Frisch angebrochen ist unser zweites Corona-Jahr, und gleich bringt es eine neue Farbqualität ins Spiel. Das klinische Weiß verläßt die Kachelgänge des Krankenhauses und weitet sich in die Landschaft hinein. SCHNEE! Zum ersten Mal in diesem Winter hat es geschneit. Die Welt ist weiß geworden.
Der Drang hinaus in die Natur, der Enge der Stadt zu entfliehen – dieser Drang ist enorm. Die Nachricht vom Schnee und die Bilder davon in den Fernsehnachrichten treiben die Menschen um, gerade die Städter. Sie wollen hinaus an die frische Luft und das weiße Wunder schauen, mit und ohne Schlitten. Die Schneegebiete des Landes, das Sauerland oder in die Eifel, werden gestürmt. Zum Wochenende wälzen sich aus den Großstädten des Rheinlandes und Ruhrgebiets Blechkarawanen dorthin und verstopfen die Straßen und Parkplätze. Auf den Schneehügeln knubbeln sie sich hemmungslos mit Schlitten und Skiern, als stelle das Virus bei Schnee sein Treiben ein. Kein Wunder, daß die enorm hohen Zahlen der Infizierten, die tagtäglich gemeldet werden, nicht innehalten wollen, sondern weiter zulegen.
Wir dachten an nichts Böses, meine Gefährtin und ich, als wir zum Wochenende das taten, was seit zwanzig Jahren Brauch bei uns ist: Am Sonntag wird gewandert, nicht weit vor der Stadt. Natürlich hatten wir die Bilder vom Sauerland und der Eifel im Kopf, als es losging. Doch was hatte das mit unseren Wegen hier zu tun? Wenn wir auf den Sonntagstouren mal mehr als zehn Wanderern begegnet sind, allesamt höhere Semester, dann war schon arg viel los gewesen.
Heute aber war alles anders. Schon bei Anfahrt auf einen der bevorzugten Waldparkplätze war das Bergische Land nicht wiederzuerkennen. Von Landschaft war wenig mehr zu sehen. Sie war zugeparkt. Die Parkette der Landstraßen, sämtliche Wege bis tief in die Felder hinein lagen unter buntem Blech. Vor den Parkplätzen ein langer Rückstau. Alles belegt. Rangieren vor und zurück. Im weißen Märchenwald ein Benzinmief zum Schneiden. Sollten wir nicht gleich wieder nach Hause fahren? Ach, wenn wir schon mal hier sind … Wir suchten weiter und fanden schließlich irgendwo eine Parklücke, noch einigermaßen in der Nähe von Natur. Um uns herum fröhliche Familientreffen. Von Abstandhalten und Masken keine Spur. Erst mal gönnte man sich ein Zigarettchen, schockiert von so viel frischer Luft um die Nase, bevor man sich mit fragwürdigem Schuhwerk auf den Schneematsch der Waldwege begab.
Rasch suchten wir das Weite. Doch heute fanden wir es nicht. Auf den Pfaden durch den Wald staute es sich, in beiden Richtungen. Händchen haltend zu zweit, zu dritt und zu viert kam man uns entgegen, füllte die Breite des Wegs. Für uns, die wir brav hintereinander gingen, war kein Platz. Wir mußten den Weg verlassen und auf die Schneefelder ausweichen. Manchmal baten wir, mit Zeichen oder freundlichen Worten, die Reihe aufzulösen. Erstaunte Gesichter. Viele verstanden gar nicht, was wir wollten. Andere schüttelten verärgert den Kopf über unsere Zumutung. Es waren – Zufall oder nicht – ausgerechnet junge Frauen, die uns aggressiv angingen. Eine rief mir nach, dann solle ich doch nicht spazieren gehen. Einer wie ich solle gefälligst zu Hause bleiben, meinte eine andere. Vor meiner Partnerin blieb eine Frau stehen, schrie sie an und hustete ihr ins Gesicht. In einem solch überhitzten Klima fühlt das Virus sich natürlich pudelwohl und gedeiht prächtig.
Wir waren erschüttert über diese geballte Unduldsamkeit inmitten der schönen Natur und dachten mehrmals daran, den Spaziergang abzubrechen. Hier im Freien war es ja viel schlimmer als auf den Gängen durch die Stadt. Als könne man sich in der Natur, allen lästigen Einschränkungen der Stadt entronnen, endlich wieder mal unkontrolliert gehen lassen und blind drauflos stapfen so wie früher. Als gönnte das Virus sich hier draußen auch eine Verschnaufspause.
Und um uns dehnte sich die Landschaft in Weiß. Wie hell die Welt hier leuchtete! Mit spitzem Geschrei tummelten Kinder sich auf den Äckern, rollten Schneekugeln und bauten Schneemänner daraus. Die Sonne zog ein ganz leichtes Rosa über die flachen Felder und mischte es an der Hügelgrenze in das durchsichtige Blau des Himmels. Etwas Mystisches flirrte und flimmerte um uns. Das Wunder des Winters.
Eigentlich war genug davon da für uns alle.
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Über den Autor: MICHAEL ZELLER, geb. 1944 in Breslau, (Dr. phil. habil.), Romancier, Lyriker und Essayist in Wuppertal, mit einem umfangreichen Werk (u.a. derzeit acht Romanen). Unter seinen Auszeichnungen zuletzt der Andreas-Gryphius-Preis (2011). Auf Einladung des ukrainischen PEN hat er den September 2019 in der ostukrainischen Stadt Charkiv verbracht. Letzte Buchveröffentlichungen: Die türkische Freundin. Oberhausen 2018. Die Sonne! Früchte. Ein Tod. Codolzburg 2015. Sechste Auflage 2020.
Sein Pest-Roman Der Wiedergänger wird aus aktuellem Anlaß von dem Rezitator Olaf Reitz vorgelesen - jede Woche eine neue Folge, unter: www.podcast.studio-kurzwelle.de
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