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Ralf Rosmiarek: AUS DEM TURM INS LABYRINTH ODER EINE LITERARISCHE SPURENSUCHE

Ein Aufschrei. Damals. Ein Aufschrei der Verzückung, auch des Erstaunens und der Verwunderung. Sein Nachklang allerdings dauert fort, denn nichts an ihm ist obsolet geworden. Er widerfährt, wenn Worte zu Melodien und sprachliche Melodien sich zu Erzählungen verweben. Er widerfährt, wenn es sie gibt, die Lust am Text, am Wort, die Lust an Sprache überhaupt. Aus Klagenfurt kam der Aufschrei im Jahre 2004.



Eine faszinierte Jury zur Vergabe des Bachmann-Preises mochte kaum an sich halten. „Man möchte fast in die Knie gehen“, begeisterte sich das Jurymitglied Martin Ebel und bedauerte gleich eingangs: „Ja, schade, dass der Zug angehalten hat, ich wäre gern noch weiter mitgefahren!“ Der Text liefere eine „überwältigende Fülle“ an Erzählstoff, begleitet von einem „souveränen Erinnerungsstrom“. Jurorin Iris Radisch war sich gänzlich sicher, „einen großen Autor und große Literatur entdeckt zu haben“. Ein „Reichtum an Farben, Gerüchen und Formen" sei diesem Text eigen, dessen „‚sprachlicher Furor‘ die Literatur wiederauferstehen lasse", stellte sie heraus.


Dem Romanauszug „Der Schlaf in den Uhren“ des Autors Uwe Tellkamp galt diese nahezu einhellige Würdigung. Nun liegt der Roman vor. Geschichte nimmt in ihm Fahrt auf. Das Fahren vermag Rauschzustände zu erzeugen, selbst das Fahren mit der Straßenbahn der Linie 11 in Dresden. Das Schreiben gleichwohl. Denn es gilt zu erinnern, zu bedenken, nicht zuletzt zu erkunden. Große Kunst zeigt sich beseelt, kommt mit „scheinbar leichter Hand“, ist enthusiastisch, kann freilich nicht erkannt werden, wenn man unempfindlich bleibt für „göttliches Feuer“ (Hölderlin). Enthusiasmus bedeutet schließlich wörtlich „von Gott erfüllt sein“. Diesen Enthusiasmus, diese Begeisterung braucht es für die Freundschaft, die Liebe, die Dichtung, die Malerei wie die Musik. Dieses Göttliche ist nicht mißzuverstehen, denn weder kommt es antik noch christlich daher. Es sind die Lebensmomente höchster Intensität, die hier benannt sind. Es ist das durch Freude und/oder Schmerz gesteigerte Leben. Dem Zeitgeist ist dieser Enthusiasmus verdächtig, will er doch „alles ironisch gebrochen sehen“.


„Wer die Ironie Flauberts liebte, konnte den ‚Eisvogel‘ unmöglich mögen“, schrieb denn auch Julia Encke seinerzeit bestätigend im Feuilleton der FAZ. Doch die entzauberte und entstaubte Welt der Moderne wie der Postmoderne bedarf der Begegnung mit dem Göttlichen will sie (über)leben. Die „in Dekonstruktivismus-Seminaren eisgekühlten Kaltschnauzen“ jedenfalls „hassen Pathos, weil sie es fürchten, sie hassen Pathos, weil sie die Gefühle dahinter fürchten, ihre Brennkraft, die sie außerstande sind zu ertragen, sie hassen Pathos, weil sie glauben, daß alle Pathetiker Faschisten sind, mindestens aber werden, Idioten, alles muß gebrochen sein, ironisch gebrochen sein“. Letztlich stellt das Leben dann aber doch die entscheidende Frage: „Wo wären sie“, wo wären wir, „wenn die Liebe im entscheidenden Moment ironisch gebrochen werden würde, Koitus interruptus?“


„Archipelagus I“, der Untertitel des Romans „Der Schlaf in den Uhren“, nimmt Anspielung auf Friedrich Hölderlins großen Gesang. Das Gedicht Hölderlins ist nichts anderes als eine Traueranzeige. Einem Verlust wird nachgespürt, dem Verlust von Zeit. Dem Verlust aber auch von klassischer Griechenheit, von Geist und Kultur, von Herkunft, von Geschichte somit. „Sage, wo ist Athen?“ so klingt es aus Tellkamps Roman herüber:


„Sage, wo ist Athen? ist über den Urnen der Meister Deine Stadt, die geliebteste dir, an den heiligen Ufern, Trauernder Gott! dir ganz in Asche zusammengesunken, Oder ist noch ein Zeichen von ihr, daß etwa der Schiffer, Wenn er vorüberkommt, sie nenn‘ und ihrer gedenke?“

Denn immerhin blieb zuvor im Roman „Der Turm“ der Doppelpunkt am Ende: „… aber dann auf einmal … schlugen die Uhren, schlugen den 9. November, »Deutschland einig Vaterland«, schlugen ans Brandenburger Tor:“ Schläft die Zeit also nicht? „In dem neuen Buch wird ausgeweitet, was im ‚Turm‘ begonnen wurde“, so sagte es Uwe Tellkamp vor zehn Jahren. Die Ausweitung hat es in sich, historisch wie psychologisch wird da nachgespürt, philosophisch und musikalisch ebenso, zurück wird ebenso wie nach vorn geschritten und geblickt und geschrieben. „Die Kohleninsel ein Labyrinth zu nennen, wäre untertrieben“, wird gleich anfänglich gewarnt. Figuren, Episoden, Geschichten, Anspielungen, Enthüllungen verweben sich und lösen sich auf. Ein „historisch-musikalischer Klangraum“ wird sichtbar, so lobte einst die Klagenfurter Jury Tellkamps Erzählkunst, musikalische Formen werden in Literatur übertragen.


Dieses grandiose Meisterwerk der Literatur führt durch die Schichten unserer Gesellschaft, der Zeiten und damit eben der Geschichte. Fantasy, Slapstick und Bildungsroman bilden eine überwältigende Melange. Jedes tiefere Eindringen in die Höhlengänge, jedes Hinab also, ist dabei an einen grandiosen sprachlichen Aufstieg gebunden. So kann die Verballhornung des Johannesevangeliums zum Auftakt nicht verwundern: „…Er ist das Wort, und das Wort ist bei ihm, der alles sieht und hört, nichts bleibt ihm verborgen. Wie uns. Wir sind die Mitarbeiter des Systems … wir, die Sicherheit.“ Denn alles beginnt schließlich in einem labyrinthischen System, der sogenannten Kohleninsel, dem Regierungssitz eines Staates namens Treva, der sein Entstehen der deutschen Wiedervereinigung verdankt.


Es ist August geworden, August des Jahres 2015. Die Sicherheit, nun die

Tausendundeinenacht-Abteilung geheißen, Überbleibsel der ehemaligen Staatssicherheit der DDR, steuert wiederum – oder noch immer? – so ziemlich alles, was im Staat geschieht: Politikerkarrieren, Regierungsentscheidungen und nicht zuletzt die öffentliche Meinung. Denn auch die Presseorgane des Landes, wie die „Wahrheit“, die „Trevische Allgemeine Zeitung“ oder die „Südtrevische Zeitung“, werden mit Informationen von der trevischen Nachrichtenagentur gefüttert. Zur Kenntnis erhalten deren Mitarbeiter die Direktive: „Nach unserer Auffassung hängt der Erfolg einer Demokratie von einer fundierten öffentlichen Meinung ab; die Zeitung soll … dazu beitragen, daß eine fundierte öffentliche Meinung geschaffen und erhalten werden kann.“ Selbstredend verfügt die Kanzlerin, welche Meinung als „fundiert“ zu gelten hat. Doch selbst die Kanzlerin von Treva, Anne Hoffmann, Hauptfigur schon im „Turm“, dort ausgebildete Kinderkrankenschwester und betrogene Gattin, in der Wendezeit politisiert, ist der Behörde zu Dank verpflichtet.


Als Mitarbeiter der Sicherheit wird auch der Erzähler Fabian Hoffmann vorgestellt: „Ich: Fabian Hoffmann, Jahrgang 1968, aus Dresden, Filmvorführer, Dissident, Angehöriger der Novalisklasse der Kohleninsel, Chronist. Der im Dezember 1989 zum ersten Mal den Decknamen ‚Nemo‘ auf einem Blatt Papier sah und noch in der Nacht seiner letzten Vorführung im Urania-Kino beschloß, ‚Nemo‘ zu folgen, auch wenn das bedeuten würde, in die Kohleninsel einzutreten … ‚Nemo‘ folgen: in die Sicherheit." Nemo als Anagramm von „Meno“, Meno Rohde, dem Erzähler aus dem „Turm“, der hier zum Hauptverdächtigen wird. Fabian Hoffmann hat ja diesen Verdacht und will dem Rätsel seines Lebens endlich die Pointe abgewinnen, will wissen, wie der Verrat an seiner Zwillingsschwester Muriel und seinem Vater zustande kam. Atemberaubend dabei ist die strukturelle Vielfältigkeit der Szenen. Hat Uwe Tellkamp auch verlautbart, er könne keine Kurzgeschichten schreiben, so beweist der neue Roman auch dieses Können. Seine Miniaturen gleichen Paukenschlägen. Erzählstränge werden verschränkt und aufgelöst, werden beschleunigt und verlangsamt. Kapitel nehmen ihren Aufstieg zu meisterlichen Erzählungen. Mitunter sorgt solcher dann für Atemnot, die Magie betört. Berührend ist zu sehen, wie der Chronist Fabian Hoffmann wuselt und kreist, wie er Material über seine Beobachtungsobjekte sammelt in der Geheimabteilung unter Tage, um sich zu nähern, der überirdischen, der metaphysischen „Aufgabe im Grunde“. Sie ist Fabians Suche nach dem eigentlichen Sinn des Geschehenen, so kommen denn „in die Chronik diejenigen, denen alles Rätsel ist.“


Unweit nur von der Aufgabe im Grunde entfernt, ist die Betrachtung zu Nachtigall und Amsel, ist der Maßschneider Lukas, ein Hersteller von Zwangsjacken, der über die Notwendigkeit eines „Schrittgurtes“ doziert und natürlich ist es die Lektorats-Arbeit am Wort, mit einem Spezialisten für die Vorsilben „un-“ und „ver-“. Auch die alte Bonner Republik wird in Fabian Hoffmanns Spurensuche einbezogen, den Netzwerkverbindungen alter Kameraden nachgespürt. Seilschaften begegnen ihm. Bezüge werden hergestellt, mögen sie auch unbedeutend erscheinen. Bei Karl Wienand etwa, Herbert Wehners Mann fürs Grobe. Dessen Schweiß noch ist eine Spur. „Wienand schwitzt. Er tupft sich die Stirn den Hals mit einem Tuch ab.“ Und im Roman wird dieser Wienand dann einen nicht ungefährlichen Gedanken kreisen lassen: „Wenn man so lange schweigt und angeschwiegen wird, steigen die tollsten Dinge aus den Geheimkammern drinnen, nichts dringt so umstandslos zu ihnen vor wie Schweigen, fordert sie heraus, die Geheimnisse aus den innersten Kammern, in denen sie, sorgsam abgeriegelt, ruhten.“ Eine Politik wie eine Gesellschaft schwitzt Abgründiges aus, wenn das Schweigen die Grundlage bildet. Eine ungeheuerliche Erkenntnis ist aufgegangen.


Der neue Roman stellt dennoch nur einen Anfang dar, die Themenstränge sind ausgelegt. Daß die Trevische Republik sich formte, steht dem Leser sichtbar vor Augen. Wie sie zustande kam, wird nun, in der Folge, zu erzählen sein. Der Aufschrei aber bleibt. Mit Heinrich Detering wird er dann am Ende nur noch lauter: „Boah eh! Das ist eigentlich zuviel, das geht ab wie eine Rakete!“ Ein Echo hallt: Die Literatur ist auferstanden! Sie ist wahrhaftig auferstanden! Grund großer Freude!


Uwe Tellkamp: Der Schlaf in den Uhren. Suhrkamp Verlag: Berlin 2022. 904 S., 32 €


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