Donnerwetter: Mein Logbuch wird ja sogar gelesen! Es freut jeden Schreiber, wenn seine Verlautbarungen, diese stummen Selbstgespräche über den Tasten, von anderen Menschen wahrgenomen werden. Dafür sind sie ja bestimmt, und deshalb werden sie, nicht ganz ohne Mühen manchmal, hergestellt. Es verströmt sich also doch nicht alles als ein leiser anonymer Wellenhauch in der weltweiten Leere des Netz-Kosmos.
Marlen, eine Freundin aus Aachen, frisch bestellte Notarin und Mutter zweier kleiner Kinder, bemängelt an meinen bisherigen Beobachtungen zu Corona ihren klagenden Unterton. Mein Augenmerk richte sich überwiegend auf die negativen Auswirkungen der Pandemie auf unser aller Leben.
“Im Frühling die Schließung”, setzt sie dagegen (sie benutzt ein englisches Wort dafür), “die Schließung im Frühling war das Beste, was mir passieren konnte.” Das ist eine klare Ansage. Darauf muß ich erst mal Atem holen.
“Alle Veranstaltungen waren abgesagt, ich war jeden Abend zuhause (vorher mindestens an drei Abenden unterwegs). An anderthaIb bis zwei Tagen in der Woche war ich nicht im Büro, sondern habe mit Sanne und Bippo gespielt (den beiden Kleinen). Die Kita hat uns mit so vielen Ideen versorgt – die reichen noch für die nächste Schließung: Wir haben Osterhäschen gebacken, Eier bemalt, Waschknete fabriziert, Karten gebastelt, Yoga gemacht, Regenbögen in allen Varianten gemalt und überall aufgehängt, gespielt und vorgelesen – ich habe vorher nie soviel Zeit mit meinen beiden Kindern verbracht.” Denn ihre Arbeitszeit habe sie von fünfzig auf dreißig Stunden verkürzt.
Oft ist es nur ein kleiner Anstoß, ein winziges Stolpern, das einen aus den eingefahrenen Bahnen des Denkens geraten läßt. Plötzlich stehst du neben dir und du schaust dich an, als seist du ein anderer. So ist es mir nach diesen Worten der Aachener Freundin Marlen ergangen. Die hat ja vollkommen recht, mußte ich mir eingestehen.
Ist deshalb alles falsch, wie ich es bisher wahrgenommen habe? Nein, durchaus nicht. Doch wie alles im Leben hat auch Corona zwei Seiten.
Kein Wunder allerdings, wenn man beim Ausbruch einer weltweiten Seuche, mit hohen Krankenzahlen und Todesfällen, zunächst einmal schockiert ist und die gewaltsamen Veränderungen im alltäglichen Leben registriert, den abrupten Verlust liebgewordener Gewohnheiten, Lebensroutinen, die man für selbstverständlich hielt, auf die man ein Anrecht zu haben glaubte.
Mittlerweile sind genau neun Monate vergangen, seit hier in Deutschland das gesellschaftliche Leben radikal eingeschränkt worden ist, schlicht um unser Fell zu retten. Neun Monate: Die Zeitspanne, in der ein neuer Mensch entsteht. (Was sicher auch in dem einen oder anderen Fall geschehen ist: es war ja vorher Karneval...) Marlen aus Aachen zwingt mir die Frage auf: War denn wirklich nur alles schlecht, was uns diese Zeit gebracht hat?
Wenn ich auf meine vergangenen neun Monate zurückblicke, ist meine Bilanz der von Freundin Marlen durchaus nicht unähnlich. Als notorischer Schreibtischtäter hat sich meine tägliche Arbeit nicht um ein Jota verändert. Ich verbringe meine Stunden am Schreibgerät, länger als früher, weil mir das geliebte tägliche Bummeln durch die Kaffeehäuser der Stadt genommen ist. Das Buch, an dem ich im Frühjahr saß, konnte deshalb rascher abgeschlossen werden als gedacht.
Das Fertigwerden eines neuen Werks steht für mich über allem. Das ist für mich der Beweis, daß ich lebe, und nicht ganz umsonst. Insofern ist für mich das erste Jahr mit Corona auch und vor allem das Jahr, in dem mein Buch DIE KASTANIEN VON CHARKIW fertig geworden ist (und bereits ins Ukrainische übersetzt wird). Und das macht mich ohne Wenn und Aber froh.
Doch leider, liebe Marlen, ist ein Schriftsteller kein Notar. Der Hauptteil meiner Einnahmen ist mir abhanden gekommen, weil das Produzieren von Kultur in dieser Gesellschaft keineswegs die Dringlichkeit der Klärung von Rechtsfällen hat. Wir beherrschen unser Handwerk ebenso, sind arbeitsfähig und arbeitswillig. Aber literarische Lesungen fallen seit März unter Seuchengefahr und sind abgesetzt. Doch Miete & Heizung & Versicherungen hält an Ultimo kein Virus auf…
Nicht verschweigen will ich allerdings, sondern in hohen Tönen loben: Das Kultusministerium des Landes Nordrhein-Westfalen hat uns freien Künstlern unter die Arme gegriffen, und zwar spürbar und ohne uns vorher einen demütigenden Behördenmarathon abzunötigen. Auch das ist eine Erfahrung, die mir neu ist und mich überrascht – zum Positiven.
Du siehst, Marlen, es ist noch einiges zu bereden, und nicht nur zwischen uns beiden. Wir werden alles weiter beobachten und uns darüber austauschen. Abgemacht?
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MICHAEL ZELLER, geb. 1944 in Breslau, (Dr. phil. habil.), Romancier, Lyriker und Essayist in Wuppertal, mit einem umfangreichen Werk (u.a. derzeit acht Romanen). Unter seinen Auszeichnungen zuletzt der Andreas-Gryphius-Preis (2011). Auf Einladung des ukrainischen PEN hat er den September 2019 in der ostukrainischen Stadt Charkiv verbracht. Letzte Buchveröffentlichungen: Die türkische Freundin. Oberhausen 2018. Die Sonne! Früchte. Ein Tod. Codolzburg 2015. Sechste Auflage 2020.
Sein Pest-Roman Der Wiedergänger wird aus aktuellem Anlaß von dem Rezitator Olaf Reitz vorgelesen - jede Woche eine neue Folge, unter: www.podcast.studio-kurzwelle.de
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