top of page

Michael Zeller: WAS ALLES WIR DER CHINESISCHEN FLEDERMAUS VERDANKEN - Corona-Loguch Folge 21


Bea und Billie


*


Endlich öffnen die Lokale wieder, draußen zunächst mal, auf den Bürgersteigen und Plätzen. Ein großer Bereich von individuellen Freiheiten wächst uns damit erneut zu. Mich hatte die Schließung der Kaffeehäuser durch Corona in meinem Alltag empfindlich eingeschränkt. Denn einen Teil meiner Arbeit erledige ich dort: die Lektüre der Briefpost etwa, von Zeitung und Zeitschriften - Dinge, die nicht direkt zur Arbeit gehören, für sie aber unerläßlich sind.


Was also tun, als die Kaffeehäuser im vergangenen Jahr dicht gemacht hatten? Notgedrungen habe ich mich umstellen müssen und einen Teil meines Arbeitsprogramms in die Natur verlegt. Und jetzt, seit der Sommer glücklicherweise wieder über uns gekommen ist, kann ich endlich wieder raus.

So gut wie jeden Tag mache ich den Gang über eine Kleingartenanlage, die sich nicht weit von meiner Wohnung einen Hang hochzieht. Am Ende der Steigung oben stehen ein paar Bänke, die den Blick freigeben hinab ins Tal. Über das bunte Blühen in den Kleingartenparzellen hinweg schaue ich vis à vis auf den Gegenhang mit den drei weißen Blöcken der Barmenia. Darüber spannt sich die Weite des Himmels und öffnet die Sicht in eine andere Dimension.


Dieser Blick löst in mir etwas, das mir in der Enge meines Arbeitsraumes verschlossen bliebe. Ich gehe die mitgebrachten Unterlagen durch, bis es mich irgendwann wieder, mehr oder weniger angeregt, abwärts drängt, vorbei an den strammen Tulpenrabatten der Kleingärten, im Duft von Wilder Johannisbeere und Flieder, zurück zur letzten Schicht an den Schreibtisch.


Unterwegs aber wartet noch ein höchst wichtiger Ort auf mich: das “Kleine Café” auf dem Ölberg. So gut wie jeden Tag hole ich mir hier seit über einem Jahr im mitgebrachten Keramikbecher meine Ration an einem gutgebrannten, starken Kaffee. Dabei findet auch der regelmäßigste Meinungsaustausch außerhalb meiner Privatheit statt. Abwechselnd tun hier Billie und Bea Dienst. Wir plaudern ein bisschen miteinander, freuen uns einfach, wenn wir uns sehen. Viel Zeit bleibt uns nicht, denn draußen, auf der Straße, wartet weitere Kundschaft. Dabei wußte ich bisher gar nicht genau, wie Billie aussieht, ich kenne sie ja nur mit ihrer Maske.


Als mich neulich an der Bushaltestelle eine junge Frau grüßte, musste ich zweimal hinschauen, bis ich sie erkannte: Das ist ja Billie. So sieht die also richtig aus …


Heute ist wieder einmal Elvira im Café, die Besitzerin, am Boden wuselt ihr Töchterchen herum. Wir haben uns länger nicht gesehen und tauschen uns rasch über das Wichtigste aus (ihre Mutter zum Beispiel wird in den nächsten Tagen zum zweiten Mal geimpft). Ich kenne Elvira jetzt bereits schon manches Jahr. Aber so genau habe ich ihr noch nie in die Augen geschaut. Das steht mir auch gar nicht zu. Jetzt aber, wo das halbe Gesicht hinter der Maske weggesperrt ist, bleibt mir ja gar nichts anderes übrig. Und ich spüre, wie mein Vergnügen daran mit jedem Blick weiter wächst, wie ich immer tiefer in diese blauen Augen hineingerate, notgedrungen (sozusagen), und registriere, was diese Frau für verdammt schöne Augen hat.

Wie eng doch die seelischen Bereiche eines Menschen beieinander liegen. Da möchte man lieber keine Grenzen ziehen müssen …


Ausgesprochen inspiriert balanciere ich meinen Kaffeebecher durch die Straßen heim. Er schwappt dabei ein bißchen über. Spontan will ich den Deckel ablecken. Hoppla! Statt auf Kaffee stößt meine Zunge auf etwas trocken Hartes. Eine Sekunde von Verwirrung. Dann muß ich lachen. Eine zweite Haut scheint er also doch noch nicht geworden zu sein, der Fetzen Stoff, den ich seit einem Jahr vor Mund und Nase tragen muß.


Durchaus ein kleiner Triumph in diesen sparsamen Zeiten!



*


Über den Autor: MICHAEL ZELLER, geb. 1944 in Breslau, (Dr. phil. habil.), Romancier, Lyriker und Essayist in Wuppertal, mit einem umfangreichen Werk (u.a. derzeit acht Romanen). Unter seinen Auszeichnungen zuletzt der Andreas-Gryphius-Preis (2011). Auf Einladung des ukrainischen PEN hat er den September 2019 in der ostukrainischen Stadt Charkiv verbracht. Letzte Buchveröffentlichungen: Die türkische Freundin. Oberhausen 2018. Die Sonne! Früchte. Ein Tod. Codolzburg 2015. Sechste Auflage 2020.



Sein Pest-Roman Der Wiedergänger wird aus aktuellem Anlaß von dem Rezitator Olaf Reitz vorgelesen - jede Woche eine neue Folge, unter: www.podcast.studio-kurzwelle.de




*


Hier können Sie TUMULT abonnieren.

Für Einzelbestellungen klicken Sie bitte hier.

bottom of page