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MYTHOS UND THYMOS – Der Schriftsteller Boris Preckwitz im Gespräch


Befragt durch den in Polen lehrenden Germanisten Karsten Dahlmanns, sinniert Boris Preckwitz in einem kultursatten Rundumschlag über Niedergänge aller Arten: Von der schleichenden Verkitschung des Poetry Slam über die gefällige Selbstverzwergung der Evangelischen Kirche bis hin zu jenem rührseligen Meinungs- und Haltungsjournalismus, der nicht nur Claas Relotius einen kontrafaktischen Königsweg ebnete.

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Was ist – oder war – für Sie der besondere Reiz an Poetry-Slam-Veranstaltungen?

Als ich dem Poetry Slam 1995 begegnete, war ich begeistert von der Aussicht auf neue literarische Verfahren, im avantgardistischen Sinne. In performativer Echtzeit. Der Slam stellte einen klaren Bruch mit der damaligen deutschen Gegenwartsliteratur dar, die überwiegend von der abstrahierenden Kultur des Suhrkamp-Verlages geprägt war. Da war das das Prinzip der Mündlichkeit von Literatur, des Spoken Word, geradezu eine Revolution. Unmittelbare Gegenwärtigkeit. Ich sah den Slam als besonderen Aushandlungsprozess zwischen Künstler, Publikum, Jury und Moderatoren. Ich habe das einmal die »Ästhetik der Interaktion« genannt. Der Dadaist Raoul Hausmann nannte es einmal »PRÉsentismus«. In der Rückschau muss ich sagen, diesem Innovationspotential hat der Slam sich verweigert. Er ist stattdessen immer tiefer in einer konsumistischen Popkultur versackt. Man kann im Slam, wenn man die Sache richtig angeht, sehr schnell sehr große Fortschritte in der Performativität von Literatur machen. Nur, es gibt eine entscheidende Schwäche beim Poetry Slam: Seine Aktivisten hören schon nach zwei bis drei Jahren auf, sich literarisch weiter zu entwickeln. Sie bleiben dort stehen, wo die eigentliche Arbeit eines Schriftstellers überhaupt erst beginnt. Wenn sie einmal Erfolg auf der Bühne hatten, bleiben sie bei diesem vermeintlichen Erfolgsrezept. Oder sie ahmen andere Slammer nach, die schon vorher beim Publikum gut ankamen. Sie nehmen einen Anfangserfolg bei der Masse oder ein Facebook-Profil voller Selfies als Beleg literarischer Befähigung, die sozialen Medien machen es leicht, sich in der eigenen Bedeutung zu täuschen. Bekannt geworden sind allenfalls Comedians, die die Slam-Szene benutzt haben, um ihren Bekanntheits- und Marktwert zu steigern. Das heißt, die Publikumswirksamkeit des Formats Slam arbeitet eigentlich einer Literarisierung genau entgegen, das Erfolgsrezept kehrt sich um und wird zum Fluch.

Wie würden Sie Ihre Jahre in der Slam-Szene beschreiben?

Ich habe von 1996-98 zunächst die Slams in Hamburg mitveranstaltet, von 2000 bis etwa 2004 die Slams in Berlin und Potsdam und dazu noch zwischen 2002-2006 die jährliche Slam-Revue beim internationalen literaturvestival berlin. Vor allem dafür habe ich auch Slammer aus anderen Ländern eingeladen, die ich vorher auf Reisen kennengelernt hatte, aus den USA, England, Schweiz, Schweden, Frankreich, Polen, Niederlande, usw. Ich habe kleine Städtereisen immer gerne genutzt, um Kontakt zur dortigen Szene herzustellen und deren Poeten auf deutsche Bühnen einzuladen. Das fing schon 1998 an, als ich den amerikanischen Slam-Gründer Marc Smith aus Chicago nach Deutschland eingeladen und für ihn eine kleine Tournee nach Hamburg, Berlin und München organisiert habe. Ich hatte das Glück, schon 1997 an einem amerikanischen National Poetry Slam in den USA teilzunehmen, von daher wusste ich , wo die deutschen Szene fünf oder zehn Jahre später stehen würde. Es gibt nichts, was ich nicht aus Slams gesehen und gehört hätte, und mit dem Jahren wurde mir immer klarer: Der Weg zur Kunst führt nicht über die Slam-Szene. 2007 war ich dann schon selbst nicht mehr in der Szene aktiv. Allerdings sind meine skeptischen Erwartungen noch unterboten worden – in Deutschland hat sich der Slam von der Poetry emanzipiert und bringt fast nur Kurzprosa und Comedy Acts. Der Bildungshintergrund ist einfach entscheidend. Als gebürtiger Hannoveraner mag ich natürlich eine Art von Künstler-Typus, wie ihn Kurt Schwitters verkörpert. Ich kam ja von der Germanistik und Literatur zum Slam und habe den Slam wieder in Richtung Literatur verlassen. Ich empfehle allerdings jedem Schriftsteller, sich einmal auf Poetry Slams auszuprobieren, auch durchaus mit Texten gegen das Publikum zu arbeiten. Man muss sich das jeweils Beste an progressiven Stilmitteln aneignen und dann die Slam-Szene schleunigst wieder verlassen.

Haben Sie Kontakte zu polnischen Poetry-Slam- oder Theaterszene?

Ich hatte 2003 eine Einladung vom Kulturzentrum Dom Norymberski in Krakau zu einer Slam Poetry Präsentation. Dabei habe ich auch Bohdan Piasecki kennen gelernt, der die junge Poetry Slam-Szene in Warschau und anderen polnischen Städten ins Leben gerufen hatte. Wir hatten danach noch länger Kontakt, ich bin dann auch in Warschau auf Slams aufgetreten und er bei meiner ilb-Slam Revue in Berlin.


Welche Erfahrungen haben Sie mit Ihren Stipendien als Stadtschreiber gemacht? Würden Sie diese Lebensform jüngeren Schriftsteller-Kollegen empfehlen?

Als angehender Schriftsteller sollte man sich auf jeden Fall um Stipendien bewerben. Nicht unbedingt deswegen, weil man mit einem etwaigen Preis Kontakte zu Verlagen bekommt. Entscheidender ist die Selbstdisziplinierung. Die Bewerbungsverfahren fordern dich als Schriftsteller, zwingen dich, dein geplantes Werk sowohl konzeptionell als auch als Text immer wieder auf den Prüfstand zu stellen. Also ruhig bewerben – manchmal ist man auch erst im fünften oder sechsten Versuch mit und an seiner eigenen Arbeit gereift. Jurys sind immer ein Stück weit Willkür. Problematisch sind die meisten Stipendien aus finanzieller Sicht. Sie decken kaum die Lebenshaltungskosten und Eigenversicherungen, meist muss man für die Stipendienzeit sogar die eigene Wohnung zwischenvermieten. Und wenn man Stipendien in Folge bekommt, ist es immer wieder eine große Herausforderung, die Übergänge ins Berufsleben zu managen. Ich hatte zwischen 2012-2014 vier Stipendien in vier verschiedenen Städten und ich habe davor, dazwischen und danach für insgesamt vier verschiedene Firmen und teilweise auch noch freiberuflich gearbeitet. Das war schon höhere Akrobatik. Gleichwohl, unbedingt bewerben! Es ist ein unschätzbares Gut, mit einem Stipendium über Monate im Grunde Tag und Nacht sein Schreibprojekt voranzutreiben, ein Werk kann immense Fortschritte machen. Es ist umso kostbarer, wenn man sein Leben ansonsten mit einem eigenen Beruf verdient und zum Schreiben sonst nur am Wochenende oder nach Feierabend kommt.

Sie waren im Jahr 2013 Stadtschreiber von Otterndorf. Wie beurteilen Sie die Vorgänge um Henryk M. Broder und den Johann-Heinrich-Voß-Preis der Stadt Otterndorf?

Als im Otterndorfer Stadtrat bekannt wurde, dass der Publizist Broder der nächste Voß-Preisträger werden sollte, haben Lokalpolitiker der SPD und der Grünen eine so massive Protest-Kampagne losgetreten, dass Broder auf die Entgegennahme des Preises verzichtet hat. Broder ist bei Linken nicht wohlgelitten, denn in seinen Kolumnen in der Welt und auf seinem Blog hat er immer wieder die Lebenslügen der Linken ironisch entlarvt. Aus seiner jüdischen Perspektive zieht er die Begeisterung der Linken für arabisch-islamische Zuwanderung infolge der Migrationspolitik Angela Merkels in Zweifel. In den Augen der Linken wurde er damit zu einem vermeintlich bösen Rechtspopulisten. Hier spiegelt sich im Kleinen, was Deutschland in den nächsten Jahren noch bevorsteht – die Linken wettern gegen einen nach ihrer Meinung drohenden Kulturkampf der Rechten. Ohne natürlich zuzugeben, dass sie seit 1968 selbst den Kampf um die kulturelle Hegemonie in den Kulturbetrieb getragen und diesen maßgeblich in seiner dominierenden Linksausrichtung bestimmt haben. Gerade in SPD-Milieus ist derzeit eine irrationale Verbissenheit zu beobachten, getragen von nackter Panik angesichts immer schlechterer Wahlergebnisse und Umfragewerte. Es gibt viele Beispiele, wo dezidiert linke Kulturschaffende, die von den öffentlichen Finanzförderungen linker Stadtverwaltungen, Landesregierungen oder Staatsmedien leben, wie auf Bestellung Aufrufe gegen einen von ihnen gefühlten »Rechtsruck« veröffentlichen. Es ist der typische Opfer-Diskurs der heutigen Linken, sich zu einer Art bedrohten Spezies zu erklären, während sie sich in Wahrheit in der Subventions-Nahrungskette höchst bekömmlich eingerichtet haben.

Gibt es für Sie ein Gemeinsames der Reaktionen auf Botho Strauß’ Anschwellenden Bocksgesang, Uwe Tellkamps Ausführungen im März 2018 und Ihr Engagement in der AfD?

Das ist eine ganz spannende Frage. Fangen wir einmal mit dem Ende der Frage an: Mein Entschluss, 2013 in die AfD einzutreten, war damals wirtschafts- und europapolitisch geprägt. Ein Widerstand gegen die Politik der Regierungen unter Merkel, die Rettungen fauler Banken mit Steuergeldern, die Hilfszahlungen an das staatsbankrotte Griechenland, die Abgabe zentraler nationaler Souveränität an irgendwelche EU-Behörden in Brüssel, die Auflösung eines konservativen Propriums, all das, was Merkel immer in absolutistischer Manier als »alternativlos« hinstellte. Niemand hätte damals auch nur geahnt, dass Merkel nur zwei Jahre später Deutschland und Mitteleuropa in eine noch gefährlichere Schieflage bringen würde – mit der weltweit verkündeten Grenzöffnung für Migranten und all dem, was dann folgte – Staatsversagen, Verwaltungsversagen auf allen Ebenen. Die Spaltung unserer Gesellschaft, die Spaltung der Länder Europas. Merkel verkörpert den Hobbesschen Leviathan auf seine schlimmste Weise – gerade indem sie politische Entscheidungen ohne Kabinettsbeschluss, ohne Mandat des Bundestages und ohne Volksabstimmungen durchzog, quasi absolutistisch, hat sie den Kampf aller gegen alle erst so richtig befeuert. Heutzutage weiß der gesamte islamische Staatengürtel von Marokko bis Pakistan, dass ein Mensch nur irgendwie über die deutsche Grenze kommen muss, um sich hier eine Duldung zu verschaffen. Und unsere Linken reden bereits begeistert von »Neubürgern« oder »neuen Deutschen«. Jetzt ein Sprung zu Botho Strauß: Ich muss ehrlich sagen, dass ich seinen Essay bei Erscheinen 1993 nur am Rande wahrgenommen habe. Zu hermetisch in der Sprache, zu wenig auf meinen damaligen Lebenskontext bezogen war mir der Text. Aber der Bocksgesang war Stachel im Fleisch des linken Kulturbetriebs und der Medien, ein Sakrileg, dass jemand überhaupt eine konservative Position zu vertreten gewagt hatte, ein Teufel, den man an die Wand malen konnte. Jetzt, zum 25-jährigen Jubiläum, wirkt der Text wie die Prophezeiung eines kulturellen Niedergangs, die nun Wirklichkeit geworden ist. Ganz unmerklich hat sich die Verflachung vorbereitet im Kapillarsystem der Gesellschaft in zigtausenden Zusammenhängen. Dann 2015 mit Merkels Grenzöffnung der Ausbruch – und seither eine andauernde Krise, ein Dauerfieber der gesellschaftlichen Diskurse. Eine vom Geist der 68er ausgelöste Autoimmunkrankheit der deutschen Kulturnation gegen sich selbst. Der linke Diskurs verfällt bei jeder gefühlten Bedrohung seiner Ideologie in konvulsivische Zuckungen – es kommt zu medialen Affekthandlungen gegen Andersdenkende, Narrative und Framings »gegen Rechts«, gleichsam exorzistische Gewaltakte, mit denen Kritiker aus dem Raum der Öffentlichkeit vertrieben und unmöglich gemacht werden sollen. Genau das ist passiert, als der Romanautor Uwe Tellkamp bei einer öffentlichen Diskussion mit dem Lyriker Durs Grünbein in Dresden darauf hinwies, dass das deutsche Asylrecht für die gegenwärtige Flüchtlingsmigration nicht der richtige Anwendungsfall sei. Die gesamte linke und linksliberale Medienöffentlichkeit hat auf Tellkamp eingeprügelt – natürlich immer unter dem Deckmäntelchen sogenannter »Faktenchecks«, die gängige Praxis eines maximalistischen Linksmoralismus. Als sich mit dem Erstarken der AfD ab 2016 die linke Hysteriewelle in Deutschland immer mehr aufbaute, gab es ebenfalls in meinem literarischem Umfeld Angriffe gegen mich und meine Arbeit, von Faschismusvergleichen über Hetzkommentare in sozialen Netzwerken bis zu Verlagen, die sich öffentlich gegen meine Bücher stellen.

Sie haben mit Ihrem Entschluß, sich in der AfD zu engagieren, einen – um leicht frotzelnd John Rawls zu zitieren – Overlapping Consensus verlassen. Wie würden Sie diesen Konsens beschreiben?

Ich nenne ihn Linkskulturalismus. In vielen Gesellschaften sind seit der Jahrtausendwende zwei unterschiedliche Internationalismen miteinander verschmolzen, der Internationalismus des Liberalismus und der Internationalismus der Linken, beispielweise verfolgen beide Seiten eine ähnliche Migrationspolitik. Die Wirtschaftswelt betreibt ihre Globalisierung ohne jedes Kulturinteresse, sie will lediglich geringstmögliche Arbeitskosten und eine höhere Skalierbarkeit ihrer Produkte und Gewinne auf größeren Absatzmärkten. Die Linke, ohne jede wirtschaftliche Macht, arbeitet sich derweil am ideellen Überbau ab, womöglich in der Hoffnung auf ein migrantisches Subproletariat als neuem revolutionären, weil kulturell entwurzelten Subjekt in der Zukunft. Kulturpolitisch äußert sich der Linksliberalismus in einem Linkskulturalismus, der unter Stichworten wie Interkulturalismus oder Transkulturalität einen Kampf gegen historisch gewachsene proprietäre Kulturen führt. Im ersten Schritt als ideologische Dekonstruktion, im zweiten Schritt als Neukonstrukt. Irrsinnigerweise richtet sich die Forderungen nach kultureller Selbstauflösung immer nur an die Länder Europas. Dabei ist der Linkskulturalismus sowohl inkonsistent wie kontradiktorisch, denn er spricht den kulturell oft schwächer ausgebildeten Minoritäten eine Identitätspolitik zu, die er gleichzeitig der ausgeprägten Leitkultur verweigert. Ich bin für eine solche Leitkultur auf der Basis des eigenen historisch gewachsenen Kulturerbes.

Ihr Sonderdruck Hysterie der Heilserregten erschien im letzten Jahr. Sie bezeichnen die Form des Gedichts als Langgedicht. Wie viel Arnold Gehlen, wie viel Helmut Schelsky steckt in Boris Preckwitz?

Bevor das genannte Langgedicht als kleines Chap-Book erschien, habe ich es zwischen November 2016 bis Juli 2017 in rund 30 Etappen und Bearbeitungsschritten auf meinem Blog Militanz der Mitte fortgeschrieben, oft unter dem quälenden Eindruck der Tagespolitik. Mein Ansatz war, die grotesken gesellschaftlichen Verwerfungen nachzuzeichnen, die sich nach Angela Merkels Migrationspolitik ab Herbst 2015 vollzogen. Das Grundmotiv ist die »verkehrte Welt«, die Verdrehung einer gesellschaftlichen Ordnung, in der Fahrlässigkeit, Torheit, Feigheit, Opportunismus, Nichtstun, Versagen und Lüge zum politisch forcierten Normalzustand werden. Die literarische Referenz gilt dabei dem Genre der Narrenliteratur, besonders dem genialen Volksbuch Das Narrenschiff von Sebastian Brant, ein Zyklus aus Langgedichten, erschienen 1494. In diesem Buch wird der Zerfall des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und die Zerrüttung aller Instanzen bis hin in die Individualpsyche hinein als gewaltiges Panorama beschrieben. Alles, was man über die Deutschen und Deutschland wissen muss, lässt sich bereits in diesem halbjahrtausendalten Buch ablesen. Das Phänomen des Narrenstaates scheint tatsächlich ein deutsches Spezifikum zu sein – der Eulenspiegel, das Lalebuch über die Stadt Schilda, das Schlaraffenland, der Grobianus, der Simnplicissimus, die Grotesken der Romantik… dieses Land ist zuweilen ein Land des sarkastischen Lachens über den eigenen Wahnsinn. Das bekannte Murphy'sche Gesetz – demnach alles schiefgeht, was nur schiefgehen kann – sollte man in Zukunft als das Merkelsche Gesetz bezeichnen. Also, der Titel spielt natürlich auf zwei Bücher konservativer Autoren des 20. Jahrhunderts an. Auf Arnold Gehlens Moral und Hypermoral von 1969 und auf Helmut Schelskys Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen von 1975. Sie sahen voraus, dass mit dem linken Kulturkampf der 68er eine Meta-Politik des Moralisierens einziehen würde. Die Spätfolgen dieser Linksdrift brachen 2015 auf, als jeder Versuch, den eintreffenden Migrationsschub sachlich zu diskutieren, sofort unter Faschismusverdacht gestellt wurde. Selbst die linke Politologin Chantal Mouffe hat dieses Phänomen in ihren jüngsten Büchern dargestellt. Sie schreibt, dass seit der Jahrtausendwende eine liberalistische Linke entstanden ist, die sich selbst als Gutmenschentum verortet und jede Kritik an ihrem Internationalismus als Ausgeburt des Bösen darstellt. Dadurch verrückt die Linke den Wettstreit politischer Gegner um Hegemonie hin zu einem unversöhnlichen Antagonismus im Sinne des Freund-Feind-Schemas von Carl Schmitt. Auch eine Form des Irrwitzes: Die Linke setzt mit ihrer Politik genau jene als rechts geschmähten Geister ins Recht, gegen die sie mit dem Anspruch einer vermeintlich besseren Wahrheit anzutreten beabsichtigt. Was mich betrifft: Mit Schelsky habe ich meine Mühe, was im Wesentlichen mit seinem entsetzlich umständlichen Argumentationsstil zu tun hat. Gehlen finde ich da präziser. Überhaupt: viele der Autoren aus dem rechten Lager, auch Gottfried Bann oder Ernst Jünger haben ja diesen fast klinischen Blick, dieses laserartige Abtasten der Menschen- und Gesellschaftsverfassung, die Skepsis angesichts der Welt. Ich begebe mich zuweilen ganz gerne in diese Kältekammer des Denkens, es regt meinen eigenen Gedankenkreislauf an.

Bei welchen Gelegenheiten tun Sie das?

Ein aktuelles Beispiel: Mich beschäftigt sehr intensiv der Zusammenhang zwischen Poesie und Politik, zwischen Kunst und gesellschaftlicher Hegemonie. Hier schreibt nun Gehlen, etwa in Zeit-Bilder, dass Kunst dafür sorgt oder sorgen soll, dass sich die Institutionen der Macht im Inneren des Menschen abbilden, dass die Kunst als Teil eines Führungssystems die Macht repräsentiert, während die Macht zugleich darauf drängt, sich in das Bewußtsein des Menschen zu prägen. Das ist nun im Grunde eine Position, die sich schon in der Kulturpolitik des Bolschewismus findet, und gerade auch aktuell in Deutschland, wo der zu 99% linke Kulturbetrieb gerade mit aller Macht das Lied von Migration, Diversität und einem EU- und UN-Antinationalismus in die Köpfe drischt. Hingegen schreibt der Dichter Gottfried Benn in seinem Essay Dorische Welt von 1933 – einem Text, der Benns Anfangssympathie für den Faschismus spiegelt – dass die Macht nicht wirklich in die Kunst übergehen könne, die Kunst bleibe die einsame hohe Welt, die ganz eigengesetzlich nichts als sich selber ausdrücke. Das ist ein Autonomieverständnis, dass Benn nun wieder ausgerechnet mit einem Linksphilosophen wie Theodor W. Adorno gemeinsam hat. Also, die Frontverläufe sind nicht gerade übersichtlich.

Beschreiben Sie uns das Verhältnis von Lyrik und Macht.

Ich selbst sehe politische Lyrik nicht auf einer Ebene der Autonomie gegenüber der Macht, sondern auf einer Ebene der Isonomie mit der Gesellschaft. Schon der mythische spartanische Gesetzgeber Lykurg soll Dichter wie Terpander oder Thaletos beauftragt haben, seine Vorstellungen über die staatliche Wohlordnung (Eunomia) im Volk populär zu machen. Das allerbeste Beispiel ist aber die Eunomia-Elegie des athenischen Staatsmanns Solon, in der er seine geplante Verfassungsreform begründet. Er beschwört darin die Polis Athen als politisches Narrativ – als Mythos – und legitimiert sich als Sprechender durch seinen affektiven Seelendrang – den Thymos. Für mich ist diese Eunomia-Elegie des Solon das erste wirklich politische Gedicht der Menschheit, weil es bereits vom demokratischen Bürger her gedacht ist. Mythos und Thymos, das sind für mich die beiden Säulen der politischen Lyrik.

Wie steht es Ihrer Auffassung nach um die Meinungsfreiheit in der Bundesrepublik Deutschland?

Von der persönlichen Meinungsfreiheit kann im Grunde jeder Gebrauch machen. Anders ist es in dem Raum der sogenannten Öffentlichkeit, also in der gesellschaftlichen Arena mit ihren Themensetzungen, mit ihrer Talkshow-Kultur, den politischen Agenden und Meinungskorridoren. In den deutschen Medien gibt es eine linksliberale bis linksautonome Meinungsherrschaft und Meinungsmache. Andersdenkende kommen in dieser Arena entweder gar nicht zu Wort oder nur in einer verkürzten oder tendenziös bewerteten Form, die ihre Anliegen diskreditieren soll. Natürlich spielt dies auch wieder ins Private zurück – wer fürchten muss, mit seinen Ansichten nicht dem »Erlaubten« zu entsprechen, wird sich auch im Freundeskreis oder bei der Arbeit nicht mehr frei äußern. Dieser Zwang ist gerade noch den Bürgern, die in den östlichen Bundesländern den Sozialismus der DDR erlebt haben, in böser Erinnerung. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen ARD und ZDF sind in ihrer Regierungshörigkeit und Propaganda nicht mehr weit von den ehemaligen Sendern DDR1 und DDR2 entfernt. Es gab in den letzten Jahren einmal Untersuchungen über die Parteipräferenz von Journalisten, dabei überwogen linke Journalisten ihre konservativ-bürgerlichen Kollegen mit einem Verhältnis von 3:1 bis 4:1 – da kann man sich vorstellen, welche Politik explizit oder durch die Blume in den Medien herbeigeschrieben wird. Angela Merkels Politik (Energiepolitik, Familienpolitik, Verteidigungspolitik, Migrationspolitik usw.) war im Grunde auch eine Willfährigkeit gegenüber der grün-roten Medientendenz, denn sie hat ihre eigene Partei von jeglicher konservativer Programmatik entkernt. Und obwohl sich der deutsche Journalismus nach 1945 dem amerikanisches Modell des »informierenden Journalismus« verpflichtet hatte, ist er wieder zum »belehrenden Journalismus« der 1920er Jahre zurückgekehrt. Hinzu kommt eine Tendenz aus dem sogenannten »konstruktiven Journalismus« – dieser will eine psychologisch positivierende Wirkung erreichen. In der Flüchtlingskrise ab 2015 hat man gesehen, wie die deutschen Medien eine einseitig positive Darstellung der Migranten vornahmen. Die Medien lernen auch nicht aus ihren Fehlern… einige Beispiele aus den letzten Jahren: sie haben natürlich verkündet, dass Großbritannien nicht aus der EU austritt, dass Donald Trump nie Präsident würde, dass Russland durch die westlichen Sanktionen in den Ruin getrieben würde, dass eine Partei wie die AfD nicht in den Bundestag kommen würde – und jedes Mal ist es in der Realität genau anders gekommen, als die Medien es sich in ihren Wunschvorstellung und Filterblasen herbeischreiben wollten. In den zentralen politischen Fragen lagen die deutschen Medien immer falsch… und sie machen genauso weiter. Medien unterstützen NGOs und zivilgesellschaftliche Gruppen aus dem linken Spektrum. In den sozialen Medien werden die ersten Zensurgesetze gegen tatsächliche oder vermeintlich Hate Speech durchgesetzt. In dem neuen UN-Migrationspakt sollen sich die unterzeichnenden Staaten dazu verpflichten, dass über das Thema Migration in Zukunft nur noch positiv berichtet wird. Wenn man allein auf die handwerkliche Arbeit der Medienberichte achtet, fällt auf, dass in den letzten Jahren die Trennung zwischen sachlichem Artikel und meinungsgeprägten Kommentar aufgelöst worden ist. Insbesondere in der Berichterstattung über den sogenannten Rechtspopulismus wird mit allen denkbaren Tricks und Kniffen gearbeitet, mit Unterstellungen, falschen Zuschreibungen und Framings, selektiven Bildausschnitten, selektiven Zitaten, den vermeintlich »neutralen Experten«, deren linke Parteilichkeit nicht transparent gemacht wird und vielem anderen mehr. Es ist erschreckend, mit welcher Abfälligkeit und Verhetzung deutsche Medien etwa Donald Trump darstellen oder über die Politik in Regierungen in Polen und Ungarn berichten. Es gab viele Fälle, wo Intellektuelle wie Rüdiger Safranski oder Thilo Sarrazin wegen ihrer Kritik an der Merkelpolitik von der gesamten Medienmeute auf höhnische Weise gebrandmarkt wurden, frei nach dem Motto von Mao Zedong »bestrafe einen, erziehe hundert«. Da gibt es auch gar keine Hemmungen mehr: diejenigen Linken, die sich permanent gegen die Hate Speech entrüsten, sind dieselben, die sie in ihren eigenen Zeitungen und Sendern erst salonfähig gemacht haben. Insofern herrscht derzeit im Medienmainstream teilweise ein linksliberales bis linksautonomes Pranger- und Propaganda-System vor.

Was ist die Zielsetzung Ihres Blogs Militanz der Mitte? Warum haben Sie diese Veröffentlichungsform gewählt?

Der Weg von der Verschriftlichung eines Gedichts bis zur Publikation in einer Literaturzeitschrift oder gar in einem Buchverlag dauert im ersten Fall Monate, im zweiten Fall Jahre. Ich brauchte ein Medium, in dem ich mit meinen Texten sehr zeitnah auf politische Ereignisse reagieren konnte – und genau das war auch die Herausforderung, mich dem Kampf mit der unmittelbaren Gegenwart zustellen und ein lyrisches Zeitarchiv entstehen zu lassen, an dem einmal zukünftig die Geschichte noch ablesbar sein wird. So wie der Dreißigjährige Krieg in den Gedichten von Gryphius. Ich habe dieses Blog aber auch als »digitalen Samisdat« bezeichnet, weil mir von Anfang an klar war, dass kein Print- oder Online-Medium in Deutschland Texte mit konservativer Tendenz publizieren würde. Unser gesamter hiesiger Literaturbetrieb hat sich einer Selbstzensur unterworfen gegen alles, was nicht linken Ideologemen und der politischen Korrektheit entspricht. Da herrscht die Schere im Kopf. Mir war klar, dass ich in Opposition zum Zeitgeist mit meinen Texten zu einem Dissidenten werden würde. Es ist eine literarisch sehr fordernde Erfahrung, wenn man die Einschränkungen, welche die Dissidenten in Osteuropa in den 1960er-80er Jahren erlebten, jetzt ähnlich erfährt – und dies Jahrzehnte später in einer nach eigenem Selbstverständnis freien Gesellschaft. Es gab aus der Independent-Szene der Verlage und sozialen Netzwerke sinngemäß Aufrufe, ein Publikationsverbot gegen mich zu verhängen. Paradoxerweise scheint es, als ob die deutsche Literaturszene, gerade auch die jüngere, das Scheitern des Sozialismus einfach immer noch nicht wahrhaben möchte und mit aggressiven Abstoßreaktionen gegen das bessere Wissen reagiert. Das Medium des Blogs hat mir auch zugesagt, weil ich es als technisches Werkzeug im avantgardistischen Sinne verwenden konnte. Ich bezeichne die Arbeit am dem Blog auch als eine Ästhetik des »progressiven Konservatismus« oder einer »Traditions-Avantgarde«. Etwa ein- bis zweimal im Jahr habe ich das Blog auch in Literatur- und Medienkreisen mit MailArt-Aktionen beworben – einfache Korrespondenzkunst-Mailings, meist versehen mit einem gestalteten Werbe-Streuartikel nach Art eines Ready-Mades. Ich denke, dass diese Art der Literaturvermittlung derzeit in der deutschen Gegenwartsliteratur einzigartig ist.

Hat die DSGVO Folgen für Ihre Tätigkeit als Blogger?

Zum Glück nicht. Das Blog ist ein nichtkommerzielles Informationsangebot und ich generiere daraus auch keine Daten, erstelle keine Besucherstatistiken.

Ist Ihre »Niobe« ein politisches Stück?

Oh ja! Im allerbesten Sinne. Eine ganz wichtige Frage. Der deutsche Theaterbetrieb hat sich in den letzten Jahren vom sogenannten postdramatischen Theater kommend (beispielhaft: Elfriede Jelinek) zu einem Agit-Prop für den linksliberalen Internationalismus fehlentwickelt: Flüchtlingstheater, Kleinkunst gegen Rechtspopulismus, EU-Bejublung – das sind derzeit so die Moden auf den großzügig geförderten Stadt- und Staatstheatern. Das zeitgenössische Theater zeigt viele Symptome künstlerischer und intellektueller Auszehrung: pop-modische Kleinkunst, Beliebigkeiten des Performativen, Arrangements von Aktenvorgängen, Autorenmonologe statt ausgearbeiteter Figuren, Ausnutzung des Schauspielers als Textzulieferer, darstellendes Spiel ohne darstellenden Stoff, postdramatische Textflächen mit viel Theorie und Meta-Theorie, Vernachlässigung des Bühnenbildes, nichtssagende Dialoge, oberflächlicher Agitprop, linkspopulistischer Aktionismus, Verzicht auf die Kernkompetenzen der Gattung Drama. Mein Stück steht in seiner ganzen Ästhetik und parteilichen Tendenz in der größtmöglichen Gegnerschaft zu der flachen Performativität des Postdramatischen.

Wie meinen Sie das?

Das Drama folgt konzeptionell der Idee des Agon, des gesellschaftlichen Wettstreits in Politik, Kultur, Sport, Krieg. Die antike griechische Gesellschaft war mit ihrem individuellen und kollektiven Streben nach Vorzüglichkeit eine agonistische, wettbewerbsbezogene Gesellschaft. Das dramatische Ringen der Gegenspieler, etwa bei den athenischen Theaterwettspielen, spiegelte das politische Ringen gesellschaftlicher Kräfte um die Macht in der Polis. Im Protagonisten und Antagonisten nahm dieses Prinzip auch in den Figuren Gestalt an. In ihren Analysen gegenwärtiger gesellschaftlicher Tendenzen hat die Politologin Chantal Mouffe den Begriff des Agonismus (bzw. des agonistischen Pluralismus) konturiert: als Kampf antagonistischer politischer Kräfte um die Hegemonie. Über das rein antagonistische Freund-Feind-Modell von Carl Schmitt hinausgehend schreibt Mouffe: »Während der Antagonismus eine Wir-Sie-Beziehung ist, in der sich Feinde ohne irgendeine gemeinsame Basis gegenüberstehen, ist der Agonismus eine Wir-Sie-Beziehung, bei der die konfligierenden Parteien die Legitimität ihrer Opponenten anerkennen, auch wenn sie einsehen, daß es für den Konflikt keine rationale Lösung gibt (Chantal Mouffe: Über das Politische. Berlin 2007. Seite 30) Und: »Für den agonistischen Ansatz dagegen ist der öffentliche Raum der Ort, an dem konfligierende Sichtweisen aufeinandertreffen, ohne daß die geringste Chance bestünde, sie ein für alle Mal miteinander zu versöhnen (Chantal Mouffe: Agonistik und künstlerische Praktiken. In: Agonistik. Berlin 2014) Dieses Verständnis eines existenziellen gesellschaftlichen Kräftespiels eröffnet auch einen neuen

Zugang zur Kunstpraxis im Schauspiel. Ich nenne meinen Ansatz einmal einen »agonistischen Realismus«. Wie sieht das aus? Das Stück ist ein Lehrstück über Mechanismen der politischen Manipulation und des Kampfes um Hegemonie in Zeiten politischer Krisen. Seine Figuren sind an Konfliktlinien entlang gruppiert, die sich als Reaktionen auf innerpsychische Intentionen in einem gesellschaftliches Umfeld entwickeln. Die agonistische Struktur entwickelt sich auf mehreren Ebenen: 1. im mehrschichtigen Konfliktstoff der Erzählung 2. in widersprüchlichen Charakteren und dem antagonistischen Verhalten der Figuren 3. im Konkurrieren der Schauspieler um die bessere Schauspielkunst 4. in der Widerspiegelung aktueller gesellschaftlicher Kämpfe um Hegemonie Als moderne Adaption der »Haupt- und Staatsaktion« steht das Stück für politisch engagierte Kunst, die Tragödie und Komödie, episches Theater und Fastnachtsspiel, Puppenspiel und Multimedia-spektakel zu einem stimmigen Ganzen verbindet. Die theatergeschichtlichen Referenzen des Stückes führen aus der Antike über das Barocktheater bis in die Moderne. Die »Niobe« stellt sich als Großdrama gleichberechtigt neben vergleichbare Werke der deutschen Theatergeschichte, als Spielart des überzeitlich gültigen Theaterstücks, daher Welttheater.

Eine besonders beeindruckende Stelle in Ihrer »Niobe« ist der Wechselgesang zwischen Timidi-Grexis und Manto (Zwischenspiel vor dem zweiten Akt, S. 40-42). Man wird Ihnen einiger Passagen dort wegen ohne Zweifel Frauenverachtung vorwerfen, wenigstens aber die Reduktion der Frau auf die Reproduktion. Ihre Entgegnung?

Vorab zum formalen Aspekt – die Dialogsätze sind eine Zitatmontage und stammen aus einem Kapitel von Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes. Es ist formal ein Seitenhieb auf eine Technik des postdramatischen Dramaturgentums, das Klassikerstücke durch die Hinein-Montage fremder, dekonstruktivistischer Theorietexte aufbricht. Erstens ist es also eine Parodie, zweitens eine Übersteigerung, weil ich die ausgeblockten Prosasätze in einen schlüssigen Dialog montiere, also quasi den sekundären Meta-Text wieder auf die Ebene eines primären Szenen-Dialog zurückhole. Und dann bereitete es mir natürlich ein großes Vergnügen, als Textquelle einen Vertreter des konservativen Denkens der 1920er Jahre zu verwenden. Der postdramatische, poststrukturalistisch-linke Theorie-Fimmel wird also gleich dreifach ausgekontert. Zur Frage der Misogynie… der heutige Feminismus neigt dazu, die Frau auf ähnliche Weise in ihrem Empowerment zu idealisieren, wie sie die frühe Moderne als Hüterin des Heimes idealisiert hat. Die alten Griechen waren gedanklich weiter, denn sie sehen das gesamte Zerstörungspotential nicht nur von Männern, sondern auch von Frauen, ohne diese gleich durch einen Opferdiskurs zu entschuldigen. Die ganze griechische Mythenwelt ist voll mit zerstörerischen Frauen, Frauen mit psychischen Auffälligkeiten, Frauen mit Perversionen, Frauen beim Kindesmord oder Verwandtenmord, Frauen, die sich selbst zerstören – soziopathische und psychopathische Frauen wie Klytämnestra, Medea, Antigone, Phädra, Jokaste, Elektra, Kirke, hassende Göttinnen, inzestuöse Mütter, rasende Mänaden, selbstsüchtige Nymphen, verhaltensgestörte Seherinnen, notorische Lügnerinnen, Furien, Frauen ohne jede Affektkontrolle. Aus prä-zivilisatorischen Zeiten ist uns somit ein archaisches Wissen darum überkommen, zu welchen Untaten auch Frauen fähig sind. In diese Reihe gehört übrigens auch Niobe – der Niobe-Mythos betont ja ihre reproduktive Rolle als vierzehnfache Mutter und beschreibt, dass sie durch frevlerischen Hochmut gegenüber der Göttin Leto, die nur zwei Kinder hat, deren Zorn erregt. Mit der Folge, dass die Kinder der Leto, Apollon und Artemis, alle vierzehn Kinder der Niobe erschießen. Ein unglaublich grausiger Mythos über… ja was eigentlich… Stutenbissigkeit? Infantizid? Zudem ist Niobe auch noch eine Trägerin des Tantaliden-Fluches, der ebenfalls mit dem Kindesmord beginnt, den ihr Vater Tantalus an ihrem Bruder Pelops verübt. Es schwebt ein geheimes Grauen über dieser Niobe, wie über jenen Frauen, von denen man heute ab und zu in der Zeitung liest, die ihre Schwangerschaften verheimlichen und die getöteten Neugeborenen dann in der Kühltruhe oder in großen Blumentöpfen bei sich behalten. Es ist auch eine Parabel auf den fortlaufenden Infantizid in unserer Gesellschaft, die hunderttausenden Abtreibungen jährlich, auch eine Art Massenmord. Eine vom Feminismus gefeierte Selbstbestimmung, die auf Tötung beruht. Inhaltlich: In diesem eigentlich sehr tragischen Zwischenspiel sprechen zwei Kinderlose, Timidi-Grexis, der bekennende Päderast und die Priesterin Manto, die wiederum eine schizoide Projektion der Niobe-Tochter Ogygia ist. Manto bekennt sich in dem Dialog zum Geschlechterkrieg, zum Zorn der Frauen, die sich ihrer Söhne durch die Gewalt des Krieges beraubt sieht, aber auch ihr Stolz, die Söhne genau für diesen Stolz selbst geopfert zu haben. Damit weist sie voraus auf das Schicksal, das Niobe erwartet, ja sogar von ihr selbst herbeigeführt wird. Die Dialogpartner spiegeln eine Gesellschaft, die vor lauter Geschlechterkrieg, nach heutigem Sprachgebrauch Gender-Krieg, die eigene Generationenfolge abbricht. Wir haben ja auch viele Politiker und Politikerinnen, Talk-Show-Größen und andere mediale Role Models, die der Gesellschaft ihre Kinderlosigkeit vorleben.

»Die Wendung tritt ein, sobald es im Denken einer Bevölkerung für das Vorhandensein von Kindern ‚Gründe‘ gibt.« – Diese Passage erinnert an David P. Goldmans How Civilizations Die. Goldman folgend, ist der schleichende Selbstmord von Zivilisationen die Regel, nicht die Ausnahme. Das einzige Gegenmittel sei eine kinder- und also lebensbejahende Religion, für Goldman das Judentum. Deshalb sei Israel zum Vorbild für einige ostmitteleuropäische Politiker geworden. Ihre Meinung dazu? Das erinnert mich an einen – vermutlich jüdischen – Witz: Unterhalten sich ein katholischer Pfarrer, ein evangelischer Pastor und ein jüdischer Rabbi, ab wann genau ein Embryo als menschliches Leben zu gelten hat. Um Himmels Willen, sagt der Katholik, das Leben beginnt, sobald die Samenzelle die Eizelle gefunden hat! Naja, sagt der Lutheraner, so locker betrachtet beginnt das Leben irgendwann zwischen dem dritten bis sechsten Monat. Oi, lacht der Rabbi, viel besser, das Leben beginnt, wenn die Kinder aus dem Haus sind!

Ich denke, dass ein gesundes Maß an Kinderliebe einer jeden Gesellschaft gut tut. Die Familie ist die Grundlage jeder größeren Gemeinschaft und gesellschaftlichen Ordnung. Sie lehrt Verantwortung für die Seinen und das Eigene, auch die eigene Kultur. Und klar, Kinderliebe braucht keine »Gründe«, das Kind selbst ist der Grund. Aber machen wir uns nichts vor, die Geburtenrate wird zwangsläufig auch zum Gegenstand der Biopolitik. Vermutlich kann man Oswald Spenglers Satz dahin deuten, dass eine Biopolitik, die den eigenen Erhalt als Grund für mehr Kinder ansetzt, eigentlich offenbart, dass den Menschen ihre natürlichen Impulse abhanden gekommen sind. Oder abtrainiert wurden, wie etwa durch die Abtreibungskampagnen der 1970er Jahre, die es in Ländern wie Deutschland oder Italien gab. Oder durch die neoliberalistische Arbeitswelt, bei schlechter Vereinbarkeit von Familie und Beruf und gleichzeitiger hoher hedonistischer Konsumfixierung bei kinderloser Selbstverwirklichung.

Gegen Ende der dritten Szene des ersten Aktes bekommt Jürgen Habermas sein Fett weg (und mit ihm alle Diskursethiker). Die Szene ist mehr als amüsant, doch könnte man einwenden, dass ein so provinzielles Phänomen wie die deutsche Diskursethik und ihre Freunde kaum noch Spott verdienten. Was sagen Sie dazu?

Ja, es hat eine unglaubliche Komik, das ganze zigtausendseitige Werk von Habermas lässt sich auch wenige Kernsätze reduzieren und diese stehen auch noch kontrafaktisch zur Realität. Die Theorie des kommunikativen Handelns ist selbst natürlich überhaupt kein herrschaftsfreier Diskurs, sondern ein ausschließender Diskurs, der die ideelle Hegemonie der Linken sicherstellen sollte. Dagegen braucht es Humor als Waffe. Leider ist nicht zu übersehen, dass Habermas über die Nähe zur SPD einen erheblichen Einfluss auf das bundesrepublikanische Demokratieverständnis hatte. Und natürlich plädiert er genauso wie die SPD immer noch dafür, Deutschland in irgendeiner suprastaatlichen EU-Organisation aufgehen zu lassen. Chantal Mouffe hat diese unheilvolle Vision einer selbstbezogenen Kosmopoliten-Kaste recht treffend kritisiert.

Welche Gründe motivieren Ihre Kritik an der Beteiligung der evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg am Christopher Street Day in Berlin?

Beim Thema Religion muss ich ausholen – ich bin aufgewachsen in einer sehr christlichen Familie, in einer charismatisch geprägten Freikirche. Während meines Studiums habe ich mich vom Christentum vollständig gelöst und mich erst ab der Milleniumswende mit meinem beruflichen Wechsel nach Berlin dem Glauben wieder sehr langsam angenähert. 2006 bin ich dann in die Evangelische Kirche Deutschlands (EKD) eingetreten – mit einem inneren Bekenntnis zum Kulturprotestantismus – und Anfang 2018 bin ich schließlich nach einem intensiven Prozess der politischen Entfremdung ausgetreten. Man muss dazu wissen, dass sich die EKD in den letzten Jahren zu einer Art rot-grünem Ersatz-Sozialismus entwickelt hat. Leitenden Bischöfe betonen immer wieder, dass sich eine politische Mitgliedschaft in der AfD und eine religiöse Mitgliedschaft in der EKD nicht miteinander vertrügen. Vor diese Wahl gestellt fiel es mir nicht mehr schwer, das »EKD-Parteibuch« zurückzugeben. Das ist auch eine Freiheit des Christenmenschen, der ich mich selbst als Laizist sehe, entsprechend dem Christus-Wort »dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist«. 2017 wurde in Deutschland das 500jährige Reformationsjubiläum begangen – eine Chance zur Mission und spirituellen Erneuerung, die die EKD vollkommen vermasselt hat. Die EKD hat sich unter allen denkwürdigen Reformatoren fast ausschließlich auf Martin Luther fokussiert, nur um diesen im gleichen Atemzug als Antisemiten hinzustellen und auf Abstand zu gehen. Mit so einer Strategie konnte die Kirche nur scheitern. Ehrlich gesagt, ich glaube, dass die Evangelische Kirche in der derzeitigen Verfassung schon in 100 Jahren Geschichte sein wird, sie gibt jetzt schon ihre eigene Geschichte und Kultur auf. Ebenfalls 2017 habe ich ein kleines Libretto zu einem Reformations-Oratorium verfasst, geplant als Hochamt des Protestantismus, aber auch das ist von der Kirchenverantwortlichen, denen ich das Buch zukommen ließ, überhaupt nicht verstanden worden. Stattdessen hat die die Landeskirche Berlin im selben Jahr zugelassen, dass Amtsträger einen großen Truck bei der Christopher Street Parade mitfahren ließen, quasi als Affirmation der »Ehe für alle«, die auf Initiative der linken Parteien und der LSBTTIQ-Community im Bundestag beschlossen worden war. Für eine Kirche ein ungeheuerlicher Vorgang. In der langen Geschichte des Christentums sind Christen für ihren Glauben gestorben, sind zu Tode gefoltert worden, werden in vielen Ländern bis heute verfolgt – und hier hat die saturierte, sich an Steuern bereichernde Kirche nichts anderes zu tun, als auf einem Umzug mitzulaufen, der die schwule Promiskuität propagiert. Wie die Bacchanalien der heidnischen Antike. Und hinter all den CSDlern, die in Fetischklamotten, mit Tiermasken, Schminke und teilweise auch nackt über die Straßen liefen, fuhren evangelische Amtsträger mit pinken Federboas auf dem Truck einher. Ein erbärmliches Bild. Es hat mich zutiefst erschüttert.

Sind Sie denn ein Homo-Hasser, wie in einschlägigen Portalen zu lesen ist?

Ach was. Es geht um etwas ganz anderes, um den eigentlichen Sinn des Sakralen! Natürlich ist mit einer solchen evangelisch praktizierten Queer-Ideologie keine Ökumene innerhalb der christlichen Kirchen mehr möglich. Natürlich können Kirchenvertreter mit pinken Federboas keine Vorbilder mehr für unterstellte Amtsträger und die Gemeindegläubigen sein. Wie soll so jemand in der Nachfolge Christi das Abendmahl austeilen? Was soll man von einer Kirche halten, der ihre eigenen Sakramente nicht mehr heilig sind? Religion braucht einen heiligen Bezirk, ein unverletzliches sacrum, und sei es auch nur ein Tempel in Geist. Wo sie dieses sacrum preisgibt, zerstört sie ihren eigenen Wesenskern. Die Evangelische Kirche tut genau das.

Wie geht es weiter mit dem Schriftsteller Boris Preckwitz?

Ich hoffe, in den nächsten Jahren möglichst viele meiner Buchprojekte möglichst schnell verwirklichen zu können. Als erstes könnte kurzfristig ein Gedichtband aus den Blog-Texten entstehen. Ein neues Theaterstück, das das Lebens Friedrich Schillers zum Thema hat, ist in Arbeit. Eine Art konstruktivistischer Roman über einen Avantgardisten der 1920er Jahre ist in Planung und ganz in weiter Ferne leuchtet das Bild eines großen Panorama-Romans über das Deutschland des 18. Jahrhunderts auf. Es gibt so unendlich viel zu schaffen. Und vor allem habe ich immer mehr das Gefühl, gegen die Zeit zu arbeiten, weil es angesichts sinkender Bildungsniveaus und immer mehr migrantisch geprägter Altersjahrgänge inzwischen darum gehen muss, wesentliche Kernbestände unserer eigenen Kultur für die Nachwelt zu retten.


Haben Sie herzlichen Dank für das Gespräch!

*

Boris Preckwitz wurde geboren am 8.12.1968 in Hannover. Er studierte Germanistik, Philosophie, Politik und Komparatistik (Göttingen, Hamburg, London) sowie Management (Berlin, Cambridge)

mit Magister- und MBA-Abschluss. Viele Jahre arbeitete er im Medienmarketing, in PR-Agenturen und als Pressesprecher. Sein literarisches Werk umfasst die Gattungen Lyrik, Prosa, Drama und Essay. Seine Arbeit ist mehrfach mit Stipendien ausgezeichnet.

Boris Preckwitz

Karsten Dahlmanns, Dr. phil. habil., lehrt seit 2004 an Hochschulen in Polen. Letzte Buchveröffentlichungen: Jak sporządzać tłumaczenia poświadczone dokumentów? Przekłady tekstów z Wyboru polskich i niemieckich dokumentów do ćwiczeń translacyjnych z komentarzem / Wie fertigt man beglaubigte Übersetzungen von Urkunden an? Kommentierte Übersetzungen zu den Texten aus der Auswahl polnischer und deutscher Dokumente für Translationsübungen (gemeinsam mit Artur D. Kubacki, Chrzanów 2014); Das verfluchte Amerika. Stefan Georges Verhältnis zu Unternehmertum, Markt und Freiheit (Würzburg 2016), Sonderlichs Sondierungen (Norderstedt 2018). Dahlmanns bloggt auf www.karstendahlmanns.com.

Karsten Dahlmanns

 

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