Frank Böckelmann, Aline Manescu und Till Röcke geben die Zurückhaltung auf
Böckelmann: Ray Kurzweil vertritt die These, dass unser Hirn binnen zwanzig Jahren unsterblich werden wird, indem es dank Nanotechnologie mit Künstlicher Intelligenz verschmilzt und sich millionenfach erweitert. Für Kurzweil ist das keine Dystopie, sondern das triumphale Ende des Homo sapiens. Der Mensch wird zur Geistmaschine. Kurzweil sieht etwas ganz richtig – nichts wird den Menschen davon abhalten, sich in die Cloud hochzuladen. Trotzdem gruselt es mich nicht. Denn alles wird völlig anders kommen, als wir es erwarten. Wie stets.
Manescu: Ich denke schon, dass den Menschen noch so einiges davon abhalten wird, sich beziehungsweise sein Bewusstsein in eine Cloud hochzuladen – unter anderem, dass wir auch im Jahr 2025 noch nicht einmal ganz sicher bestimmen können, wo das menschliche Bewusstsein seinen Sitz hat oder nach welchen Mechanismen es überhaupt funktioniert. Die Frage nach der Machbarkeit ist für mich auch eher sekundär, denn allein schon der Versuch hinterlässt aufgrund seiner Ausgangsposition, das reduktionistische Menschenbild, eine Schneise der Zerstörung.
Böckelmann: Unabhängig von Kurzweils schrecklicher Prognose stehen wir schon heute unter ständiger Bewährung. Das Smartphone mit Apps füllen, Passwörter deponieren, doppelte Authentifizierung – ein Hindernisrennen, PayPal absolvieren, Geräte verkoppeln, Angaben verstehen, Videokonferenzen, Einloggen bei Behörden. Dann muss ich die Daten, die ich gespeichert habe, extra sichern. Da hat sich eine spezielle Branche etabliert, die zugleich schützt und bedroht und abschöpft. Face to face war gestern. Da müssen wir mithalten. Da wollen wir mithalten. Zeigen, dass wir tauglich sind. Nicht nur die Alten stehen unter Druck. Die 30-Jährigen sind die Idioten der 25-Jährigen, die 25-Jährigen die Idioten der 20-Jährigen. Wenn ich es wieder einmal geschafft habe, bin ich so stolz wie ein Schüler, den die Lehrerin gelobt hat. Ein perfektes Umerziehungsprogramm, das mich ängstlich, klein und gehorsam macht. Erfahrung gilt immer weniger, Tradition sowieso nichts mehr. Die Jüngeren treten gegenüber den Älteren als Lehrmeister auf, protzen mit Realitätstüchtigkeit.
Manescu: Wenn die Jüngeren die Älteren schulmeistern, ist das eine neuartige und unnatürlich anmutende, jedoch kaum vermeidbare Situation. Gewisse Aufgaben effizienter zu bewältigen als die ältere Generation ist für die jüngere eine Versuchung zum Hochmut – Hochmut, der Sauerstoff für den progressiven Brand, der wiederum auf den Hochmut der älteren Generation prallt, die es doch gewohnt war, kraft ihrer Erfahrung den Jüngeren im Voraus zu sein. Etwas mehr Demut und ein Mindestmaß an Skepsis gegenüber der reinen Funktionalität könnte möglicherweise beiden Gruppen helfen.
Röcke: Schwer zu sagen, für wen ich weniger Mitleid empfinde. Es reicht für beide kaum. Die Alten hatten andere, viel stärker vorgegebene Möglichkeiten, andere Zugänge auf den Arbeitsmarkt oder sogar noch die Idee einer Allgemeinbildung, inzwischen ein echter Anführungszeichenbegriff. Die Jüngeren ahnen gerade noch, dass diese Leute aus einer anderen Welt kommen, wo vermutlich alles einigermaßen geregelt war, und dieses Ahnen mischt sich dann mit einem IT-Kult, den man trotzig oder fanatisch oder aus einer Mischung von beidem annimmt – so hat man den Alten wenigstens etwas voraus. Andererseits merkt auch der dümmste Jungmensch, dass die Welt der Alten noch eine Weile existiert, zwanzig Jahre mindestens, bis sie verschwindet. Nicht nur die Tageszeitung, die verschwindet ja gerade. Auch dieser ganze Ausdruckskomplex des geschriebenen Wortes wird durch KI ersetzt, und so weiter. Journalisten wird es noch geben, ein paar wenige, als Operatoren der KI-Fertigung. Übrigens auch in der Belletristik: Die Leser werden kein Problem damit haben, die lassen sich von Apps etwas aufsetzen und sind bestens unterhalten. Dieser ganze hingeschriebene Dreck, weinerliche Empowerment-Romane, dümmliche Regionalkrimis oder die Seuche des Selfpublishing, das alles bedient schon heute dermaßen niedrige Ansprüche, da reicht künftig eine Billig-App völlig aus. Die Alten brauchen die Tageszeitung am Frühstückstisch, die ist für sie ein Kulturgut, weniger ein Informationsmedium. Die armen Alten fragen sich: Wie können Menschen nur daran arbeiten, dass meine Tageszeitung abgeschafft wird? Die Jungen sind kaum noch fähig zu entscheiden, was sie brauchen, wollen aber auf jeden Fall das Alte loswerden. Das ist so ein Instinktrest: Weg damit! Wenn ich falle, dann nur nach vorne.
Böckelmann: Die Jungen und mit ihnen alle Digitalisierten haben keine Zeit mehr zum Innehalten. Sie stehen bis zum Scheitel im reißenden Strom des Mitredens. Pausenlos reagieren sie auf die Kommentare der anderen zum laufenden Geschehen, jubeln oder wüten. Sie lösen sich vom Geschehen gar nicht mehr ab. Gibt es überhaupt noch Medien, wenn doch jeder selbst empfängt und postet? Statt von Journalismus müsste man von Instantismus sprechen oder von einem unaufhörlichen Palaver in Echtzeit. Das macht die politische Debatte und das Feuilleton hysterisch. Der einzelne hat die Auswahl unter immer mehr Techniken und Geräten und Agenturen, und gleichzeitig wachsen Unsicherheit und Bewährungsdruck. Die Wahl des Netzwerks oder des Messaging-Dienstes und der Kontaktblase, in denen man zugange ist, hat mehr Bedeutung als Thema und Verständnis. Seit Jahren beschleunigt sich die Schlagzahl der Stellungnahmen pro Stunde und Plattform. Blogger und Printmedientexter schütteln immer schneller Meinungen aus dem Ärmel. Furchtbar. Was ich hastig von mir gebe, kann nicht lange standhalten. Gute Kommentare, gute Artikel überhaupt, brauchen Zeit, um empfänglich für das Überraschende zu sein.
Denken wir an das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen in den USA. Da haben sich unter deutschen Meinungsführern zwei, drei Deutungen wochenlang wiederholt. Immer im Kreis herum. Die Sache ist aber durchaus rätselhaft. Die Kommentatoren griffen zum Nächstliegenden und Plausibelsten, zur prekären Wirtschaftslage der Haushalte im Mittleren Westen und in den Zonen der Deindustrialisierung. Das erklärte alles und nichts. Früher fand man hinter den Sonntagsreden die harten wirtschaftlichen Daten als die verborgenen Hintergründe der Entwicklung, heute ist die Wirtschaft fast ein Vorwand, um den Kulturkampf einzunebeln, der die somewheres und die anywheres bürgerkriegsartig aufputscht.
Die Macht des Vorsprachlichen
Manescu: Die Berichterstattung bekommt durch die Beschleunigung des Verkehrs von Meinungen beinahe neurotische Züge. Herr Böckelmann, was passiert mit der politischen Debatte in Zeitnot und Hysterie?
Böckelmann: Das Geschwätz nimmt unfassbare Ausmaße an. Panisch stürzen wir uns auf jedes Ereignis und zerfleddern es. Weil das Dauergespräch aber in bewährter Verständnisinnigkeit und Polemik verläuft, expandiert zugleich die Sphäre des Ausgeblendeten, des Vorbewussten und Ungesagten. Wir haben gerade davon gesprochen, dass durch Digitalisierung die Belastung steigt, obwohl die vielen neuen Dienste und Geräte ja Entlastung versprechen. Ein Ausweg aus diesem Paradox ist nicht in Sicht. Ich vermute – nein, ich weiß es, dass wir alle in dieser Zwangslage unsere stille Hoffnung auf Apokalypsen setzen. Eine finstere, unaussprechliche Hoffnung. Es ist verboten, sie auszuplaudern. Das Verbot kommt nicht nur von außen, sondern auch von uns selbst. Auch wir geben der Hoffnung hier keine Worte. Soll sich doch jeder Leser seinen eigenen Reim darauf machen.
Da fällt mir Ihr neuer Roman Dreckswelt ein, lieber Herr Röcke, der im neuen Jahr bei CASTRVM erscheinen wird. Dieser Roman bewegt sich ja im Bodensatz des Unausgesprochenen.
Röcke: Der Protagonist verliert sich sogar in ihm. Ein mächtiges Verlorengehen, das dunkelste Kräfte freisetzt.
Böckelmann: Darin besteht die Sprengkraft solcher Aufzeichnungen!
Röcke: Allerdings. Es handelt sich um einen Vergegenwärtigungsroman, festgemacht an einem Einzelgängerschicksal – an was für einem! Damit keine falschen Hoffnungen aufkommen: Die Dreckswelt zählt zum Genre der Nihilprosa. Sie drückt den Ekel über eine Welt aus, die den Einzelnen mit seinem Rest an Selbstachtung vor die Entscheidung stellt, seelisch abgetötet weiterzumachen oder ins Risiko zu gehen – als absolut Ausgestoßener. Für das Einzelgängerschicksal im Roman kann es deshalb keine Kompromisse geben. Es entzieht sich, wo es nur kann, den Phänomenen der Lebenswelt, der Arbeitswelt, den nicht minder kaputten Welten, die dazwischenliegen. Wer das alles erfährt, strebt nicht nach Gemeinschaft. Wie könnte er? Die Lage ist hoffnungslos, und die Nihilprosa dieser „Dreckswelt“ vergegenwärtigt dem Leser eben diese katastrophale geschichtliche Lage. Grausam der Gedanke, dass sie gerade beginnen, diese Lage in die Sphäre der Künstlichen Intelligenz zu transformieren. Es kann nur schlimmer werden.
Böckelmann: Das ist interessant. Bei der Vorbereitung auf dieses Gespräch bin ich mehrfach darauf gestoßen, welch gewaltigen Einfluss das Vorbewusste auf Reden und Schreiben ausübt. Alles schriftlich Niedergelegte kann von KI abgespeichert, verarbeitet und genutzt werden. Aber das Vorbewusste und Ungesagte entzieht sich dem Zugriff der Maschine. Das ist unser kleines Geheimnis. Wir können es nur teilweise lüften. Die bekannten Arten der Verdrängung wurden analysiert, und wir glauben, Herr unserer selbst zu sein. Großartig. Doch es entstehen ganz neue Arten von seelischem Wildwuchs. Dunkle, ungeahnte Zonen. Denken wir an die großen politischen Debatten, in denen es keine Verständigung geben kann, die Massenzuwanderung, den Klimawandel, die Corona-Pandemie, den Ukraine-Krieg. Gelegentlich wird noch erbittert gestritten, doch niemals geschieht es, dass einer konzediert: „Was Sie sagen, leuchtet mir ein. Ich ändere meine Haltung.“ Nein, der Schlagabtausch führt stets nur zu weiterer Verhärtung der Fronten. Erweist sich einer als rhetorisch überlegen, gibt der andere keineswegs nach, nicht nur aus narzisstischem Trotz, sondern auch, weil er weiß, dass er noch andere gute Gründe für seine Meinung hat, die er gerade nicht geltend machen kann. Stillschweigende Vorstellungen, Wünsche und Ängste, die ihn zu seinen Themen, Lektüren und Positionen brachten. Oder verinnerlichte Raumkonzepte. Der linksliberale Filmemacher Alexander Kluge hat einmal bekundet, dass ihm in Tagträumen immer noch die Frontlinien des Zweiten Weltkriegs vor Augen stehen – der schrumpfende Umriss des deutschen Herrschaftsbereichs. Ein manisch wiederkehrendes Wagenburgmuster.
Bei den Aktivisten der „Letzten Generation“ vermute ich, dass sie von der Idee besessen sind, mit unwiderlegbaren wissenschaftlichen Argumenten das politische Personal Mores zu lehren. Sie üben Bezwingungsmacht aus. Und diese meine Vermutung wiederum nährt sich aus der Weigerung, infantilen Eiferern zu glauben.
Von Überzeugungen abbringen kann uns nur, was wir hautnah erleben. In manchen Fällen nicht einmal das. Die Eltern von Maria Ladenburger zum Beispiel blieben ihrer migrationspolitischen Haltung treu, auch nachdem die eigene Tochter von einem Migranten vergewaltigt und umgebracht worden war. Aber grundstürzende Ereignisse können feste Überzeugungen von einem Tag zum anderen ändern. Auf vorbewusste Weise.
Manescu: Ich habe damals einen katholischen Freund, der ganz öffentlich zu seiner Position stand, scharf dafür attackiert – durchaus auch unter der Gürtellinie. Auf meine antiklerikalen und persönlichen Angriffe hat er immer sehr freundlich und gelassen reagiert. Dann dachte ich darüber nach. Er schrieb mir eine Nachricht, auf die ich über ein Jahr lang nicht antwortete, weil ich erst einmal nachdenken musste. Und in diesem einen Jahr haben sich Dinge ereignet, die vollkommen unabhängig von ihm oder unserer Diskussion meine Position ins Wanken gebracht haben. Irgendwann habe ich ihm dann zurückgeschrieben, dass er Recht hatte. Es war der innere Prozess, der meine Haltung verändert hat, und seine Argumente waren wie Dejà-vus, die ich erst begreifen konnte, als der Wandel in mir bereits vollzogen war.
Böckelmann: Etwas Unerwartetes geschieht, und stillschweigende Annahmen erweisen sich als falsch. Großes Entsetzen. Freunde finden sich unversehens als Gegner wieder und erkennen in der jahrelangen guten Zusammenarbeit nun Taktik, Täuschung, Theater. Was, so einer bist du? Du hast dich mit radikalen Thesen aufgespielt, doch jetzt kommt ans Licht, dass du ein Traumtänzer bist. In diesem Sinne hoffe ich auf unerwartete Einschläge. Ende 2015, Anfang 2016 war es eine Erlösung, dass plötzlich Klarheit herrschte.
Röcke: Das sind aber Ereignisse, die in alle Richtungen irgendetwas auslösen können. Einige profitieren jetzt, dann kommt irgendein anderes Ereignis, was ganz ähnlich gelagert ist oder nur eine leichte Akzentverschiebung verursacht, und schon spielt das anderen in die Karten. Ein Krieg zwischen anderen Parteien, nicht Russland gegen Ukraine, und plötzlich sind andere, ganz andere getriggert und greifen ein. Die Geschwindigkeit dieser Bewegungen steigern oder zumindest den Hochgeschwindigkeits-Level halten, das ist das Wesentliche – so ist es am Wahrscheinlichsten, dass es zu Veränderungen oder weiteren Verschiebungen kommt. Taktisches Vorgehen ist wirksamer als ein Handeln nach Überzeugungen. Zugrunde richten kann sich eine Partei dann immer noch von innen heraus …
Ist die AfD eine woke Partei?
Böckelmann: Ja, das ist die Frage: Wer profitiert davon? Wer greift das auf und münzt das politisch um? Oder aber es tut sich gar nichts. Jedenfalls können wir völlig gelassen bleiben. So viele Leute, die noch vor Kurzem andere Leute als Nazis beschimpft haben und plötzlich selbst als Nazis gelten … Das ist kostenfreie politische Therapie. Ich finde das herrlich. Für mich war der „Kampf gegen rechts“ schon immer ein Phantasma, ein Alibi für Realitätsflucht. Nichts hat mich davon abgehalten, AfD zu wählen.
Röcke: Sie wählen?
Böckelmann: Wahrscheinlich wähle ich sie auch weiterhin. Als das kleinere politische Übel. Weil sie als einzige Partei glaubwürdig die Massenzuwanderung unterbinden will. Zugleich ist mir klar, dass auch in unserer hochgeschätzten Schwefelpartei eine woke Gesinnung wuchert.
Manescu: Was bezeichnen Sie denn als „woke“? Ich muss gestehen, so wie Sie das Wort „woke“ in Bezug auf diese doch sehr bürgerliche Partei verwenden, ist für mich die Zuschreibung „boomeresk“ angebrachter. Der Begriff „woke“ hat eine zerstörerische Absicht: Alles und alle müssen dekonstruiert werden.
Böckelmann: Unter „Wokeness“ verstehe ich praktizierte Hypermoral. Als die globalen Konzerne sich mit ihr schmückten, wurde sie zur Weltmacht. Auch die AfD ist von ihr angekränkelt. Sie geriet von Anfang an in die Inquisition – „völkisch“, „rechtsextremistisch“, „verfassungsfeindlich“, „demokratiefeindlich“, „rassistisch“ – und fand keine Mittel, um aus der Defensive heraus und in die Offensive zu kommen. Dazu hätte sie die Anwürfe mit eigenen wuchtigen Programmzielen kontern müssen: europäischer Patriotismus gegen die Übergriffigkeit der Großmächte und des Islams, Raumbindung und Eigensinn gegen Entgrenzung, Naturschutz als Heimat- und Klimaschutz. Warum ließ man die Moralkeulen von gestern und vorgestern nicht ins Leere sausen? Weil die Wortführer auf der Leitungsebene der Partei großenteils selbst mit dem Rosenkranz der „westlichen Werte“ in den Gebetsmühlen der alten BRD sozialisiert worden sind. Fleisch vom Fleische der CDU/CSU. Nein, wir sind nicht intolerant! Nein, wir sind nicht islamfeindlich!
Manescu: Leicht gesagt. Aber wie hätte die AfD ihre Wählerbasis gefunden?
Böckelmann: Gegründet wurde die AfD als nationalliberale Partei mit der Abkehr von Euro und EU. Ihr Programm hätte man mit der Losung „Make Germany Great Again!“ kennzeichnen können. Wieder groß werden mit der Rückkehr zur D-Mark. Aber die AfD blieb eine Nischenpartei, bis ihr mit der Massenzuwanderung 2015 eine ausbaufähige Wählerbasis in den Schoß fiel. Der überraschende Erfolg schlug die Partei in Bann. Fortan kreiste die interne Auseinandersetzung um die Frage, wie der Zuspruch in der Wahlbevölkerung bewahrt und vergrößert werden könnte. Wie in den anderen Parteien. So ist aus der AfD eine opportunistische Nationalpartei geworden. Seit 2015, 2016 probiert sie praktisch verschiedene Anhängerschaften durch und greift zu, wenn eine neue Spezies von Unzufriedenen auftaucht. In der sogenannten Corona-Krise ergriff sie die Chance, sich als antiautoritäre Partei zu inszenieren.
Manescu: Das hat mir etwas zu lange gedauert, bis sie endlich das Antiautoritäre angenommen haben.
Böckelmann: Am Anfang, als COVID-19 epidemisch wurde, erschrak man vor der Bedrohung der Volksgesundheit. Die erste Reaktion war: In Notzeiten müssen wir zusammenstehen! Dann hieß es plötzlich: Die Regierenden nutzen die Gelegenheit, um mit ihren Maßnahmen die Freiheit des Einzelnen einzuschränken. Wehren wir uns gegen die Weltherrschaftspläne der Pharmakonzerne und das Impf- und Überwachungsregime von Bund und Ländern und des RKI.
Röcke: Es gab auch diese Leute, beinharte Etatisten, oft mit Preußen-Fimmel, die gerne von Staat und Gemeinschaft gesprochen haben, die mangelnde staatliche Durchschlagskraft beklagten, nach der Wehrpflicht sich sehnten, weil sonst alle schwul werden und so weiter, aber während Corona plötzlich den Außenseiter in sich entdeckten und fortan über den Verlust irgendwelcher Grundwerte klagten. „Huch, da wird mein Ich an der Entfaltung gehindert.“ Mir kommen heute noch die Tränen. Ganz ähnlich an der Ostfront: Als das weiße Kreuz auf den Ukraine-Panzern auftauchte, gab es von ganz besonders unabhängigen Meinungsäußernden umgehend den Vergleich mit dem Balkenkreuz der Wehrmacht – untrennbar verbunden mit dem Hinweis auf die drohende Wiederholung des Unsäglichen. Überhaupt diese „Grundwerte“: Das ist der nächste Anführungszeichenbegriff.
Manescu: Das war aber argumentativ kein schlechter Schachzug, in einer linksliberalen Gesellschaft gerade auf so etwas wie Grundwerte oder Grundrechte zu pochen. Zum Beispiel der Spruch „my body my choice“, das ist natürlich ein linker Spruch, aber den haben die Impfgegner auch für sich verwendet, um der Gegenseite unter die Nase zu reiben: Wenn es darum geht, Menschen zu töten, Kinder im Mutterleib umzubringen, dann soll das ein Grundrecht sein, wenn es aber darum geht, ob ich entscheide, was mir in den Arm gejagt wird, dann gilt das plötzlich nicht mehr. Für mich ist jemand nicht gleich bürgerlich oder woke oder individualistisch, wenn er auf seine Freiheit oder seine Meinungsfreiheit pocht, denn das sind ja die letzten Dinge, die uns von diesem System gerade noch zugesprochen werden.
Böckelmann: Es überrascht, wenn sich eine erklärt konservative Partei, die für den Ernstfall Volkssolidarität, Disziplin, Verzicht und Opferbereitschaft einfordert, an die Spitze einer antiautoritären Bewegung setzt. Doch warum nicht? Gibt es einen besseren Weg, um den Faschismusverdacht endgültig auszuräumen? Aber bitte im Rahmen eines zukunftsfesten Gesamtkonzepts, das auf die absehbaren Krisen und Kämpfe in der multipolaren Weltordnung ausgerichtet ist!
Manescu: Inwiefern halten Sie es für woke, wenn sich eine Partei für die letzten Freiheitsrechte der Leute einsetzt?
Böckelmann: In ihrer Wahlwerbung setzt die AfD auf zwei zentrale Motive, das große Pathospostulat „Freiheit“ und die anbiedernde Empfehlung einer Rückkehr zur „Normalität“. „Normal“ ist erst einmal der herrschende Konsens, weit über den gesunden Menschenverstand hinaus, jener Konsens, den TUMULT unter Aufbietung aller Geisteskräfte zu stören versucht. Die allgegenwärtige Freiheitsformel ist der Inbegriff aller Werbebotschaften und aller Versprechen, die der Zeitgeist sonst noch gibt. Und der Identitätspolitik aller Gruppen, die Sonderrechte für sich einfordern. „Freiheit“ ist heute gleichbedeutend mit der Selbstbestimmung des Individuums. Das „Selbst“ ist ein Sklaventreiber. Es besteht auf der Disposition über tausend Möglichkeiten, damit es sich endlich entfalten kann. Das erfordert lebenslange harte Arbeit, und es zieht ewigen Aufschub nach sich. Und das Selbst will kein bemitleidenswertes Bild abgeben, sondern einen Auftritt haben, der im Wertschätzungswettbewerb mithalten kann. Das Streben nach Individualisierung fördert die Gleichschaltung.
Manescu: Das Wort Selbstbestimmung hat mich schon immer irritiert. Für mich war die Selbstbestimmung, wortwörtlich gelesen, die pure Anmaßung. Ich bestimme über mein Geschlecht, nicht meine Chromosomen. Wenn diese Art von Selbstbestimmung synonym mit dem Wort Freiheit genutzt wird, zucke ich innerlich zusammen. Das Streben nach Entscheidungsfreiheit entspringt ja der ureigenen menschlichen Eigenschaft des freien Willens, an der ich nichts Anmaßendes finden kann. Es ist nur ein scheinbares Paradoxon, dass einen der Wunsch nach Selbstbestimmung die meiste Zeit des Lebens doch zum Konformismus zwingt. Und Individualismus, sofern er nicht mit einer Absage an die soziale Verträglichkeit einhergeht, macht eben anfällig für die Verführungen des Systems. Zumindest ist das häufig zu beobachten.
Böckelmann: Natürlich muss jede Partei den Wähler als Individuum ansprechen. Aber eben, ich wiederhole mich, im Rahmen eines politischen Gesamtkonzepts. Freiheit um ihrer selbst willen ist eine marktgängige, nichtssagende Phrase. Befreiung, gemeinsame Befreiung, wovon? Befreiung wofür? Zur Freiheit von anonymen Mächten gehört die Fähigkeit, sich klug belehren zu lassen. Willkür ist infantil.
Bindungen: An was? An wen? Wozu?
Manescu: Es ist auch nicht gesund, wenn man sich von absolut allen Bindungen freimachen will. Das Selbstbestimmungsgesetz zielt ja auf die totale Entscheidungsfreiheit, jenseits jeglicher logischen Hierarchien, auf denen sich die Vernunft stützt. Das führt auf direktem Wege in eine Wüste der Orientierungslosigkeit.
Böckelmann: Es ist doch idiotisch, sich am eigenen Körper nach Identitätswünschen herumschnipseln zu lassen. Ich kann als Mann ja auf höchst feminine Weise durchs Leben gehen, als Frau mit betont virilem Gehabe und Habitus.
Manescu: Es ist dennoch ernst zu nehmen. Das wäre ein typisch konservativer Fehler, diese Dinge als Witz abzutun und sich darüber noch lustig zu machen. Denn diese Dinge sind viel ernster, und sie gehen eben in Richtung Transhumanismus, womit wir am Ende wieder bei Kurzweil wären.
Röcke: Weniger lustig, aber offensichtlich: Weder bei Konservativen noch bei Transen weiß man, woran man ist. Man ahnt vieles, beobachtet ein bisschen, der Rest ist ein großes Fragezeichen.
Böckelmann: Übrigens, nach den vorliegenden Statistiken wollen weit mehr Mädchen zu Jungen werden als umgekehrt.
Manescu: Ja, das ist interessant. Die Jungen, die zu Mädchen werden wollen, die bereuen eine Transition insgesamt tatsächlich weniger häufig als andersherum. Es sind Mädchen, die zu Jungs werden wollen und das dann am meisten bereuen – ausgerechnet in unseren feministischen Zeiten. Wo Mädchen alles sein können, was sie wollen.
Böckelmann: Woran liegt das?
Manescu: Es liegt daran, dass der Feminismus eine absolute Lüge ist und schon immer eine war. Es gab noch nie einen guten Feminismus, denn er hat schon immer damit gearbeitet, die gesunde Ordnung auf den Kopf zu stellen. Aber wie jede gute Lüge, ist auch der Feminismus für eine kleine Wahrheit gut: Warum sollte sich eine Frau von einem Mann leiten lassen, wenn der Mann keine gute, keine gute führende Rolle spielt, wenn er vom Glauben abgefallen ist, wenn er nicht mehr an den Tugenden arbeitet? Warum sollte sich die Frau dann von ihm unterdrücken lassen?
Böckelmann: Der Feminismus ist von Grund auf eine Lüge?
Manescu: Gleichberechtigung oder Gleichstellung von Mann und Frau ist eine Lüge, weil Männer und Frauen nicht gleich sind und niemals gleich sein werden. Die Tendenz ist eindeutig: Eine Frau ist die Verfechterin des Lebens, sie bringt Kinder auf die Welt und ist diejenige, die mit beiden Beinen auf dem Boden stehend dafür sorgen muss, dass das Kind überlebt, das sie zur Welt gebracht hat.
Böckelmann: Ja aber diese Unterschiedlichkeit benötigt heute Hilfestellung. Je mehr Lebensbereiche von Frauen erobert werden, desto wichtiger scheint es zu sein, Frauen speziell zu benennen. Je ähnlicher sich die Geschlechter werden, desto eifersüchtiger achten sie auf exklusive Etikette.
Manescu: Als arbeitende Frau werde ich gerne vor den feministischen Karren gespannt, als Kind von Migranten auch sehr gerne vor den linken Karren, und von beiden halte ich nichts. Früher wurde mir von sich politisch eher links verortenden Leuten immer wieder gesagt: Du bist bei der Identitären Bewegung, dabei sind deine Eltern doch gar nicht deutsch! Das habe ich von keinem Identitären jemals zu hören bekommen. Lustig.
Böckelmann: Nebenbei, die IB war ein europäisches Phänomen. Im Weltmaßstab betrachtet, sind die europäischen Völker ohnehin enge Verwandte, die allermeisten europäischen Sprachen ebenfalls. Auf der multipolaren Erde muss sich Europa mit seiner kulturellen Eigenart behaupten, und zu dieser gehört auch die vorbewusst spürbare Sprachverwandtschaft. Es ist kaum zu glauben, aber noch vor fünf- bis viertausend Jahren konnten sich alle Europäer sprachlich direkt verständigen. Nach der Einwanderung von Völkerscharen mit indogermanischen Idiomen. Siehe die „Sprachkonserven“ in den Fluss- und Bergnamen. Die strukturähnliche Grammatik, der Gebrauch von Präpositionen und die Kultivierung bestimmter Begriffsfelder bezeugen eine gemeinsame Welt-Anschauung. Im globalen Vergleich der großen Sprachgruppen sind etwa das Polnische, das Deutsche, das Rumänische und das Albanische nicht viel mehr als Dialekte.
Röcke: Das alles kümmert die gelernten Bürger nicht. Die wollen was haben vom prallen Leben. Die wollen alle ihr kümmerliches Ich ein bisschen reizen. Das wars. Man muss sich immer wieder klarmachen, wie heruntergekommen die zeitgenössischen Deutschen sind. Wenn ich durch die bunten Kloaken der BRD stapfe, durch Bonn zum Beispiel, erfahre ich dieses sumpfige Chaos, diese blubbernde Durchmischung ungeschützt. Die Verhässlichung aller ist unübersehbar. Verhässlicht durch Vielfalt. Alle verlieren. So viele hübsche orientalische Frauen, all die afghanischen Beauties, die haben keine Chance. Die Verschleierungsprinzipien werden da völlig überbewertet, die verhüllen viel weniger, als sie locken – übrigens bei Orthodoxen ein ganz ähnlicher Effekt. Diese totale Verbuntung der Öffentlichkeit wird von den allermeisten Deutschen nicht als unangenehm empfunden, bei denen ist jedes Sensorium gestört oder gleich verrottet. Lediglich ein hoher Anteil Ausländer entzieht sich dieser Ekel-Gesellschaft durch bewusste Abkehr. Das ist verständlich, denn Schönheit braucht einen geordneten Raum der Entfaltung – und dieser Raum ist nicht die BRD-Gesellschaft mit ihren Spulwurm-Normen. Das Schönheitsempfinden ist viel unpersönlicher geprägt, als leicht verwirrte Anywheres behaupten. Hier reicht es bei den meisten ohnehin nur zu einem kindischen Ich-Fetisch. Ein kranker Spuk. Aber bitte, ich schreibe bloß Bücher.
Böckelmann: Das erlebe ich ganz ähnlich. Doch abgesehen davon entsteht ein politisch tragfähiges Gemeinschaftsgefühl in Europa nicht durch Studien, Symposien und Konferenzen, nicht durch Vielfaltsfeiern oder Respektschulung und nicht durch gesamteuropäische Regelungen, sondern nur in gemeinsamer Gegenwehr. Im Widerstand gegen die fortschreitende Islamisierung und gegen die Anmaßung der Großmächte, Russland und die Vereinigten Staaten inbegriffen. Allerdings ahne ich, dass wir uns erst dann ernstlich gegen die Islamisierung auflehnen werden, wenn es schon zu spät ist.
Röcke: Wir sind immer noch viel zu früh. Wenn die Schmerzen einsetzen, beginnt erst das Training.
Manescu: Das wird natürlich kein Parteipolitiker gerne hören, aber in meinen Augen gibt es nichts mehr zu halten. Leider wissen wir nicht, wie tief der Abgrund ist und wie schnell es abwärtsgehen kann mit uns. Es zählt dann rechtzeitig nur eines – die Rettung in eine Parallelgesellschaft.

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