Beim freudigen Klopfen oder kreiselnden Tätscheln der Rücken der zur Begrüßung umarmten Freunde erhob sich ein akustischer Bogen, gefüllt mit Tönen, die sich trotz ihrer Schlichtheit wie ein virtuos gespieltes Stück anhörten. Auch das kleine Wärmegefühl, das in den zur Begrüßung agierenden offenen Handflächen, sowie auf den „bespielten“ Rückenpartien der Freunde prickelte, verstärkte die Harmonie, die selbst dann noch nachschwang, als der Nachschub an Klängen längst versiegte. Aus Umarmten waren wieder Einzelne geworden, jetzt aber zusammengehalten von einem von der Begrüßungszeremonie geknüpften Geflecht aus unsichtbaren Fäden, von Fäden, die nicht Fesseln, nicht Gefängnis, sondern Geborgenheit signalisierten.
Das Eingewobensein zog Jonathans mitgeschleppten Sorgen die Krallen. Die Schwere verflog, Zuversicht kehrte ein, Verbissenheit und Starre wichen aus Jonathans Gliedern, seine Mundwinkel und mit ihnen seine Gesichtszüge wurden locker, ließen ein zunächst noch vorsichtiges, wie in einem Experiment kontrolliertes Lächeln schlüpfen, das von tiefem Luftholen weiter ermuntert dem Zwerchfell half, seine Angst sowie die Angst vor der Angst abzuzittern. Dieserart befreit schaute Jonathan wie neu in die Runde, mit einem freundlich offenen, rundherum ansteckenden Smileygesicht, in das hinein keinem einfiel zu fragen: Was gibt’s denn da zu grinsen?
Genau so hatte ich wieder einmal eine meiner zugegebenermaßen oft etwas gedrechselten Episoden um Jonathan begonnen, hatte meinen Protagonisten schnell in Euphorie versetzt, wollte ihn voranstürmen, gewinnen, zwischendurch auch ein wenig schmoren lassen ... und dann stockt mir der Schreibfluss.
Was hinter dem steckt, ist keine der üblichen Blockaden, ist kein individuelles Allerweltsproblem, sondern ein, zumindest mein literarisches Dilemma, die Frage, wie in berührungsfeindlichen Zeiten zu schreiben sei, wie umgehen mit einer von rigiden Begegnungs- und Abstandsregeln versteinerten Gegenwart? Wohin soll meinen Blick ich wenden, was anfangen mit meinen untauglich gewordenen Bildern, mit aus der Zeit gefallenen Handlungsmustern, die ich, noch nicht lange her, für ewig hielt?
Auf welches Nagelbrett sind wir gespannt? Und welcher Gegner hat uns in der Hand? O trübes Lied ... sage ich da klagend, in frecher Abwandlung von Rilkes ergreifendem Liebesgedicht: „Wie soll ich meine Seele halten“.
Nun mach mal halblang, mahnt mich meine innere Stimme. Schluss mit dem Gejammer, deinen Jonathan hattest doch nie als Trauerklos konzipiert, strebend bemüht, als Held wolltest du ihn haben, Chancen suchend, ergreifend, nicht von den Umständen gelähmt ... Ok, ok, … nach einigem Hin und Her, um das jetzt mal abzukürzen, schwenke ich ein und als Zeichen meines guten Willens, schenke ich meinem Protagonisten als erstes den Nachnamen „Fröhlich“.
Jonathan Fröhlich, nomen est omen, Herr Fröhlich soll leben, soll nie mehr verstaubte Jacketts abklopfen müssen, in der erbärmlichen Hoffnung, Ermunterung daraus zu saugen. Kopf hoch, Herr Fröhlich, frisch auf und voran, mache dir Ehre – und deinem Autor gleich mit, suche den Glanz nicht dort, wo die alten, gebrechlichen Sinne verzagt und verkümmert darnieder liegen. Folge stattdessen Albert Einstein, der sagt: „Mehr als die Vergangenheit interessiert mich die Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben.“
Einstein, oh weh, erneut meldet sich meine interne Kritik, die da meint, der Einstein, wenn er nur zu leben „gedenkt“, dürfte uns dann doch ein wenig zu relativ sein, denn: Gedenken ist nichts ohne Tun. Gedenke und tue, müsste das Motto lauten … na denn, sage ich mir, so sei es. Jonathan, hast du gehört, Einstein vergessen; gescheit sollen wir sein und Macherqualitäten besitzen. Welches Vorbild fällt uns da ein? Viele, ich sag‘s dir, Figuren wie Elon Musk, Mark Zuckerberg, Jeff Bezos, um nur einige zu nennen, denn den in diesen Giganten versammelten schöpferischen Geist zeichnet beides aus: Intelligenz und die Fähigkeit Milliarden zu machen. Ja, das sind Wegweiser, unkonventionelle Gestalten mit nicht unbedingt neuen, aber neu gewendeten Einsichten wie: „Das größte Risiko besteht darin, kein Risiko einzugehen“. Oder: „Die Dinge, die du im Leben am meisten bereust, sind die Dinge, die du nicht getan hast“. Jedes Sätzchen ein Universum – das Größte im Kleinsten – und auch auf Bill Gates, natürlich, sollten wir hören, von dem die kurze, bündige Weisheit stammt: „Das Leben ist nicht fair, gewöhne dich daran“.
Wie ich mir dieserart munitioniert die nächsten, bestimmt bald prall gefüllten Seiten ausmale und triumphierend um mich blicke, muss ich mit Schrecken erkennen: mein Jonathan zieht nicht mit, wirkt überhaupt nicht begeistert. Fuck. Was für ein Joni ist das denn, ich baue ihm Brücken und der steht davor, wie der Ochs vorm Berg! Und jetzt beginnt er auch noch mit seinem rechten Ellenbogen zu stochern, besser gesagt, das Teil wie eine verkappte Lanze von sich zu recken, um damit wiederum andere, ihm seinerseits entgegengestreckte Armteile zu touchieren. Dass dabei gelegentlich elektrische Entladungen knistern, die aus den über die Ellenbogen gezogenen Textilien stammen, ergötzt die Lanzer, wie man sieht, sehr, und mehr noch, so zeigen ihre Minen, halten sie ihr Waffenkreuzen rundum für solidarisches Tun … ja sind wir jetzt im Krieg, oder was? Ach so, Ellenbogen statt Grußhand, selbstverständlich, verstehe, das neue Normal gilt es umfassend zu befolgen, was allenthalben entsprechende Korrekturen erfordert. Nicht nur solche wie von Immanuel Kant praktiziert, der, um sich von seinem Diener namens Lampe zu emanzipieren, Zettel in seiner Studierstube auslegte, auf denen zu seiner eigenen Erinnerung „Lampe vergessen“ geschrieben stand.
Die radikale Art zu vergessen, wäre, was ebenfalls vorkommt, die inkriminierten Begriffe bei Strafe zu verbieten. Eine etwas gemäßigtere Variante käme mit freiwilligem Weglassen aus: Autoren könnten dadurch, dass sie Situationen, die wie bisher üblich zu Umarmungen, körperlicher Nähe, zu alter Natürlichkeit führen nicht beschreiben, sondern einfach weglassen, auslassen, vermeiden, überspringen und so dazu beitragen, solche Konstellationen mit der Zeit aus dem natürlichen Humanrepertoire verschwinden zu lassen; bereits bestehende, verfängliche Passagen wären dann nachträglich gänzlich umzuschreiben, um z.B. den tragisch, üblen Grenouille in Patrick Süskinds Roman „Das Parfüm“ seine verwerflichen Jagden nach unberührt betörendem Mädchengeruch von Anfang an vorbildlich exerzieren zu lassen, nämlich flachatmig, zierlich, anstatt sich und andere ohne Not durch bedenkenlos hündisches Rundumschnuppern mit seinem Odem zu gefährden.
Ob nun so oder so, die Lesenden brauchen Führung, Erziehung, sind insbesondere vor schädlichen Vorbildern, Weltbildern zu schützen, auch dann übrigens, wenn diese Lesenden gerade mal nicht oder sowieso nicht lesen; alle könnte es treffen; alle gilt es durch Vergessen, Tilgen, Vermeiden, Umschreiben vor Verwirrung zu bewahren. Alles muss raus, etwa gemäß dem Modell SKD, sprich: S = Staatliche, K = Kunstsammlungen, D = Dresden, wo vorerst 143 Titel alter Exponate umbenannt wurden, z.B. jene „Zigeunermadonna“ in „Madonna mit stehendem Kind“, was womöglich ebenfalls nur ein Transitorium wäre, falls früher oder später die Madonna selbst auf den Woke-Index gerät: „Christ*in“ oder „Menstruierende Person“ statt Madonna hieße es dann.
Ohne mich, mein lieber Herr Jonathan, friss oder stirb. Du weißt ja: auf eine Leiche mehr oder weniger kommt es dem Schriftsteller nicht an, da bin ich flexibel, sei du es also auch und schau, ich bin ja bei dir, schau hier durch diese Brille, dann siehst du, wie über ein und dasselbe gilt, dass etwas ist und nicht ist, und nicht ist oder ist, und weder nicht noch nicht nicht ist. Buddhismus, Jonathan, Zen, Catuskoti, so kommst du dem Unsagbaren näher. Der Kopf ist dem Menschen ein Gefängnis. Und in deinem Kopf, du armer Tropf, tummelt sich zu wenig Großes, nur Groschen sind da, Kleingeld, mit dem du es gerade mal rüber zum Bierholen schaffst bzw. zum Bäcker an der Ecke.
Deine Beschränkung, oder, um es freundlicher zu formulieren: dein raumzeitlich enger Handlungshorizont wurde von mir selbst dummerweise so angelegt. Mein Fehler, ich war da wohl zu volkstümlich gestimmt. Erbärmlich eng habe ich dich ausgestattet, eben so, wie es für die meisten deiner Zeitgenossen gilt, denen sich die Welt durch die Brille ihres knappen monetären Potenzials präsentiert, was sodann dazu tendiert, auch ihre geistige Abenteuerlust zu reduzieren. Daran müssen wir schrauben. Fort mit dem Klein-Klein. Mit ihren mickrigen Geldbudgets im Kopf wird die Masse der Menschen an ihre Verzwergung gewöhnt, zunächst mit etwas Taschengeld und bald durch ein gnädiges Grundeinkommen; ganz anders als unsere Denke-groß-Milliardäre. Gemessen an deren Möglichkeiten ist die Weltkugel nurmehr ein Fingerhut, eine Murmel geworden, und auch ein Lebensalter ist diesen Giganten entschieden zu kurz. Daran sollten wir uns orientieren … aber nicht als Wegweiser, wie ich zunächst dachte, sondern als Abzweig, denn: nach den Milliarden kommen, du weißt schon, Billionen, Billiarden, Trilliarden, Quadrilliarden und immer so fort, ein einfältiger Trott. „Think big“ geht sicherlich anders. Beim Zählen jedenfalls ist Langeweile vorprogrammiert. Mehr Spannung verspricht ein Pfad nicht mit, sondern weg von den Nullen.
Mehr zum Autor Rainer Willert finden Interessierte auf der Webseite rainerwillert.de
Titelbild: Fawzi Demmane, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons
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