurden zum dekadenten Privileg erklärt. Wer sich weiters darauf berief, der spürte nun die neue „Solidargemeinschaft“ und wurde geziehen, „Aasgeier der Pandemie“ (Winfried Kretschmann, Grüne) zu sein. „Antisolidarische Arschlöcher“, meint der Comedian André Herrmann, der Kabarettist Dieter Wischmeyer tituliert „asoziale Arschlöcher“, „Covidiot“ wird Saskia Esken (SPD) rufen und der Journalist Hendrik Wieduwilt zwitschert „dämliche und menschenfeindliche Arschgeigen“. Musikmanager Andreas Läsker kennt „ultra-asoziale Vollidioten“. Alt-Bundespräsident Joachim Gauck wittert „Bildungsunwillige“ und „hinreichende Zahlen von Bekloppten“. „Gefährlicher Sozialschädling“ weiß Rainer Stinner (FDP), ZDF-Clown Jan Böhmermann sieht allenthalben „Halbmenschen“. Für den Journalisten der Thüringer Allgemeinen Zeitung, Henryk Goldberg, sind Kritiker „intellektuell unterprivilegierte, asoziale Mitbürger“. Für Österreichs Vizekanzler Werner Kogler sind die Eigenverantwortlichen und Abwägenden „Staatsverweigerer“ oder gleich „Neofaschisten“.
Die Welt des Grundgesetzes war von einem Tag auf den anderen zerstört. Aber „da haben wir es schon, das kleine Problem“, meint der CDU-Bundestagsabgeordnete Carsten Körber, es gibt „ganz offensichtlich […] Menschen, die ernsthaft der Ansicht sind, dass Grundrechte nicht mit Verantwortung einhergehen und dass sie auch schrankenlos zu gelten haben. Sorry, das ist leider falsch“. Rückendeckung bot für solche Unbotmäßigkeit die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel, schärfte sie dem Bürger – wenngleich geschichtsklitternd – am 18. März 2020 ein: „Unsere Vorstellung von Normalität, von öffentlichem Leben, von sozialem Miteinander — all das wird auf die Probe gestellt wie nie zuvor“. Sollte das Grundgesetz aber nicht das eigentliche Rückgrat und Schutzschild des Bürgers sein? Sein Abwehrrecht gegen einen extrem übergriffigen Staat? Das Recht auf Privatsphäre, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Freiheit der Kunst, Versammlungsfreiheit, das Recht auf Unversehrtheit der Person etwa sind solche Grundrechte. Erwies sich in den Jahren der Pandemie alles Gerede von der Demokratie nicht bestenfalls als „eine zynische Geste [… ] mit der eine zutiefst manipulative Politik getarnt werden soll“? (Sheldon S. Wolin).
Verkrümmungen
Mußten und müssen sich die Orthopäden vor allem der Schleudertraumata annehmen, die durch anhaltendes und immer heftiger ausfallendes Kopfschütteln beim Staatsbürger verursacht werden, so sind in den letzten Monaten seltsame Rückgratsverkrümmungen der einst „Unbeugsamen“ zu behandeln. Vor einiger Zeit schon fragte die Schriftstellerin Cora Stephan sehr besorgt: „Was geht im Kopf eine Politikers wie Friedrich Merz vor, der die Grünen erst zum Hauptgegner erklärt und dann eine Koalition mit ihnen nicht mehr ausschließt?“ „Alles halb so schlimm mit der Verkrümmung“, wiegelt der ehemalige CDU-Generalsekretär Ruprecht Polenz ab und betonte im Deutschlandfunk, Merz habe sich „semantisch etwas vertan“. Verzerrungen und Verrenkungen der jüngsten politischen Übungen auf den Feldern Migration, Energie, Gender, Corona, Landwirtschaft, Klima, Altparteien, AfD, Öffentlich-Rechtliche, Justiz und so fort bedürfen zudem erhöhter Aufmerksamkeit, der Schmerz ist gewaltig und vernebelt die Sinne. Angst- und Schulderzählungen werden ausgegraben, demokratisch ausgehandelte nationale stabile Positionen zugunsten supranationaler Agenden durch UN, EU, IWF, WHO überschrieben, deren vermeintlich altruistischer Charakter durch den Einfluß privater Investoren längst verloren ging. Deutsche Politiker und Journalisten üben sich im Dehnen und Winden und wollen Klassenbester werden oder bleiben. Der Jurist Heribert Prantl ruft in der Süddeutschen Zeitung zur „demokratischen Mobilmachung“ auf und zum „Widerstand gegen die Neonazis“ und überhaupt wäre die Sache mit der „Wählbarkeit“ zu prüfen. Die Transformation der Sozialen Marktwirtschaft in eine planmäßige Kriegswirtschaft, fordert Ulrike Herrmann in der taz, nicht zuletzt, um dem Klimawandel zu trotzen. Beispiele einer sich immer weiter steigernden Hysterie. Vorauseilender Gehorsam und Übererfüllung der Planvorgaben als Übungsziel.
Und allerorten wird gerettet und gewendet. Banken-, Klima-, Eurorettung, Verkehrs- und Energiewende sind die O-Töne der Dauerbeschallung. Das Kollabieren des Bankensystems im Jahre 2008 stemmte vor allem der deutsche Steuerzahler, trug er schließlich auf seinen Schultern die Hauptlast der europäischen Bürgschaften. 2011 ging Deutschland erneut voran und verkündete nach dem nuklearen Zwischenfall in Fukushima das Aus für die deutschen Atomkraftwerke, das Ende für die Kohlekraftwerke wurde gleichzeitig beschlossen. Wen interessierten in Deutschland im Jahre 2015 die Belastungen des Sozialstaates, des Gesundheitssystems oder gar die Lage des Sicherheitssystems, als Millionen Flüchtlinge über die Grenzen kamen? Die Grenzen jedenfalls konnten nicht geschlossen werden, erklärte die Frau Bundeskanzler. Die damalige CDU-Chefin grummelte hinsichtlich ihrer Linie in der Flüchtlingspolitik: „Ich muss ganz ehrlich sagen, wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“
Merkels eigenes freundliches Gesicht bemerkte man ohnehin selten, den Wirbeldefekt hingegen sehr, hieß es dann im März 2020: „Deswegen sind seit Anfang der Woche die verschärften Grenzkontrollen und Einreisebeschränkungen zu einigen unserer wichtigsten Nachbarländer in Kraft“. Wen scherte in Deutschland sozialer und ökonomischer Frieden, als 2020 und in den Folgejahren rigorose Gesetze zur sogenannten Pandemiebekämpfung erlassen wurden? Deutsche Politiker erwiesen sich hier geradezu als Musterschüler der Weltgesundheitsorganisation. Überhaupt wußte der Mann der Wissenschaft, Lothar Wieler: „Diese Regeln […] dürfen überhaupt nie hinterfragt werden“. „Deswegen bitte ich Sie: Glauben sie keinen Gerüchten, sondern nur den offiziellen Mitteilungen“, wird Angela Merkel verlautbaren und die Leerformel: hinzuzusetzen: „Wir sind eine Demokratie“. Am 30. Januar 2020 wußte die Journalistin Stephanie Probst vom Bayerischen Rundfunk noch zu berichten: „In den sozialen Medien häufen sich Fake News, Verschwörungstheorien und Gerüchte, die Angst vor dem Coronavirus machen sollen […] Die Bevölkerung soll beunruhigt werden, was das Vertrauen in den Staat und dessen Glaubwürdigkeit erschüttern soll“. Doch Gewicht auf Gewicht zu legen, ist nur begrenzt möglich. Noch die stärkste Wirbelsäule muß irgendwann nachgeben und brechen, manische Gestimmtheit ist eben kein Knochenzement und selbst dieser bricht unter unerträglicher Last. „Dass es so spalterisch wird, hätte ich nicht gedacht“, so Lothar Wieler in der Rückschau, es bleibt ihm immerhin das Bundesverdienstkreuz.
Geisteskrankheiten
Psychiater und Psychologen hingegen kämpfen gegen eine sich pandemisch ausbreitende Geisteskrankheit, sie wird als „Wokeness“ bezeichnet. Die Befallenen befinden sich im Zustand von Wachheit und hysterischer Erregtheit, hinzu tritt ein eigenartiges Gestammel, das an die deutsche Sprache maximal marginal erinnert. Das sprachliche Gewimmer wird von den Erkrankten als gendergerechte Sprache bezeichnet. Verhaspelungen und Verschluckungen beim Gestammel sollen auf Frauen verweisen, die nun endlich „sichtbar“ werden, doch so sichtbar sollte die Frau auch nicht sein, da lauert dann schließlich der unausrottbare Sexismus. Da nun aber jeder Mann sich unumwunden zur Frau erklären kann, wird die sprachliche Verwirrung immer grotesker. Und warum sollte überhaupt auf die Frau verwiesen werden, wenn sie doch zugleich abgeschafft, entsorgt, ausgelöscht wird? Aber was fragt man, eine Geisteskrankheit folgt eigener Gesetzlichkeit.
Permanenter Schlafmangel führt eben innerhalb kurzer Zeit zu Streßreaktionen und Reizzuständen des Körpers und zur Bewußtseinstrübung, systematisches und logisches Denken werden unmöglich. Nüchternheit wird von den Infizierten als Provokation empfunden. Diese eigenartige und offenbar regelmäßig wiederkehrende Erkrankung, für die besonders Deutsche — „Deutschland erwache“ hallte es unablässig länger schon — anfällig sind, weckte inmitten des Zweiten Weltkrieges bereits die Neugier des ungarischen Staats- und Verwaltungsjuristen István Bibó. Seiner kritischen Analyse zur deutschen Geschichte gab er den Titel Die deutsche Hysterie und konstatierte als Ausgangspunkt einer politischen Hysterie eine „erschütternde historische Erfahrung der Gemeinschaft. Und zwar eine Erschütterung, die die Belastbarkeit einer Gemeinschaft übersteigt und die daraus resultierenden Probleme unlösbar macht“. Solch erschütternde Erfahrungen sind für den Juristen etwa die Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im Jahre 1806 und die damit einhergehende Belastung der deutschen Nationalidee. Auch der Schriftsteller Günter Kunert verweist in seinen Aufzeichnungen aus dem Jahre 1999 auf mannigfache „Orientierungslosigkeiten“: „Keine andere Nation hat derart viele Umbrüche und Umschwünge erlebt und erlitten wie die deutsche […] Die Brüche sind bekannt genug: Kaiserreich, erster verlorener Weltkrieg, Weimarer Republik, Hitlers Drittes Reich, Zweiter Weltkrieg, Zerstörung weithin, Spaltung des Landes in zwei Staaten und deren Integration in rivalisierende Machtblöcke. Was soll man da von den Menschen anderes erwarten als Verdrängung, Vergessenssucht, Hinwendung ins Private.“ Eine politische Ernüchterung und der damit beginnende Genesungsprozeß wollte und will sich nicht einstellen, die Diskrepanz zur Realität wurde und wird immer stärker und manifester. Nicht das Vorliegende oder das Mögliche rück(t)en in den Fokus, sondern Wunschträume und Phantasmen bestimm(t)en das politische Feld. Hoffnung auf Katharsis und Erlösung stell(t)en sich ein. Sind aber die Feststellungen des István Bibó nicht sehr aktuell? „Lossagung der Gemeinschaft von den Realitäten, Unfähigkeit zur Lösung der vom Leben aufgegebenen Probleme, unsichere und überdimensionierte Selbsteinschätzung, sowie irreale und unverhältnismäßige Reaktion auf die Einflüsse der Außenwelt.“
Endphase humaner Gemeinschaftlichkeit?
Ist also eine historische Kontinuität der politischen Hysterie in Deutschland ausgemacht? In den Ereignissen, die im September 2015 ihren Ausgang nahmen, läßt sich jedenfalls ohne Mühe eine „Lossagung der Gemeinschaft von den Realitäten“ erkennen und als eine „unsichere und überdimensionierte Selbsteinschätzung“ interpretieren. Über allem wabert ein moralischer Rigorismus, die eigene Position wird als einzig richtige wahrgenommen, deshalb deutsche Sonderwege, wohin das Auge reicht und führen diese auch an den Rand der ökonomischen und sozialen Leistungsfähigkeit. 2008 wähnte sich so mancher Zeitgenosse noch „im besten Deutschland aller Zeiten“, doch hellsichtige Beobachter bemerkten schon damals: „Energie wird von Tag zu Tag teurer. Der Moment ist abzusehen, da die Leute nur noch für die Heizung, das Benzin und das warme Essen arbeiten, vorausgesetzt, sie haben überhaupt Arbeit. Mit dem stillen Ableben der Alten ist zu rechnen […] Aber womit die Energie bezahlen, die man für anderes, eben Kochen und Beleuchtung und warmes Wasser, benötigt? Das Gespenst der Verelendung geht um, die selbsternannten Exorzisten versuchen, dem „Gesellschaftskörper“ die bösen Geister auszutreiben, freilich ohne Erfolg. Das System klappert vor sich hin, eine Maschinerie, deren Bewegung langsamer und mühsamer wird, bis sie kollabiert und gänzlich stehenbleibt. Danach setzt die Rückwärtsbewegung ein […] die Endphase humaner Gemeinschaftlichkeit“ (Günter Kunert).
Eben jener Günter Kunert hielt einen „obskuren“ Traum fest: „Viele Menschen, offenkundig verängstigt, unter Diktatur stehend, unsicher, furchtsam, doch plötzlich, vielleicht durch mein Auftreten, aufrührerisch, plötzlich aggressiv, wild um sich schlagend, ja, alles Erreichbare zerschlagend, Gegenstände zerbrechend, ein wüstes Tohuwabohu, mittendrin ich, ebenfalls ein rasender Roland, ein überquellender Vulkan von Gestalten, eine Befreiungsorgie, eine Erleichterung […] Große Ereignisse lassen ihre Schatten zurück — bis in die Träume.“ Doch vielleicht bleibt angesichts der verfestigten Traumata lediglich der Rat des Angstforschers und Psychiaters Borwin Bandelow übrig: „In solchen Fällen rate ich unbedingt, einen Facharzt aufzusuchen“. Doch ob diesem noch Vertrauen entgegengebracht wird oder überhaupt ein Termin möglich ist, steht freilich auf einem ganz anderen Blatt.
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