Vier Monate sind es jetzt bereits, daß wir alle auf Corona schmoren. Gleich nach dem Aufwachen morgens: mit der ersten Nachricht aus dem Radio fällt sofort wieder dieses Wort. Es hat nicht geschlafen.
Vier Monate sind sicher noch zu kurz, eine Bilanz zu ziehen: privat, beruflich, finanziell, schon gar nicht auf die Gesellschaft bezogen. Oder müßte man nicht ehrlicher sagen: auf unsere Gesellschaften?
Doch einige Ereignisse haben sich schon festgesetzt in der Erinnerung, persönlich und kollektiv, und sind nicht mehr zu löschen. Sie werden uns bleiben.
Gleichzeitig mit der Verhängung der Quarantäne brach Mitte März über das Land ein Frühling aus, der fast wie eine meteorologische Provokation wirkte. Als wollte jemand seinen Spaß treiben mit uns überforderten Menschlein. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, je einen so heftigen und lang anhaltenden Frühling erlebt zu haben, der derart freigiebig mit Farben und Düften jonglierte. Über Wochen hin jeden Tag strahlte die Sonne in einem makellos blauen Seidenhimmel. Und dazu Stunde um Stunde, bis in die Nacht, das Trommelfeuer der Medien mit den neuesten Erfolgsmeldungen der Seuche über den gesamten Erdkreis.
Es blieb dem Temperament jedes einzelnen überlassen, ob er sich vom Wettergott getröstet vorkam – verwöhnt oder verhöhnt.
Paradox war das schon: Da wurde das Land von dem ganzen bunten Reigen heimischer Flora überschüttet, bis an den Rand der Überforderung unserer Sinne. Frisch brach das Grün der Birken aus, es blühten und dufteten die wilden Johannisbeeren, weit vor der Zeit, die Krokusse, Glyzinien, Primeln. Und wir - wir waren angehalten, das Haus nicht zu verlassen, sollten brav in unseren Stuben hocken bleiben und mit den lieben Kleinen den Dreisatz pauken (“Homeschooling” in Krisen-Deutsch).
An den Sonntagen aber, da hielten wir es einfach nicht aus, meine Lebensgefährtin und ich. Da trieb es uns hinaus in die Natur, in den Wald, wie es fester Bestandteil unseres Lebens ist, seit vielen Jahren, und gingen unsere weiten Wege im Bergischen Land, immun gegen jedes schlechte Gewissen.
Und siehe da: Wir waren keineswegs allein unterwegs in Wald, Feld und Flur. Im Gegenteil. Niemals auf unseren Touren sind uns so viele Wanderer begegnet wie in diesem Corona-Frühling 2020: Einzelne, Paare, überwiegend junge, und sogar, wir faßten es nicht, begleitet von ihren Kindern.
Kinder im Wald? Da mußte wirklich etwas im Leben der Gesellschaft gewaltig ins Rutschen gekommen sein. Und, Wunder über Wunder: Diese Jungen und Mädchen trotteten durchaus nicht mit beleidigten Gesichtern ihren Eltern hinterher. Sie sprangen vorneweg, schwärmten zwischen den Bäumen aus, stöberten durchs Unterholz, balancierten über gefällte Baumstämme und kraxelten mit Händen und Füßen über einen Felsen. Ganz ohne Zweifel schienen diese Kinder ihre Freude zu haben an den kostenfreien Sensationen der Natur und zu entdecken, daß ein krummer Baumast eine Attraktivität haben kann, die sich digital nicht so ohne weiteres überbieten läßt. Man konnte damit zum Beispiel am Bach unten eine Schleuse bauen oder einen kleinen See stauen. Manchmal reichte es sogar noch, den fremden Leuten, die ihnen entgegen kamen, einen guten Tag zu wünschen ...
Da rieb der alte Waldgeher sich schon die Augen. Erst da konnte er ermessen, wie tief die Fledermausseuche dieser Gesellschaft in die Glieder gefahren sein muß.
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MICHAEL ZELLER, geb. 1944 in Breslau, (Dr. phil. habil.), Romancier, Lyriker und Essayist in Wuppertal, mit einem umfangreichen Werk (u.a. derzeit acht Romanen). Unter seinen Auszeichnungen zuletzt der Andreas-Gryphius-Preis (2011). Auf Einladung des ukrainischen PEN hat er den September 2019 in der ostukrainischen Stadt Charkiv verbracht. Letzte Buchveröffentlichungen: Die türkische Freundin. Oberhausen 2018. Die Sonne! Früchte. Ein Tod. Codolzburg 2015. Sechste Auflage 2020.
Sein Pest-Roman Der Wiedergänger wird aus aktuellem Anlaß von dem Rezitator Olaf Reitz vorgelesen - jede Woche eine neue Folge, unter: www.podcast.studio-kurzwelle.de
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