(Fast) ohne Worte
Foto-Collage von Madeleine Weishaupt, 2020
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Als mir dieses Bild vor Augen kam, hat es mir die Sprache verschlagen. Eine Sekunde stummen Schreckens.
Ja, es war wirklich ein Schlag vor den Kopf. Vielleicht stockte auch der Atem, für zwei Züge. Entsetzen lähmt das Denken, setzt es außer Kraft, und damit auch die Sprache. Jedes Wort wäre hier zu viel – nein: zu wenig angesichts dieses Schocks. Es faßte ins Leere, (be)griffe nichts.
Doch das Leben will weiter. Es muß wieder geatmet werden. Und auch wieder gedacht. Und dazu sind nun mal die Worte nötig. Denken ohne Worte ist ein Widerspruch in sich. Aber jetzt hast du sie wieder einmal erfahren müssen, die Grenze von Sprache, angesichts der Collage. Mit diesem Gedanken aber hat es dich bereits erneut am Haken, das Denken, und damit bist du schon wieder mitten drin in seinem Taumel.
Ein Bäumchen mit Maske – das ist das erste, was ich sagen (stammeln) kann, immer noch das Bild vor Augen, von dem sie sich nicht lösen können. Die junge Pflanze muß sich schützen vor etwas, das wir Menschen über die Erde gebracht haben, in ihrer ganzen Unermeßlichkeit. Der Mensch hat sich den Globus längst untertan gemacht, auf Gedeih & Verderb ist er an seine Art gekettet – an seine Art zu leben – und zu sterben.
Kein Entrinnen mehr, nirgendwo hin. Für den Menschen nicht, aber genau so wenig für Tier und Pflanze. Im Wasser, auf dem Boden, in der Luft – alles, was kreucht & fleucht und was man vor Zeiten mal mit Respekt die Schöpfung nannte, alles ist infiziert vom Virus Mensch.
Ein Bäumchen mit Maske – wird es darunter sicher sein? Wird es ersticken? Wer sind die drei Menschen, die drum herum stehen, gesenkten Kopfs? Ist das die Haltung eines schlechten Gewissens, das Eingeständnis von Schuld?
Die schwarze Kleidung - tragen sie Trauergarderobe, oder soll das ein Schutzanzug sein?
Doch welcher Panzer wäre dicht genug, mit dem der Mensch sich schützen könnte vor sich selbst?
Die Collage stammt von Madeleine Weishaupt. Die Schweizer Schriftstellerin, vor allem mit Gedichten und Collagen, lebt seit langem in Nürnberg und ist, nicht zuletzt, eine verläßliche Freundin.
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MICHAEL ZELLER, geb. 1944 in Breslau, (Dr. phil. habil.), Romancier, Lyriker und Essayist in Wuppertal, mit einem umfangreichen Werk (u.a. derzeit acht Romanen). Unter seinen Auszeichnungen zuletzt der Andreas-Gryphius-Preis (2011). Auf Einladung des ukrainischen PEN hat er den September 2019 in der ostukrainischen Stadt Charkiv verbracht. Letzte Buchveröffentlichungen: Die türkische Freundin. Oberhausen 2018. Die Sonne! Früchte. Ein Tod. Codolzburg 2015. Sechste Auflage 2020.
Sein Pest-Roman Der Wiedergänger wird aus aktuellem Anlaß von dem Rezitator Olaf Reitz vorgelesen - jede Woche eine neue Folge, unter: www.podcast.studio-kurzwelle.de