Ein Fundstück aus dem Privat-Archiv von TUMULT-Autor Michael Zeller. VOM RUNDWERDEN DIESER ERDE wurde 1993 für den Hörfunk geschrieben und am 3. Oktober des gleichen Jahres gesendet. Der Text steht ganz im Bannstrahl einer „Zeitenwende“ – ein seltsamer wie faszinierender Begriff. Zeller bereiste damals den neu zu entdeckenden Osten, besuchte seine Geburtsstadt Breslau und verfasste im Nachgang den Roman „Café Europa“. Auf den Leser von heute wirkt VOM RUNDWERDEN DIESER ERDE kurios wie bizarr. Und auch der Autor hat keine Illusionen: „Jetzt, beim Wiederlesen nach dreißig Jahren, stelle ich fest, daß von den Hoffnungen auf Veränderungen in Deutschland, die ich damals beschwöre, buchstäblich nichts geleistet worden ist (außer von einzelnen).“
Mitte der 1980er Jahre gab es in Deutschland eine intellektuelle Debatte, die als „Historikerstreit“ Furore machte. Zwei Positionen standen sich damals, idealtypisch zugespitzt, gegenüber.
Da waren Fachhistoriker, die meinten, vierzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs die Verbrechen der Deutschen an den Juden endlich in einen historischen Ablauf hineinstellen zu sollen, in ein Vorher und Nachher – Auschwitz sozusagen im Geschichtsalbum abzulegen, das ja nun bekanntermaßen auch ein Bilderbuch der Bestialitäten sei – sein aktuelles Kapitel wurde derzeit auf dem Balkan geschrieben, zwei oder drei Flugstunden von hier entfernt.
Dieser Auffassung wurde damals heftig widersprochen, hauptsächlich von Philosophen. Sie wollten das historische Datum „Auschwitz“ aus dem Fluß der Geschichte herausgehoben sehen: Auschwitz sei umzugießen in eine moralische Kategorie und habe fest zu werden als ein ewiger Stein des Anstoßes, an dem jeder Deutsche zu allen Zeiten sich abzuarbeiten habe. Geschichte sei, im Namen der Moral, zu stauen an dem Punkt, der Auschwitz heißt – es sei zu monumentalisieren gewissermaßen in der Seele eines jeden Deutschen.
Ein politisches Verhängnis
Heute, nach dem Epochensprung von 1989, mit der Auflösung der globalen Kriegsstarre auch in Europa, halte ich die moralistische Position nicht mehr für haltbar, ja mehr noch: Ich halte sie politisch für verhängnisvoll.
Die Anstrengung, die damit aufgegeben wäre, Auschwitz als moralistisches Moment aus dem Fluß der Geschichte zu heben, blutig wie er nun einmal ist – kann sie der heute nachwachsenden Generation in Deutschland ein weiteres Mal zugemutet werden? Und darf sie es denn? Die Jungen von heute sind die Enkel der Täter von damals, es besteht für sie kaum mehr ein lebendiger und persönlicher Bezug zu Auschwitz.
Erst recht darf man künftige Generationen, die heute und später geboren werden, nicht mehr moralisierend in die Pflicht der Geschichte nehmen wollen. Auschwitz verkäme dann zu einem Mythos von deutscher Schuld, und historische Mythen, welcher Art sie auch seien, sind immer von Übel – sie vergiften die Zukunft. Sie legen, weil sie den einzelnen intellektuell und moralisch überfordern, den Keim zu neuen Kriegen.
Schuld ist nicht übertragbar, weder auf eine Gruppe noch gar auf einen einzelnen.
Schuld kann man nur übernehmen wollen, und zwar: aus freien Stücken.
Ich wünsche mir, daß möglichst viele Menschen dieses Landes, gerade auch die Jungen – daß möglichst viele Deutsche ein Gefühl von Schuld dafür behalten, was zwischen 1933 und 1945 als offizielle deutsche Politik geschehen ist, unter dem Siegel von Auschwitz.
Nach dem Zusammenlegen der beiden deutschen Staaten zu einem Deutschland im Jahr 1990 ist für die Menschen hier der politische Normalfall wieder verbindlich geworden – mit seinen Verpflichtungen im internationalen Bereich, mit allen seinen Chancen auch. Das Provisorium der Geschichte, das uns alten Bundesrepublikanern so angenehm geworden war und nach dem sich nicht wenige Träge von uns heute zurücksehnen, besteht nicht mehr. Es ist kassiert. Können wir, wie letztmals im Golfkrieg von 1991, noch einmal unsere Verbündeten die Köpfe hinhalten lassen – wortwörtlich - , Amerikaner, Engländer und wen auch immer für unsere politischen, wirtschaftlichen und vielleicht auch für unsere moralischen Grundüberzeugungen sterben lassen – während „unsere deutschen Jungs“ in der Lüneburger Heide mit Platzpatronen militärische Trockenübungen absolvieren?
Zu rein für die garstige Welt?
Wir Deutschen dürfen nicht länger Weltmeister in Vergangenheitsbewältigung sein wollen und darüber unsere Pflichten, gerade auch die unangenehmen, in der Gegenwart und für die Zukunft verschludern. Gar ein „deutscher Sonderweg“, weil wir zu rein sind für diese garstige Welt – das wilhelminische „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“ diesmal moralistisch intoniert?
Nein. Ein solcher deutscher Sonderweg ist ausgeschlossen: Nicht trotz, sondern wegen Auschwitz. Wir haben die Aufgabe, überall in der Welt Erscheinungen, die sich mit Auschwitz vergleichen lassen, zu verhindern, auch wenn es das Leben von Deutschen kosten sollte, die das Kriegshandwerk zu ihrem Beruf gewählt haben, aus freien Stücken.
Die Deutschen sind nicht der Maßstab der Welt – weder in der Bestialität noch in der Moralität – sie sind unter anderen. Auch die Deutschen haben zum Rundwerden dieser Erde beizutragen, das seit 1989 wieder möglich geworden ist – man sollte diesen Epochensprung als einen Schritt zu größerer Wahrhaftigkeit, zu wirklichkeitsgerechtem Handeln betrachten, nicht zuletzt in diesem Land. Bei dem riesigen Projekt „Zukunft“ sind die Deutschen keine bevorrechtigen Zuschauer mehr (bevorrechtigt, weil Auschwitz in ihrem historischen Sündenregister festgehalten ist und bleibt) – sie stehen für das Rundwerden dieser Erde in der gleichen Verantwortung so gut wie jeder andere auch – nicht mehr, nicht weniger.
Europa liegt auch im Osten
Europa, denke ich, ist nicht die schlechteste Tradition, in die man sich heute wieder stellen kann, gerade auch als Deutscher, gerade auch nach 1989, seit zu Europa – mit kultureller Begeisterung gesprochen – nicht mehr nur Florenz und Chartres und Lissabon oder Wien und Stockholm gehören, sondern auch Prag, Drohobycz, Riga, Petersburg und – ja: nicht zu vergessen: Dresden und Weimar.
Und damit steht auch der Schriftsteller vor einer ganz neuen Aufgabe. Denn wofür es sich womöglich lohnt, die Feder zu spitzen, ist ein Projekt in diesem Land, von dem ich vor 1989 nicht im Traum geahnt hätte, daß es je zu dem meinem werden könnte: die geschichtliche Aufgabe, daß die Deutschen endlich wieder ein normales Selbstgefühl für sich entwickeln – wie jede andere europäische Nation auch, und nicht nur in Europa –, in das die Jugend hineinwachsen kann, angeleitet von uns Älteren, den schmalen Pfad zu suchen zwischen nationaler Überheblichkeit und nationalem Minderwertigkeitskomplex und jene Aggressivität zu meiden, die ja immer aus dem Gefühl eigener Minderwertigkeit hervorbricht.
Gerade in Deutschland besteht hier ein enormes Nachholbedürfnis, weil man sich in der alten Bundesrepublik die Frage von nationaler Identität mehr als eine Generation lang vom Leibe halten konnte – mit dem erklärenden Hinweis, dieser Staat sei nur ein Provisorium, eigentlich gäbe es Deutschland ja gar nicht mehr. Das war sicher eine Zeitlang sinnvoll und nötig: als Kinder der Tätergeneration von Auschwitz sich der nationalen Frage selbst nicht verbindlich stellen zu müssen, sie offenhalten zu dürfen. In den letzten Jahren vor 1989 pflegten wir das nationale Vakuum allerdings bereits schon eher aus Bequemlichkeit. Heute jedoch, nach 1989, dürfen wir alle uns nicht länger davor drücken: Weniger für uns selbst als für die jungen Menschen in diesem Land, die – trotz Auschwitz – ein Recht darauf haben, sich in ihrem nationalen Selbstgefühl so wert zu fühlen wie ein Pole oder Italiener oder Brite oder Russe.
Neue Formen des Erinnerns
Die Quellen, aus denen alle Völker dieser Erde ihre Kraft, ihre Zuversicht und den Respekt vor sich selbst und vor anderen schöpfen, diese Quellen sind allemal trübe. Warum sollten sie ausgerechnet bei den Deutschen sich aus reinsten Gebirgsbächlein speisen? Diesen moralistischen Hygiene-Wahn müssen viele Deutsche endlich hinter sich lassen. Es ist hohe Zeit dafür, daß dieses Land, wie es ja auch alle seine Nachbarn zunehmend ungeduldiger einfordern, kulturell und politisch zu sich steht und verantwortlich für sich handelt, aus seinen Traditionen heraus, zu denen Schillers zukunftsmächtiges Menschheitspathos nicht weniger gehört wie der gesprengte Zement des Krematoriums in Birkenau.
Ich wünsche mir, daß wir alle uns um neue Formen des Erinnerns bemühten, den Nachgeborenen zuliebe: Weg von der (mittlerweile ritualisierten) nationalen Selbstgeißelung (die ja ihrerseits ein Nationalismus ist, wenn auch in Moll intoniert), hin zu einer vertieften Verantwortlichkeit des Menschen für sich und seinesgleichen. Auch an dem, wofür die Chiffre „Auschwitz“ steht, könnte sich seit 1989 zumal, die Europäisierung bewähren. Nur so wird Auschwitz, denke ich, für den einzelnen jungen Menschen, konkret wie er heute lebt und in die Zukunft des kommenden Jahrtausends hineinwächst, wieder eine Verbindlichkeit gewinnen können: als die Erinnerung an Bestialitäten, die Menschen einmal Menschen antaten, am Rand der Vorstellungskraft – und dennoch waren sie möglich, und da sie einmal möglich waren, sind sie es immer – wenn Menschen fahrlässig werden im Denken und roh im Fühlen, so wie ein großer Teil der Deutschen das der Gattung vorführte zwischen 1933 und 1945.
Über den Autor: MICHAEL ZELLER, geb. 1944 in Breslau, (Dr. phil. habil.), Romancier, Lyriker und Essayist in Wuppertal, mit einem umfangreichen Werk (u.a. derzeit acht Romanen). Unter seinen Auszeichnungen zuletzt der Andreas-Gryphius-Preis (2011). Letzte Buchveröffentlichungen: ABHAUEN! Protokoll einer Flucht. Lübeck 2022. Die türkische Freundin. Oberhausen 2018. Die Sonne! Früchte. Ein Tod. Codolzburg 2015. Sechste Auflage 2020.
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