Er machte nie ein Hehl daraus, der Philosoph Friedrich Nietzsche, befand er doch: „dass die Philosophie durch Theologen-Blut verderbt ist“. Denn schließlich: „Der protestantische Pfarrer ist Grossvater der deutschen Philosophie“ und überhaupt ist „der Protestantismus selbst ihr peccatum originale“. Metaphysik eben mußte doch sein, denn wie sonst wollte man das Bedürfnis nach Verhaltenssicherheit befriedigen, wie soziale Normen legitimieren und sich überhaupt vom Druck der Realität entlasten? Wie sonst sich mit der Endlichkeit des Daseins und letztlich der Vergeblichkeit jedweden Strebens auseinandersetzen? „Mit dieser Besinnung und dieser Verwunderung entsteht daher das dem Menschen allein eigene Bedürfnis einer Metaphysik: er ist sonach ein animal metaphysicum“, wird Arthur Schopenhauer in seinem Werk Die Welt als Wille und Vorstellung räsonieren.
Sünde und Schuld, Buße und Erlösung wurden – und sind immer auch – Themen der Philosophie und werden zugleich von der Politik okkupiert. Schließlich waren da doch immer mehr Dinge zwischen Himmel und Erde. Ein Glaube eben, ein Irrlichtern, ein Verliebtsein in den Gedanken der Erbsünde. Luftschlösser. Eine Gier nach einer wie auch immer gearteten Erlösung. Religionen und Ideologien im Dauerkonkurrenzkampf. Der Deutsche Bundestag gleicht oftmals mehr einem theologischen Seminar denn einem realpolitischen Entscheidungsort. Nur: Eine geläuterte, eine geerdete Menschheit gab es eben nie, alles siedelte zwischen Himmel und Hölle, oftmals bis zum Exzeß.
Religionen und Ideologien werden sich in der Historie auch zunehmend der Musik bedienen. Die Macht der Musik bleibt nicht unentdeckt und generiert durchaus psychische Ausnahmesituationen wie Trance und Rausch. Gemeinsamer Gesang schafft Befriedigung. Das Marschieren im 4/4-Takt steigert sich zur Erhabenheit. Musik verstärkt das Träumen. Wer sich hinwegträumt oder berauscht ist, dem bildet sich häufig genug die Überzeugung, die Seele sei vom Leib loslösbar, die physischen Fesseln seien überwindbar. Es sind uralte, archaische Überzeugungen des Menschen. Unsterblichkeit der Seele. Welterklärung, Weltflucht, Weltüberwindung sind Versuche, den emotionalen Empfindungen und Ansprüchen gerecht zu werden. Die Phantasie übernimmt fortan, eine „vollkommene“ Welt entsteht und wird zur „wahren“ Welt. Die empirische Welt wandelt sich zur Scheinwelt. „[D]ie ‚wahre Welt‘ [wird] endlich zur Fabel“, spottet Nietzsche. Doch Nietzsche ist ein Solitär, Künder der Freiheit, einer Freiheit in der Psyche des Einzelnen. Ewige Werte, die sich durch unumstößliche Kategorien definieren und nicht zu hinterfragen sind, sind Nietzsches Sache nicht.
Es lebe die Transzendentalphilosophie!
Die Ideologen sind sich einig, denn sonst brauchte sie niemand: Die Schande aber muß doch bleiben, mithin die Schuld, die deutsche Schuld im besonderen, unvergänglich, mit ihr die geschichtliche Last. Wir setzen uns mit Tränen nieder. Die Beugehaft als Dauerzustand. Das Sündenbekenntnis ist unablässig zu sprechen, der Erbsünde gilt der Gottesdienst. Derart gelingt selbstgefällige Selbsterhebung. Reifeprozeß der Gesinnung. Was also berechtigt(e) zum „Frohlocken, das beim Auftreten Kants durch die deutsche Gelehrtenwelt gieng“ und bis heute anhält? „Woher die deutsche Überzeugung, die auch heute noch ihr Echo findet, dass mit Kant eine Wendung zum Besseren beginne?“, gibt Nietzsche zu bedenken. Wird nunmehr mehr Erdung erlebt?
Nicht zuletzt das weltweit in Szene gesetzte perverse Corona-Experiment belehrt(?) eines Besseren. Nirgends Nüchternheit. Nüchtern konnte Nietzsche jedoch herausstellen und noch immer läßt sich so formulieren: „Der Theologen-Instinkt im deutschen Gelehrten errieth, was nunmehr wieder möglich war … Ein Schleichweg zum alten Ideal stand offen“. Die Realität soll jedenfalls nicht dazwischenschlagen, sieht sich doch inzwischen so mancher GRÜNE von der Wirklichkeit umzingelt und seine Weltbeglückungsträume sich im Nebel verlieren. In Immanuel Kant, dem „Alleszermalmer“, sollte der Träumer doch immerhin einen Gewährsmann finden. Zwar leugnet der Philosoph die Realität nicht, doch in seiner Transzendentalphilosophie wird er erklären, daß die Gegenstände sich nach unserem Denken zu richten haben und es sich nicht etwa umgekehrt verhält, wie der Kritische Rationalismus lehrt. Kant nennt sein Denken eine „Revolution der Denkart“. „Es lebe die Transzendentalphilosophie!“, das scheint nunmehr die einhellige Losung der Woken, der sogenannten Aufgewachten, die eben doch im geistigen Tiefschlaf verbleiben, wie der Tagträumer, sowie der deutschen rot-gelb-grünen Regierung.
Die neuen Ziele sind dann – postheroisch – rasch bepredigt: vielfältige „Willkommenskultur“ für Millionen Muslime, Rettung des „Weltklimas“. Kategorisch-autoritär schreit es von Polit- wie Kirchenkanzeln: „Wir sollen!“, „Wir müssen!“, „Wir haben zu tun!“. Verbots- und Verzichtsorgien soweit das Auge reicht und die Ohren hören mögen. Immer dabei sind die sogenannten Leit- und Qualitätsmedien. Niemand vermag auch mehr zu sagen, in welchen Hinterzimmern von Medien, Politik, Wissenschaft und Wirtschaft das gegenwärtige Traumreich zuerst geboren wurde, um sich zur „Fortschrittskoalition“ zusammenzufinden. Angesichts der Dauerpredigt des Guten, Wahren und Schönen verliert sich jedoch die Frage, wann dem Budenzauber Einhalt geboten wird? Das Gute muß allerdings längst nicht mehr gut sein, dem Schönen genügen inzwischen Sack und Asche und das Wahre ist überhaupt hinreichend biegbar, seitdem man die sublimierten Anwendungen der einstmals wissenschaftlichen Methode von trial und error, von Versuch und Irrtum, aufs Abstellgleis bugsierte. Sollten sich brennende Elektroautos, umweltzerstörende Windräder, energieintensive Wärmepumpen als tatsächlich „letzte Worte“ erweisen? Sind Null-Lösungen (bei CO2, COVID, Zucker …) die tatsächlichen Endlösungen? Theologie war freilich noch nie zimperlich.
Die Transzendentalphilosophie eines Immanuel Kant legt zumindest die Grundlagen zur Realitätsverleugnung. Die Realität hat sich den Denknotwendigkeiten zu fügen. Denken aber heißt, allererst doch die moralische Wahrheit zu erkennen. Solches Erkennen erzwingt die Unterordnung unter die Widerspruchslosigkeit. (Doch teilen Menschen tatsächlich Vernunft wie Emotionen gleichermaßen? Die Erfahrung wie die Neurowissenschaften wissen davon nichts. Noch immer läßt sich nicht aufweisen, warum ein bestimmtes Erlebnis unterschiedliche Bewußtseinsreaktionen hervorruft.) Der Mensch schließlich ist für die Moral da, nicht etwa die Moral für den Menschen. Universell gültig sollen unsere Handlungen sein und sie verpflichten uns, moralisch untadelig zu handeln. Neigungen und Konsequenzen bleiben dabei ohne Konsequenzen. Gefühle und Willen des einzelnen Menschen sind bedeutungslos. Wer nachzufragen wagt, der wird als Egoist gebrandmarkt. Arthur Schopenhauer wird darum einwerfen, die Vernunft werde sehr häufig vom Egoismus geleitet, das zeige die Erfahrung hinlänglich; das „egoistische Gen“ (Richard Dawkins) wird zur Überlebensmaschine, weiß die Soziobiologie. Die Vernunft als solche könne somit auch kein Indiz für Moral sein. Vielmehr gibt es freiwillige Gerechtigkeit und Altruismus, das Mitleid dann als „alltägliches Phänomen“. Dieses Mitleid bestimmt sich nicht durch den Intellekt, sondern durch Affekt- und Gefühlsäußerungen, es ist „ganz unmittelbar, ja instinktartige Theilnahme an fremden Leiden“. Für Kant jedoch hat sich die Realität zu fügen, die Empfindungen und Interessen des Einzelnen haben sich dem universalen Gesetz der Pflichtmoral zu unterwerfen. Für ihn bedeutet es Freiheit, sich gegen die individuellen Neigungen zu stellen, ein „moralisch-vernünftiges“ Gesetz fordert es, billiger: die Herrschenden fordern es. Eine neue Gewichtung von Eigeninteresse und Moral ist vorzunehmen, eine Revolution schon wieder, diesmal die „Revolution in der Gesinnung“.
Die Impfung, ein kategorischer Imperativ
Es war nicht allein der Bannstrahl eines Karl Lauterbach, der den traf, der während des Corona-Irrsinns versuchte, emphatisch und damit menschlich, zu handeln. Es war immer zugleich auch der Bannstrahl eines Immanuel Kant. Und Staatsphilosophen (wie ein Jürgen Habermas) entwerfen sofort das Modell eines totalen Corona-Staates, im dem Grund- wie Menschenrechte eliminiert werden, wenn nötig gar dauerhaft „bis zum Zeitpunkt der – letztlich nur durch Impfung erreichbaren – ‚Herdenimmunität’“. „Die Impfung“ – kategorischer Imperativ. Abgeleitet aus der „reinen Vernunft“, alsbald darum die Forderung nach einer „Impfpflicht“, einer Impfpflicht für alle! Wer wollte auch schon etwas gegen das Impfen sagen, schließlich konnten und können viele Krankheiten durch sie verhindert, gemildert, im besten Falle verhindert werden. Wie aus dem Zauberhut wurde der Weltöffentlichkeit im Dezember 2020 ein neuartiger Impfstoff präsentiert, allein der Nachweis des Nutzens unterblieb. Nebenwirkungsfreiheit wurde deklariert, Schutz vor Ansteckung ebenso. Karl Lauterbach twitterte am 16. Mai 2020 hinsichtlich einer Impfpflicht: „Eine Impflicht [sic!] macht bei SarsCov2 so wenig Sinn wie bei der Grippe. Wenn die Impfung gut wirkt, wird sie auch freiwillig gemacht. Dann keine Impflicht nötig. Wenn sie viele Nebenwirkungen hat oder nicht so gut wirkt, verbietet sich Impflicht. Daher nie sinnvoll“. Am 14. August 2021 geht es ihm schon darum, „weshalb eine Minderheit der Gesellschaft eine nebenwirkungsfreie Impfung nicht will, obwohl sie gratis ist“ – (Gratis? Wer bezahlt seine Krankenversicherungsbeiträge da nicht?). Am 25. November dann seine Einsicht: „Der ‚vorsichtige Ungeimpfte‘ existiert nicht. Wer sich nicht impfen lässt, ist grundsätzlich [!] nicht vorsichtig“. Der 13. Februar 2022 beschert nun die Erkenntnis: „Die Impfungen sind halt mehr oder weniger nebenwirkungsfrei. Das muss immer wieder gesagt werden“. Im Bundestag wird er in der Orientierungsdebatte zur Impfpflicht erklären: „Die Freiheit gewinnen wir durch die Impfung zurück … Die dreifache Impfung ist der sichere Weg, diese Freiheit zurückzuerlangen“.
Im März 2023 hinsichtlich der durch die Impfstoffe ausgelösten Impfschäden, sagte Lauterbach: „Diese Schicksale sind absolut bestürzend, und jedes einzelne Schicksal ist eines zu viel. Die Menschen tun mir sehr leid“. Mit Kants kategorischen Imperativ kommt man jedenfalls nicht weiter. „Die reine Vernunft wurde zur Unvernunft“ (Horkheimer/Adorno). Darf man lügen, um Menschen zu retten? Das Nein eines Immanuel Kant bleibt kategorisch. In seinem Aufsatz Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen gibt er seiner Anschauung Ausdruck, es gibt kein Recht zur Lüge oder Notlüge. Lüge und Mord haben zu unterbleiben, auch im Extremfall. Der Diener des Philosophen, Martin Lampe, wird im gleichnamigen Roman von Felix Heidenreich ausführen: „Mein Gott, was hatte ich in meinem Leben schon gelogen! Den Krieg hätte ich nicht überlebt, ohne zu lügen. Doch ich habe nicht nur für mich gelogen. Kant aber saß in seinem Kämmerchen und wollte mit dem Lügenverbot lieber die Menschheit retten, als einen zu Unrecht von Verfolgern bedrohten Menschen … Und so gab ich, als zustimmende Bemerkung versteckt, zu bedenken, das Schöne an der Rettung der Menschheit sei ja, dass man diese – im Gegensatz zu den einzelnen Menschen, die man zu ihrem Wohle opfern müsse – nie empirisch zu sehen bekomme. ‚Wo g‘hobelt wird, da fallen au‘ Späne, das Wissen die Herrscher der Welt seit jeher‘, fuhr ich fort und bemühte mich, wie ein fränkischer Metzger zu klingen.“
Arthur Schopenhauer kritisierte in seiner Schrift Die beiden Grundprobleme der Ethik: „Die, auf Kants Veranlassung, in manchen Kompendien gegebenen Ableitungen der Unrechtmäßigkeit der Lüge aus dem Sprachvermögen des Menschen sind so platt, kindisch und abgeschmackt, dass man, nur um ihnen Hohn zu sprechen, versucht werden könnte, sich dem Teufel in die Arme zu werfen und mit Talleyrand zu sagen: ‚Der Mensch hat die Sprache erhalten, um seine Gedanken verbergen zu können‘.“ Wie weit also konnte und kann man sich entfernen von Nietzsches Einsicht: „Nichts ruinirt tiefer, innerlicher als jede ‚unpersönliche‘ Pflicht, jede Opferung vor dem Moloch der Abstraktion“? Der Protestantismus ist tief im Deutschen eingeschrieben, der Deutsche zerrissen zwischen Neigung und Pflicht. Immanuel Kant bleibt zeitlebens Theologe, ihm ist der Mensch von Natur aus böse. Konsequent konstatiert er somit eine „natürliche Bestialität“ beim Kinde. Erziehung kennt nach ihm nur den einzigen Zweck, diese auszutreiben, die Methoden dürfen kalt und rigoros sein. Er wird weiter ausholen und betonen, es seien nur Ungebildete, die „mit ihren Kindern [spielen], wie die Affen. Sie singen ihnen vor, herzen und küssen sie, tanzen mit ihnen“. Erziehung könne aus dem Menschen machen, was sie wolle, der Behaviorismus wird hier seine Voraussetzungen finden. In seiner Vorlesung über Pädagogik wird er deklarieren: „Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht“. So erzeugt sich dauerhafter und stabiler Untertanengeist. So bringt man gegen Jandl einen jeden doch zum Militär, macht ihn zum gehorsamen Soldatensklaven. Der Heldentod dann als Ausdruck der eigenen Freiheit. Friedrich Nietzsche sieht in der kantischen Ethik „geradezu das Recept zur décadence, selbst zum Idiotismus“ und folgert: „Kant wurde Idiot“. Wie sollte man auch sonst jemanden benennen, der seinen eigenen Überlebenswillen zurückstellt, um sich abstrakten, aufgezwungenen „Idealen“ zu beugen. Das „Königsberger Chinesenthum“ ruiniert, ruiniert vollumfänglich die Freiheit des Einzelnen, wie auch den Überlebenswillen und die Selbstbehauptung.
Selbstverzicht heißt Freiheit
Der Kantianer jedenfalls ist mit sich im Einklang, er denkt stets im Namen der Menschheit, denkt nie an sich. Dieser Selbstverzicht heißt ihm Freiheit. Die grandiosesten Phantasmen lassen sich auf den Altar heben – Europa, Weltklima, Kohlendioxidreduktion, Weltoffenheit, Solidarität, Gendergerechtigkeit … „Wollt ihr grün, die Farbe der Hoffnung, oder rot …?“, fragte einst der französische Revolutionär Camille Desmoulins und begeistert johlte die Menge ihm entgegen: „Grün, grün“. Die Gläubigen glauben jedenfalls berauscht an die eigene Güte, so lassen sich selbst verheerendste Eingriffe in das Leben und die Freiheit anderer rechtfertigen. War da nicht aber noch die Sache mit dem Mut und dem eigenen Verstand, diese häufig zitierte Stelle in Pandemietagen, muß man sich nicht „seines Verstandes ohne Leitung eines anderen […] bedienen“? Kant dann doch als Lichtblick und Tröster in Zeiten heraufdämmernder staatlicher Totalität? Liegt nicht eben das Wesen der Freiheit darin, zwischen verschiedenen Möglichkeiten wählen zu können? Dem Kantianer ist solche Wahl verschlossen, die Leitung seines Verstandes ist an den kategorischen Imperativ abgetreten und verloren. Das ist alternativlos. Dennoch wird Arthur Schopenhauer (Ueber den Willen in der Natur) daran erinnern: „Nicht ein Intellekt hat die Natur hervorgebracht, sondern die Natur den Intellekt.“
„Kant wurde Idiot“, wir Deutsche wurden es mit ihm. Mit seinem Gewissen freilich ist jeder allein. Zudem gilt noch immer: „Kopfjucken ist keine Gehirntätigkeit“ (Karl Kraus).
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