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Ralf Rosmiarek: BAROCKE FARBEN. MARTIN STADTFELD EHRT DIE VIELFALT EINER EPOCHE

Es ist gar nicht anders möglich – Euterpe lebt! Das weiß nun selbst der eingefleischteste Gottesleugner in diesen Tagen und geht in sich. Euterpe, die Schutzgöttin der Musik, traf ihre Gnadenwahl und sandte unlängst einen Musenkuß aus dem Olymp. Der Akt der Inspiration konnte sich einmal mehr vollziehen. Dieses Himmelsgeschenk erfuhr bei Martin Stadtfeld (mit der Pianistin Lilian Akopova) dankbare Annahme. Der gigantische Horizont des Barock öffnet sich in den nun vorgelegten Miniaturen „Baroque Colours“ (Sony Classical 2023). Originales, Bearbeitungen, Improvisationen. Franzosen, Spanier, Italiener, Deutsche werden zu Repräsentanten einer einzigartigen musikalischen Epoche. Berührend, voller Poesie, hochsensibel, dramatisch, gleichwohl spielerisch leicht erklingt die vorgelegte Aufnahme.





Die Künstler lassen den Hörer eintauchen und versinken in die harmonische Urgewalt barocker Kompositionen. Eine überwältigende Vielfalt wird offenbar. Der Hörer, der Interpret, wird eingeladen zu einer abenteuerlichen Entdeckungsreise ins Nuancierte. Könnte nicht das Weltgesetz zu entdecken sein: Wahrhaftige Freiheit vermag sich nur innerhalb einer Form zu entfalten? Euterpe lebt und gibt sich als Erfreuende und Ergötzende. Nomen est Omen. Einmal mehr wird erfahrbar: Die Musik allein besitzt die größte affektive Wirkungsmacht. Spätestens seit Platons Politeia weiß man darum, weiß, daß „Rhythmus und Harmonie am meisten in das innerste der Seele dring[en]“. Die Macht der Musik ist dem griechischen Philosophen gewaltig, reicht ihm weit über das individuelle seelische Beben hinaus: „Nirgends wird an den Gesetzen der Musik gerüttelt, ohne daß auch die höchsten Gesetze des Staates ins Wanken geraten.“


Weil es eben die Welt gibt


Ersteinmal aber verweist die barocke Musik auf menschliche Grundpfeiler. Ist sie uns, ist sie mir deshalb um ein Vielfaches näher als die romantische? Vielleicht sieht Gottfried Benn sehr richtig, wenn er heraushebt, nicht Entwicklung, sondern Unaufhörlichkeit werde das Menschheitsgefühl des 21. Jahrhunderts sein. Existenzialien treten schonungslos hervor: Schmerz, Verlust, Grausamkeit, Krankheit, Sterblichkeit. Sie sind Bausteine zu leistender Trauerarbeit, sind keine zu retuschierenden Schönheitsfehler, sind vielmehr Grunddispositionen, sie sind der Welt zugehörig, allein, weil es eben die Welt gibt. Nie waren die Jahrhunderte „frei von Unglück und Verbrechen“, wird Voltaire in seiner Vorrede zum Zeitalter Ludwigs XIV. schreiben und verklärend festhalten: „Die Vollkommenheit der Künste, von friedlichen Bürgern gepflegt, hindert die Fürsten nicht, ehrgeizig zu sein, die Völker nicht, aufrührerisch zu sein, die Priester und Mönche nicht, Unfrieden zu stiften und zu betrügen. Alle Jahrhunderte gleichen sich in der Bosheit der Menschen.“ Die barocken Komponisten führen uns hinein in das Weltgetümmel und -getöse, das Panorama der Leidenschaften wird entfaltet.


Die barocken Komponisten, heißen sie nun Bach, Händel, Telemann, Kuhnau, Rameau, Couperin, Purcell wissen um Elend, Sorge, Krankheit und Sterben. Die Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges, auch Teutscher Krieg genannt, haben sich eingebrannt, Brandschatzungen, Plünderungen, Seuchen, verwaiste Landstriche, verkümmerte und verkrüppelte Heillosigkeit der Welt steht ihnen vor Augen. Solche Heil- und Haltlosigkeit sucht freilich nach einem Aus-Gehen. Denn mit den Worten Mark Twains ließe sich wohl ein Grundgefühl der damaligen Epoche beschreiben: „Weit in die Einsamkeit wanderte [der Mensch] hinweg.“ Zu aller Verlusterfahrung gesellt sich das unbehagliche Gefühl des Ausgeschlossenseins wie des Unverstandenseins. Die metaphysische Behausung des Mittelalters ist längst am Zerbröseln, das ganze Konstrukt könnte implodieren. Ein Ahnen – noch. Immer wieder stellen sich Sinnfragen ein, deren Ursachen im Sterbenmüssen gründen. Ohne den Tod aber wäre keine Metaphysik, keine Religion, vielleicht auch keine Kunst.


So erwächst aus diesem zeitweiligen Rückzug ins Intime, Unantastbare und Privateste recht schnell – das Leben hat keine Zeit – ein befriedigendes, wohltuendes Gefühl. Das Leben stemmt sich eben, weckt Sehnsucht immer neu. Und darum, vielleicht gerade nur darum, formiert sich eine Kunst, die das Rühmen und Preisen nicht scheut. Lächerlich, sonderlich, absonderlich gar? Egal. Wir leben doch ohnehin unablässig sterbend und erfahren nie, worauf diese ganze (Lebens-)Veranstaltung abzielt. Die einstürzende metaphysische Behausung erschwert zudem den Dank oder die Beschwerdeführung. Egal. Das Leben widersteht. Anmut stellt sich neben Erhabenheit, neben die Düsternis tritt Freudigkeit. Aufwallender Schmerz begegnet zärtlichster Liebe. Die Musik des Barock kennt die seelische Landschaft, kennt ihre Zerklüftungen, Zerrißenheiten, braucht vor allem keine modernen Belehrungen, die doch nur überhebliche Arroganz repräsentieren. Es war ein glücklicher Umstand, „noch ist keine Form der anderen wirklich gleich“, schreibt Martin Stadtfeld im Begleittext zu der in Rede stehenden Aufnahme. Es „liegt ein gewaltiger Freiraum in jeder Form“. Wie in einer morgendlich frischen Schneelandschaft ist es Bach und seinen Zeitgenossen möglich, die erste eigene Spur zu prägen und so wird die „barocke Musik eben auch unermesslich in ihrer Vielfalt und ihrem Farbreichtum“. Da sind nun obsessive Wiederholungen von Tönen oder Passagen zu hören, die kindlicher Freude gleichen. Da gibt es das ständige Nebenherlaufen der Stimmen, die Vielstimmigkeit wird so raffiniert, daß manchen die Frage befällt, woher der Pianist wohl die dritte Hand nehme. Ein alter Organist rief, so die Überlieferung: „Das kann nur der Teufel oder Bach in Person gewesen sein.“ Die Musik des Barock kennt den Menschen.


Musikalische Elementarkraft


Ein Edwin Fischer, ein Wilhelm Kempff, eine Maria Yudina, eine Ragna Schirmer, ein Martin Stadtfeld – um nur bei den Pianisten zu bleiben – verzichten in ihrem Spiel auf jegliche Belehrung. Die frei verzierende Ausgestaltung etwa ist nicht selbstherrlicher Eingriff in die innere Werkstruktur, sondern ist ihnen eben das Erfordernis der barocken Kunst selbst. Die barocken Zeitgenossen überlieferten es. Fern liegt ihrem Spiel der Glaube an das Ursprüngliche oder Echte, vor allem sind da zuerst Punkte, Striche, Linien. Jede Faser scheint bei diesen Pianisten voller musikalischer Elementarkraft. Dramatische Anspannung, hochkonzentrierte Aufmerksamkeit führt zu ekstatischer Wildheit und paart sich mit Feinheit und Zartheit, „dämonischen“ Ausbrüchen folgen intimste Verfeinerungen. Das Wort des Carl Philipp Emanuel Bach in seinem Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen, behält bei diesen Künstlern seine Gültigkeit: „Ein Musicus kann nicht anders rühren, er sey dann selbst gerührt; so muß er nothwendig sich selbst in alle Affekten setzen können, welche er bey den Zuhörern erregen will.“ So entsteht der jeweils eigene Klang und wird unverwechselbar.


Wer wollte angesichts solchen Spieles endgültig darüber befinden, wo Eigentliches beginnt und das Uneigentliche endet? Woher will man schließlich wissen, wie Bach sein forte oder presto zu spielen pflegte? Waren die Trompeten- und Fanfarenstöße eines Telemann oder Händel leicht oder gravitätisch geblasen? War tatsächlich eine Aufführung gleich der anderen? Keine Nuancierung, kein wirkliches Spielen mit den aufgeschriebenen Noten? Geradezu lächerlich wird es, wenn in den USA Pachelbels Kanon erscheinen kann mit dem Aufdruck: Authentic Edition – The famous Kanon as Pachelbel heard it. Nein, wie Pachelbel seinen Kanon hörte, ist nicht darstellbar. Nichts läßt sich überprüfen. Was mit Ursprünglichkeit gemeint sein könnte, bleibt rätselhaft.


Wilhelm Furtwängler dirigierte im August 1950 in Salzburg Johann Sebastian Bachs Brandenburgisches Konzert Nr. 5 D-Dur, BWV 1050. Er saß zugleich am Flügel. Dieses Konzert geriet ihm zu seinem ganz persönlichen Bachfest. Wer das Glück hatte, seinerzeit dabei zu sein oder wer eben diese Liveaufnahme von den Salzburger Festspielen nachhört, dem stellt(e) sich die Frage nach der Eigentlichkeit oder Uneigentlichkeit nicht (mehr). Dieser Hörer kann nur überwältigt sein, der Rhythmus reißt den Hörer mit. Die schnellen Sätze dieser Stücke geraten zu wahren Bewegungsorgien, denn das Frische, das Leben selbst, feiert sich in dieser Musik. Kadenzen waren in den Solokonzerten dazu gedacht, das Können des Solisten durch das Improvisieren herauszustellen. Welcher Solist wagt heute noch die eigene Improvisation? So verlieren viele Aufführungen Wagnisse. Mut oder sogar Übermut des Interpreten dienten dem überraschenden Hörerlebnis. Vielleicht fiele es dann auch leichter, immer neu die Frage zu beantworten: Sind wir hingerissen von dem Spiel, geraten wir in einen Taumel, in einen Rausch? Oder gewährt Morpheus sein Erbarmen und es überfällt uns des Schlafes Trunkenheit?


Den Hörer interessieren die Detailfragen der Aufführung ohnehin selten. Er will vielmehr eine spürbare Konsequenz. Erschütterungen dürfen erlebbar werden, im Wortsinn, physisch, sie dürfen in „die Beine fahren“, wie Martin Stadtfeld formuliert. Das Tempo des Barock löst häufig ganz allgemein das körperliche Bedürfnis aus – mitzugehen. Die Achtelnoten entsprechen dem Herzschlag und auch die Sechzehntel gehen mit unserer Bewegung konform. Die hier zum Ausgangspunkt gewählte Aufnahme illustriert die musikalische Seelenkunde des Barock in grandioser Weise. Nicht von ungefähr steht am Ende die demütige Bitte: Ach, bleib mit deiner Gnade ... Denn: Euterpe lebt! Sende sie also ihre Musenküsse auch weiterhin aus dem Olymp! Wir sind eingeladen, werden wir zu Erfreuten und Ergötzten!



Zur Empfehlung


  • Martin Stadtfeld, Lilian Akopova: Baroque Colours, Sony Classical, 2023

  • Edwin Fischer: Johann Sebastian Bach, Das Wohltemperierte Klavier, Aufnahmen 1933-1936, EMI 1989

  • Wilhelm Kempff: Bach, Händel, Gluck, Deutsche Grammophon, 1993

  • Maria Yudina: Maria Yudina – plays Bach – Live In Leipzig and Moscow 1950 & 1956, Moscow Conservatory Records, 2020

  • Ragna Schirmer: Händel, Klaviersuiten, Berlin Classics, 2008

  • Wilhelm Furtwängler: Bach, Brandenburgische Konzerte Nr. 3 & 5, EMI Classics Festspieldokumente, 2000



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