”Halbzeit!” würde ich in diesen Tagen gerne rufen und zur Pause abpfeifen, nachdem die Pandemie jetzt ein halbes Jahr den Rhythmus unseres Lebensspiels bestimmt hat. Doch auch das haben uns die zurückliegenden sechs Monate beigebracht: vorsichtig zu sein bei der Einschätzung von Zukünftigem. Schnell hat man sich da vergaloppiert.
Als im März mein Kurs an der Bergischen Volkshochschule ausgesetzt wurde, hieß es noch, wahrscheinlich “bis Ostern”. Ostern kam und ging vorüber, und Pfingsten rückte als nächster Termin in den Blick. Mittlerweile haben die meisten von uns ihre Lektion gelernt.
Die Prophezeiung jedenfalls, bis Weihnachten herrsche womöglich wieder Normalzeit im Lande, habe ich bisher noch nirgendwo vernommen.
Es wären einfach auch zu wenige, die daran noch glauben wollten.
Und bis kommenden März 2021, wenn die ersten Maßnahmen sich jähren, die in diesem Frühling getroffen wurden, um mit Corona zu Rande zu kommen - ob die Seuche sich bis dann verflüchtigt hat?
Die Zukunft, die vor uns liegt, ist undurchschaubar geworden. Die Gefahr, sich mit Prognosen zu blamieren, ist allzu groß. Werfen wir stattdessen den Blick zurück und erinnern uns an ein paar der Abenteuer, die wir tapfer durchgestanden haben. Überraschendes, nie Erlebtes, das uns aus dem Trott unseres Alltags herausriß. Wer hat das schon gern?
Der erste Haarschnitt zum Beispiel, der so lange überfällig war. Sechs Wochen hatten die Friseure ihre Läden dicht machen müssen, und dann dauerte es weitere Wochen, bis ihre Wartelisten abgearbeitet waren. Mitte Mai war es bereits, als ich endlich meine Hippie-Matte los wurde, die ich als Jüngling noch freiwillig getragen hatte. Auf dem Bürgersteig vor dem Friseurgeschäft standen die Kunden auf der Straße und warteten, bis sie dran waren. Das ist bis heute so geblieben. Nur wenige Plätze dürfen drinnen besetzt werden.
Mit frisch geschorenem Schopf bekam ich Lust auf meinen Waldlauf. Stieg hoch zum Sportplatz oben auf der Kaiserhöhe, mitten im Wald, wo ich seit vielen Jahren meine Runden drehe. Und dann stand ich vor einem geschlossenen Tor. Verrammelt! Mit zwei nagelneuen Metallketten - frisch aus dem Baumarkt. Fast klebten noch die Preisschilder dran. Entgeistert schaute ich durch den Maschendraht und ließ die Augen sehnsüchtig über die brachliegende Aschenbahn traben. Daß es mir noch nicht mal mehr erlaubt sein sollte, Sport zu treiben, traf mich gerade jetzt mitten ins Herz. Denn zum ersten Mal in meiner gesamten Läuferkarriere hätte ich hoffen dürfen, daß die Zahl meiner Zuschauer dabei fast so riesig wäre, als wenn – sagen wir – Bayern München gegen – sagen wir – Real Madrid zu einem Geisterspiel antritt. Und ausgerechnet da wurde ich an meinem bescheidenen Geister-Dauerlauf gehindert. (“Jogging-Performance” müßte man ja eigentlich heutzutage sagen. Es spuken so manche Viren in dieser Gesellschaft …)
Eine weitere schmerzliche Einschränkung meines Lebensrhythmus’ hatte ich also hinzunehmen und zu verkraften. Frustriert gehe ich, noch in den Sportklamotten, in die Stadt hinunter. Ich komme am Laden des Bouquinisten vorbei, einem der letzten in der Stadt. Der Buchhändler sitzt vor seinem Komputer, im Schaufenster immerhin, und geht seine Angebotslisten durch. Durch die Scheibe winken wir uns einen Gruß zu. Ach, kommt es mich da an, in einer Aufwallung von Mitgefühl: Geh einfach mal rein und sag ihm deinen Respekt vor seinem Tun direkt ins Gesicht (nicht online), JETZT!, in dieser Zeit der herzlosen Seuche.
Eine Klinke muß ich nicht anfassen. Die Tür steht offen.
“Frohes Überleben wünsche ich Ihnen”, rufe ich ihm über seine sieben Büchertürme hinweg zu.
“Dito”, gibt er zurück, furztrocken, mit Pokermiene. “Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst.”
Das Lachen vereint uns. Trotz allem ist dieser Tag heute gerettet.
Lachen – das ist derzeit allererste Bürgerpflicht. Mit und ohne Mund-Nasen-Maske.
*
MICHAEL ZELLER, geb. 1944 in Breslau, (Dr. phil. habil.), Romancier, Lyriker und Essayist in Wuppertal, mit einem umfangreichen Werk (u.a. derzeit acht Romanen). Unter seinen Auszeichnungen zuletzt der Andreas-Gryphius-Preis (2011). Auf Einladung des ukrainischen PEN hat er den September 2019 in der ostukrainischen Stadt Charkiv verbracht. Letzte Buchveröffentlichungen: Die türkische Freundin. Oberhausen 2018. Die Sonne! Früchte. Ein Tod. Codolzburg 2015. Sechste Auflage 2020.
Sein Pest-Roman Der Wiedergänger wird aus aktuellem Anlaß von dem Rezitator Olaf Reitz vorgelesen - jede Woche eine neue Folge, unter: www.podcast.studio-kurzwelle.de
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