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Parviz Amoghli: DER HALBE UNTERGANG — Die ausgeblendete Oberwelt Berlin 1945

Vor 75 Jahren, am 16. April 1945, begann die Schlacht um Berlin. Zu diesem Anlass dokumentieren wir einen Essay, den unser Autor Parviz Amoghli für die Herbst-TUMULT 2015 geschrieben hat, um auf eine kollektive Gedächtnislücke der Deutschen von heute hinzuweisen. Die Schlacht um Berlin scheint bereits historisch entlegen, aber sie markiert den Untergang Deutschlands als souveräner Staat - bis heute. Die Entmündigung und Selbstentmündigung Deutschlands hält nun schon ein Dreivierteljahrhundert an.



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"Die Kulturhöhe eines Volkes erkennt man daran, wie es mit seinen Soldaten und Gefallenen umgeht."

Themistokles


Sie wurde schon seit ein paar Wochen erwartet, die »Berliner Operation«. Am Morgen des 16. April 1945 bricht der Sturm schließlich los. Abertausende sowjetische Geschütze, Katjuscha-Werfer und Panzer entlang der Oder eröffnen gleichzeitig das Feuer. Es ist ein Schlag von nie dagewesener Wucht und Wirkung, mit dem sich die Rote Armee zur Schlacht um Berlin, der letzten des zweiten Dreißigjährigen Krieges, erhebt. Diese wird sich zu einem der größten Gemetzel der Geschichte entwickeln und etwas mehr als zwei Wochen dauern, bis zum 2. Mai. Danach ist die »Magdeburgisierung« der Reichshauptstadt abgeschlossen und von dem einst so stolzen Spree-Athen nicht mehr viel übrig. Der totale Krieg endet mit der totalen Niederlage.


Vor diesem Hintergrund ist es umso auffallender, welche geringe Rolle die eigentliche Schlacht um Berlin in der öffentlichen Wahrnehmung heute spielt. Im Gegensatz zu Stalingrad, Kursk oder der Ardennen-Offensive findet sie bestenfalls Beachtung als pyrotechnisches Beiwerk für die letzten finsteren Machenschaften des Führers und seiner Bagage in einem Betonkasten Dutzende Meter unter der Erde. Die Tragödie in der Oberwelt ist hingegen weniger interessant.


Die Fixierung auf diese personale Geschichte bei gleichzeitiger Nichtbeachtung des äußeren Kriegsszenarios ist indes kein Zufall. 2002 erschien Joachim Fests detaillierte Dokumentation von Hitlers Ende, 2003 folgte der Bericht von dessen Privatsekretärin Traudl Junge zum gleichen Thema, und zwei Jahre später, pünktlich zum sechzigsten Jahrestag der Kapitulation, kam, basierend auf diesen beiden Büchern, der vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen großteils mitfinanzierte Film Der Untergang heraus.


Seither sind Dramaturgie und Ästhetik der letzten Tage des Reichs vorgegeben. Als bildliche Manifestation der Befreiung von der Schreckensherrschaft verreckt das geschlagene und irre gewordene Monster in seiner finsteren, kalten Höhle. Davor stehen die Sieger, die Drachentöter, die dem Bad im Blut der faschistischen Bestie als heroisch unbescholtene Vorkämpfer für die Freiheit wieder entsteigen. Jedenfalls nach Auslegung der Berliner Republik. Und damit das auch so bleibt, ist Bruno Ganz als Hitler auch noch zehn Jahre danach fester Bestandteil in den Abendprogrammplanungen der diversen öffentlich-rechtlichen TV-Anstalten.


Angesichts dessen nimmt es nicht wunder, wenn Vertreter und Würdenträger der Republik einen großen Bogen um die »Gräber der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft« machen. Denn hier ruhen unter anderen jene Opfer des Untergangs, derer man habhaft werden konnte – es sind bei weitem nicht alle. Trotzdem reichen sie aus, um ein anderes, nicht gern gesehenes Bild von den Ereignissen vor siebzig Jahren zu vermitteln. An ihnen lassen sich die Wogen der Vernichtung verfolgen, die damals aus allen Richtungen über die Reichshauptstadt hinweggingen und diese unter sich begruben.


Jeder Berliner Friedhof, es sei denn, er ist einer bestimmten Konfession/Religion oder Nationalität vorbehalten, verfügt über derartige Gräber. Sie sind leicht zu erkennen: rotbraune Grabkissen aus Ton, die um ca. 30° angestellt und in regelmäßigem Abstand in eine Grünfläche eingelassen sind. Manchmal sind es nur einige wenige am Wegesrand, manchmal sind es kleinere Abteilungen mit einigen Dutzend hinter- und nebeneinander aufgereihten Steinen, und manchmal scheint der gesamte Friedhof aus ihnen zu bestehen. Wie in Tempelhof und Neukölln, wo sie zu Tausenden ganze Felder bedecken. Dabei sind nicht auf allen Steinen Namen, Geburts- und Todestag verzeichnet, viele sind unvollständig, und nicht selten ist lediglich »Unbekannt« oder »Unbekannte/r Frau/Mann/Soldat« darauf zu lesen.


Nach dem Bundes-Gräbergesetz enthalten die Begräbnisstätten nicht nur die Gebeine von gefallenen Soldaten der beiden Weltkriege, sondern auch die von Menschen, die in Ausübung ihres militärähnlichen Dienstes oder innerhalb eines Jahres nach Ende ihrer Kriegsgefangenschaft starben; außerdem von Zivilisten, die zwischen dem 1. September 1939 und 31. März 1952 durch Kriegseinwirkungen getötet wurden; dazu kommen Opfer nationalsozialistischer Gewaltmaßnahmen beziehungsweise rechtsstaatswidriger Maßnahmen des kommunistischen Nachfolgeregimes sowie Vertriebene, Deutsche, die durch oder in Folge von Verschleppung starben, Internierte aus Lagern, die unter deutscher Verwaltung standen, Zwangsarbeiter und schließlich Ausländer, die in von internationalen Flüchtlingsorganisationen betreuten Lagern ihr Ende fanden. Alles in allem sind es rund hundertfünfzigtausend Tote, die in circa hundertzwanzigtausend Begräbnisstätten ihre letzte Ruhe gefunden haben. Außer der Unterteilung zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg und bei Familien, wo darauf geachtet wurde, sie als solche gemeinsam oder benachbart zu bestatten, folgt die Anordnung der Steine keinem alphabetischen oder andersgearteten System. Sie ist rein zufällig.


Trotzdem fällt es nicht schwer, mit den Gräbern den Weg in die Katastrophe nachzuzeichnen. Ab Januar 1943 steigen die Opferzahlen – zum einen weil die Kämpfe an den Fronten verlustreicher werden, zum anderen eskaliert der Bombenkrieg. Weshalb das, was vorher nur vereinzelt vorkommt, von da an zur Regel wird: die Namen von Zwangsarbeitern und Frauen sowie die Lebensdaten von Kindern und Greisen. Grabkissen wie das der achtunddreißig Jahre alten Andrija M. in Pankow, des siebenundsiebzigjährigen A. B. in Köpenick oder des kurz vor seinem siebten Geburtstag stehenden Horst M. in Tempelhof oder der Familie B. in Treptow lassen erahnen, welche Dramen sich in Tagen und Nächten wie jenen vom 22. bis 26. November 1943 oder am 27. Januar 1944 oder immer wieder am 3. Februar 1945, dem verheerendsten Luftangriff mit geschätzten zwanzigtausend Toten, in Berlin abspielten.


Etwas mehr als zehn Wochen später, am 19. April 1945, legt die Royal Air Force, von Westen kommend, den letzten Bombenteppich des Kriegs über der Reichshauptstadt aus. Im Osten nimmt die Rote Armee an diesem Tag die Seelower Höhen und öffnet damit den Weg nach Berlin. Rund zwölftausend deutsche und dreiunddreißigtausend sowjetische Soldaten finden im Verlauf dieser knapp hundertstündigen Ouvertüre den Tod. Ihre sterblichen Überreste liegen auf den unzähligen Soldatenfriedhöfen rund um Seelow begraben. In der veröffentlichten Wahrnehmung jedoch existiert der viertägige Kampf um die Höhenzüge nordöstlich von Berlin höchstens als militärisches Randereignis und keineswegs als Ausgangspunkt zur Eroberung der Reichshauptstadt. Vielmehr beginnt diese offiziell erst am 20. April 1945.


Warum, ist klar. Sowjetische Feldartillerie schickt zu Führers Geburtstag feurige Grüße nach Mitte – nicht nur damals symbolischer Anlass für das Rote Oberkommando. Aber das ist nicht alles. Es gibt da ja noch jenes schaurige Bild vom gehetzten Monster, das ein letztes Mal in der Oberwelt erscheint, um mit zittriger Hand die Wangen von ein paar Hitlerjungen zu tätscheln, bevor es sich ein für alle Mal hinab in die neonlichterhellte Unterwelt begibt, aus der es erst zehn Tage später als Leichnam wieder hervorkommen wird.

Dabei immer an seiner Seite: seine heutigen Interpreten. Mit der Folge, dass sie von dort unten aus natürlich keinen Blick haben für die zehntägige Apokalypse über ihren Köpfen. Und die brandet am selben Tag an den nordöstlichen und östlichen Stadträndern an. Was das für die Menschen dort bedeutet, beschreibt König Claudius in Hamlet: »… wenn die Leiden kommen, / So kommen sie wie einzle Späher nicht, / Nein, in Geschwadern.« Das gilt auch noch knapp dreihundertfünfzig Jahre später.


Zu Hunderten wird in Hohenschönhausen, Malchow, Pankow, Bernau und Frohnau bis zum 23. April gestorben. Ohne Rücksicht auf Alter, Herkunft oder Geschlecht, auf Schuld oder Unschuld, auf Sklaven, Herren oder Widerstehende, auf Dienstgrad, Beruf oder Familienbande. Niemand weiß, wie sie und all die anderen, die ihnen in den kommenden Tagen folgen werden, genau den Tod fanden. Ob durch eine Granate oder eine Kugel, ob durch wahllos mordende »Kettenhunde« oder brandschatzende »Muschiks«, durch Verletzung oder weil sie erstickten, verbluteten, verbrannten oder in Stücke gerissen wurden. Eine Möglichkeit ist grauenvoller als die andere. Allerdings haben diese Opfer wenigstens ein eigenes Grab und dazu meistens noch einen Namen. Zehntausende von gefallenen sowjetischen Soldaten haben nicht einmal das. Sie liegen stattdessen in anonymen Massengräbern sowjetischer Ehrenmale, von ihrer Regierung aus allen Ecken Berlins für eine letzte, ewige Siegesparade zusammengeholt.


Unter ihnen befinden sich gewiss auch Gefallene vom 24. April, dem Tag, an dem die Angreifer den Südwesten Berlins erreichen. Über den Teltowkanal stoßen sie nach Zehlendorf, Kleinmachnow und Lichterfelde vor. Auf beiden Seiten gibt es hohe Verluste. Der deutsche Widerstand ist erbittert. Wehrmacht, SS und Volkssturm stellen sich der Übermacht entgegen. Sie wissen, was droht. In diesem Krieg wird kein Pardon gegeben. Darüber ist sich niemand mehr im Klaren als die, die sechs Jahre zuvor damit begonnen haben. Und wie die Friedhöfe entlang der sowjetischen Durchbruchsstellen und Vormarschwege zeigen, haben sie Recht behalten.


Derweil vermerkt die Untergangsversion der Berliner Republik für diesen Tag zweierlei. Einmal die Nachwirkungen von Hitlers legendärem Zusammenbruch zwei Tage zuvor, woraufhin die Höhlengemeinschaft wie ein Haufen enthaupteter Hühner durch den Bunker springt. Zum anderen die Episode um General Weidling, der als Todeskandidat vor seinen Führer tritt und diesen als letzter Kampfkommandant von Berlin wieder verlässt. Gegen solch schillernde Inszenierungen von Wahnsinn haben dessen blutige Folgen keine Chance. Insbesondere dann nicht, wenn sie diejenigen treffen, die sich in der moralingetränkten Rückschau auf der falschen Seite befinden.


Am 25. April schließt sich im Westen Berlins, in Ketzin, der Ring um die Reichshauptstadt. Parallel dazu wird im Norden aus Wedding ein Schlachtfeld, während im Osten das weitgehend zerstörte Friedrichshain kurz vor dem Fall steht. Im Süden bricht an diesem Tag das grausige Tosen über Tempelhof und Neukölln herein. Wie sehr, davon zeugen die vielen Grabfelder, die das Tempelhofer Feld wie einen Kranz umgeben.


In den Stunden und Tagen danach lässt der Angriffsschwung ein wenig nach. Sowjetische Umgruppierungen sind der Grund. Außerdem will verständlicherweise kein Angreifer so kurz vor dem siegreichen Ende noch sterben. Das sind ohnehin schon viel zu viele. Gleichwohl legt sich die rotglühende Manschette immer enger ums Zentrum. Spandau, Gartenfeld, Wilhelmstadt und Siemensstadt gehen verloren, das Hallesche Tor ist erreicht, in der Berliner Straße in Wilmersdorf toben heftige Gefechte, ebenso am 28. April am Alexanderplatz. Geschosse fauchen, Granaten krepieren, Häuser sinken in sich zusammen, der Gestank von Tod und Verwesung zieht durch die Ruinen. Vor allem für jene, die in den Kellern vegetieren, müssen es Tage gewesen sein wie aus einem breughelschen Albtraum. Aus dem allerdings allzu viele nicht wieder aufwachen, wie an der Zahl der »Gräber für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft« abzulesen ist.


Kein Grund jedoch für die öffentlich-rechtlichen Voyeure, im Bunker davon Notiz zu nehmen. Viel interessanter ist da der nackte Schwippschwager des Führers, der am selben Tag besoffen im Konkubinenbett gestellt und für Himmlers Verrat, trotz Intervention von Eva Braun, in einem letzten Hass- und Racheausbruch des Monsters vor dessen Höhle niedergemacht wird. Das Problem ist nur: SS-Gruppenführer Hermann Fegelein muss als Sympathieträger erscheinen. Es geht nicht anders. Schließlich dient er als Kristallisationspunkt für das mörderische Irresein Hitlers, das selbst vor Quasi-Familienangehörigen nicht Halt macht. Dafür kann man schon einmal außer Acht lassen, dass Fegelein und seine Reiterbrigade in den Jahren zuvor zu den übelsten Schlächtern hinter der Front zählten.


Die zweifelhafte Darstellung Fegeleins ist im Übrigen nicht die einzige ihrer Art. Auch General Weidling oder SS-Brigadeführer Mohnke kommen beispielsweise besser weg, als sie es verdienen. Der eine wollte immerhin noch am 23. April einen für defätistisch gehaltenen Kameraden erschießen lassen, der andere hinterließ vor allem an den Westfronten 1940 und 1944 seine blutigen Spuren. Solcherlei Petitessen müssen jedoch ebenfalls hinter dem gewünschten Ablauf zurückstehen. Genauso wie die 1. und 2. Polnische Armee, insgesamt zweihunderttausend Mann, die in den Reihen der Roten Armee kämpfen. Oder die Kesselschlacht von Halbe, die untrennbar mit der Eroberung Berlins verbunden ist und noch einmal Zehntausenden das Leben kostet. Aber so ist es halt, wenn Geschichte zur Story wird. Dann heißt es KISS »Keep it simple, stupid«.


Dementsprechend geht es weiter. Der 29. April weiß von der Hochzeit von Adolf und Eva Hitler, geb. Braun, zu berichten. Sowie von den sich daran anschließenden kleinen Anekdötchen, die mit pornographischer Akribie ausgeleuchtet werden. Etwa als sich Eva auf der Trauungsurkunde verschreibt oder als sie ihre Haushälterin darauf hinweist: »Du kannst mich ruhig Frau Hitler nennen.« Das ist allemal reizvoller als der Umstand, dass die Schlacht um Berlin zu diesem Zeitpunkt bereits seit einigen Stunden in ihre letzte Phase eingetreten ist.


Am frühen Morgen hat der Angriff auf die Zitadelle, das Regierungsviertel, begonnen. Ausweislich der Tonblöcke auf den Friedhöfen in Mitte ist es eine letzte blutige Fastnacht. Was wohl auch daran liegt, dass sich unter den letzten Verteidigern des Dritten Reichs die Reste von mindestens zwei ausländischen SS-Freiwilligen-Verbänden befinden: der französischen Division Charlemagne und der skandinavischen Division Nordland. Dazu kommen umherirrende Waffen-SS-Männer aufgeriebener Einheiten, darunter Ukrainer und Russen. Unnötig zu erwähnen, dass auch sie im amtlichen Untergang nur am Rande erwähnt werden. Dabei müssten doch gerade diese Kämpfer von größtem Interesse sein. Schließlich verkörpern die ausländischen Freiwilligenformationen doch den rasseimperialistischen Wesenskern nationalsozialistischer Gesinnung. Aber vielleicht ist das ja ein bisschen zu internationalistisch für Internationalisten. Sei es, wie es sei. Die in Berlin verbliebenen SS-Männer haben jedenfalls nichts mehr zu verlieren. In ihre Heimatländer können sie nicht zurück, und in sowjetischer Gefangenschaft erwartet sie der sichere Tod. Also kämpfen sie weiter.


Am Ergebnis ändert es nichts. Am Abend des 29. April nimmt die Rote Armee über die Moltke-Brücke hinweg das Innenministerium, welches wiederum nur wenige Stunden darauf zum Ausgangspunkt für die Eroberung des Reichstags wird. Noch einmal entbrennt ein Kampf auf Leben und Tod. Kurz nach zweiundzwanzig Uhr am 30. April ist es dann geschafft: Die rote Fahne wird gehisst.


Das Ehepaar Hitler ist zu diesem Zeitpunkt schon tot. Evas und Adolfs verbrannte Überreste schwelen noch ein paar Meter entfernt vom Bunkereingang in einem Granattrichter. Womit nun auch für die verbliebenen Begleiter – und die spektakelsüchtigen republikanischen Nachfahren – der Moment gekommen ist, die Höhle des Untiers zu verlassen. Sie können es gefahrlos tun. Die Schlacht ist so gut wie vorbei. Zwar leisten noch diverse Widerstandsnester erbitterte Gegenwehr, außerdem kommt es bei Ausbruchsversuchen in Richtung Westen zu Kämpfen. Doch das sind nur die letzten Zuckungen des erlegten Feindes. In den ersten Stunden des 2. Mai kapituliert General Weidling bedingungslos. Ab fünfzehn Uhr schweigen die Waffen. Der Vorhang ist gefallen, die offizielle Geschichtsschreibung verabschiedet sich zur Aftershow Party.


Gleichwohl geht das Sterben in Berlin weiter. So zeigen es zumindest die rotbraunen Grabkissen. Und es scheint, als würden die tödlichen Wogen, nachdem sie aufs Zentrum geprallt sind, nun wieder zurückfließen. Allerdings nicht überall gleich verheerend. Mancherorts, wie in Bernau, hat es den Eindruck, als hätte sich die Situation direkt nach der Einnahme halbwegs beruhigt. Nur vereinzelt sind dort Gräber mit einem Todestag im Mai ’45 versehen. Ganz anders sieht es jedoch in Stadtteilen wie Hohenschönhausen, Tempelhof, Neukölln oder Spandau aus. Hier mussten ab dem Ausbruch der Kämpfe viele ihr Leben lassen, und das bis weit über die Kapitulation hinaus. Und dann gibt es wiederum Bezirke, deren Opferzahlen einen wellenartigen Verlauf nehmen. Wie zum Beispiel in Pankow. Dort erreicht das Ringen zwischen dem 20. und 23. April seinen Höhepunkt. Nachdem das sengende Gewölk in Richtung Mitte weitergewandert ist, sinken die Todeszahlen. Allerdings nur bis zum 2. Mai. An diesem Tag schießen sie wieder nach oben und bleiben eine Woche lang auf diesem hohen Niveau.


Was ist in dieser Woche in Pankow geschehen? Warum starben noch so viele Menschen, obwohl der Krieg in Berlin schon zu Ende war? Haben sie sich selbst gerichtet? Oder handelt es sich unter Umständen um Opfer von Rachetaten und/oder Massenhinrichtungen? Oder von letzten aufflammenden Kämpfen, in denen SS-Männer den Tod sowjetischer Gefangenschaft vorgezogen haben? Vielleicht sind sie aber auch bloß marodierenden Sowjets bei ihren Siegesfeierlichkeiten in die Quere gekommen? Theodor Plievier kommt einem in den Sinn: »Es waren Köpfe von Mohnke-Mädchen, die betrunkene Rotarmisten unter den Fenstern des Polizeipräsidiums über die Dircksenstraße kegelten und die auf dem Alexanderplatz in der Gosse liegenblieben.«


Doch die Kissen geben keine Auskunft über die Umstände. Es ist auch egal. Im Tod sind alle gleich. Zumindest was die »Gräber für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft« anbetrifft. Ein Stein ist wie der andere. Und das ist ein überaus bemerkenswerter Umstand in Zeiten, in denen Opferhierarchien zum gängigen Instrumentarium im politisch-medialen Tagesgeschäft gehören.


Deutsche Kriegstote sind dabei schon fast traditionell nicht besonders angesehen. Ihnen wird beinahe jeglicher Opferstatus abgesprochen, ihre Leiden werden regelmäßig verleugnet, marginalisiert, relativiert oder gar als eigene Schuld verhöhnt. Sofern man überhaupt darauf zu sprechen kommt. Viel lieber konzentriert man sich auf das Höhlenmonster.


Das aber ist geschichtslos. Denn dessen zweiwöchige Agonie ist nur die halbe Wahrheit, der halbe Untergang. Die andere Hälfte, die apokalyptische Brandung, die zeitgleich über die Stadt hinwegging, außer Acht zu lassen, heißt letztendlich die Totalität der Niederlage ausblenden. Dabei wäre es nur allzu wichtig, sich gerade heute genau das zu vergegenwärtigen. Nämlich, dass im Berlin des April ’45 nicht alleine Hitler unterging, und mit ihm ein Schreckensregime, sondern ebenso Deutschland als souveräner Staat. Und das ist bis dato so geblieben. Trotz Wiedervereinigung und Zwei-Plus-Vier-Vertrag. Die knechtische Duldung gesetzwidriger Machenschaften ausländischer Geheimdienste auf deutschem Boden ist nur der jüngste Beweis dafür. Ungeachtet dessen aber haben die Opfer ein Recht auf Respekt. Wer ihnen diesen vorenthält, bestätigt nur, wie vollständig der Untergang tatsächlich war.



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Über den Autor:


Parviz Amoghli wurde 1971 in Teheran/Iran geboren. 1974 Übersiedelung in die Bundesrepublik. Abitur, Wehrdienst, Studium der Geschichte und Germanistik in Köln, Tübingen und Wien. 2009 Preisträger beim Literaturwettbewerb "Schreiben zwischen den Kulturen" der Edition Exil, Wien. 2010 Dramatikerstipendium des Bundesministeriums für Unterricht, Kult und Kultur (BMUKK) der Republik Österreich. Amoghli lebt in Berlin. Veröffentlichungen in diversen Anthologien und Zeitschriften, Mitglied des Autorenstamms von TUMULT. 2016 erschien von ihm der Langessay "Schaum der Zeit - Ernst Jüngers Waldgang heute" in der Schriftenreihe ERTRÄGE der Bibliothel des Konservatismus. 2017 verfasste er gemeinsam mit Markus Gertken zur Bundestagswahl 2017 das Drehbuch für das Filmprojekt des Bundes der Katholischen Jugend (BDKJ) in der Region München "Mut zum Kreuz - Ergreif Partei". Letzte Buchveröffentlichung gemeinsam mit Alexander Meschnig: "SIEGEN - oder vom Verlust der Selbstbehauptung". Band 5 der Werkreihe von TUMULT, Lüdinghausen/Berlin 2018.




 

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