Die Erkundung von Posen, unternommen in studentischer Begleitung, geriet für den Schriftsteller Michael Zeller zum Be- und Entfremdungs-Anlass. Die kulturelle Bildung des akademischen Nachwuchses ist nicht einmal mehr in Spurenelementen nachweisbar, sein Umgang mit der deutschen Sprache Hohn in den Ohren ihrer Liebhaber.
I.
Wir gingen durch die Innenstadt von Poznan, deutsche Universitätsstudenten in ihren ersten Semestern auf Polenfahrt, und ich. Verschiedene kulturwissenschaftliche Fächer hatten sie auf ihre Fahnen geschrieben. Vom Rynek mit dem wuchtigen Rathaus der Renaissance stiegen wir einen Abhang hoch, dem langgestreckten Platz der Freiheit entgegen. Ein einheimischer Stadtführer machte uns mit der Gegend vertraut.
Zur Rechten eine Barockkirche, ganz normal und unauffällig. Zwei Türme, ein geschwungener Giebel dazwischen, und auf der flachen Kuppel oben drauf das Kreuz. Das einzig Auffällige an dieser Architektur war der Anstrich neuesten Datums, in einem etwas arg kräftigen Zitronengelb.
„Und was ist das da für ein gelbes Gebäude?“, hörte ich die Stimme einer deutschen Studentin der Kulturwissenschaft fragen, im Jahr 2019 nach Christi Geburt.
Ein Schlag vor den Kopf. Ich konnte kaum weitergehen. So viel Fremdheit habe ich selten verspürt, von Mensch zu Mensch, eine solche Kälte. Derart perplex war ich, daß mir „Eine Kirche“ über die Lippen kam, vollkommen tonlos, wie ein Sprechautomat, an niemanden gerichtet, schon gar nicht an die Fragende. Die wollte ich noch nicht mal ansehen. Vielleicht auch aus Angst, ich müßte ihr noch erklären, wozu diese gelbe Immobilie einmal gut gewesen sei.
Ist ja schließlich auch verdammt lang her, das.
So manche Ewigkeit.
II.
Nach meiner Lesung vor polnischen und deutschen Studenten bei der gleichen Veranstaltung durfte ich in der anschließenden Aussprache zum ersten Mal einen perfekt durchexerzierten geschlechter- und überhaupt menschheitsgerechten Neusprech vernehmen. Über die “Leitmedien” dieses Landes wird er einem ja schon lange tagtäglich eingetrichtert, mit und ohne Sternchen. Doch gehört hatte ich dergleichen noch nie. Kein Zufall natürlich, daß der Neusprech sich dem Mund einer Studierenden entrang, aus dem seit Menschengedenken mißhandelten Geschlecht der Frauen.
Es war ein Erlebnis. Schwer läßt es sich beschreiben.
Ich fühlte mich ins Einwohnermeldeamt oder eine entsprechende Behörde versetzt, wo ein Beamter, gern auch eine Beamtin, einem irgendwelche Paragraphen runterraspelt, vollautomatisiert, mit abgeschaltetem Gehirn. Wo der Zuhörer nicht die mindeste Chance zur Einrede hat und deshalb gut daran tut, sich in sein Geschick zu fügen und schweigend zuzuhören (oder so zu tun).
Der weibliche Studierende verdoppelte jedes Hauptwort in Männlein und Weiblein und blähte damit das Mitzuteilende derart auf, daß mir der Inhalt abhanden zu kommen drohte. Das Gesagte füllte sich mit Luft, doch eine klärende war das nicht. Es war die Stickluft von Amtsstuben. In dieser Aufblähung zerbröckelte mir das, was der weibliche Studierende mir/uns sagen wollte. Was mir nachdröhnte im Kopf von dem Verdoppelungs-Stakkato, war die Einsicht, daß es auf dieser Welt zwei Geschlechter gäbe (derzeit wenigstens noch). Da mir das allerdings bereits bekannt war, ärgerte ich mich über so viel vergeudete Zeit.
Schon gar als Schriftsteller mußte ich mich und meine lebenslange Arbeit am knappen Wort durch solch einen Sprech verhöhnt fühlen. Da hämmre und meißle ich Tag für Tag an unserer Sprache herum, feile jeden überstehenden Laut ab, daß jedes Wort schlank und elastisch werde und doch auch felsenfest. Und hörte jetzt, mit eigenen Ohren, wie diese unsere Sprache aufquillt zu einem mürbe bröseligen Gewebe, porös wie Puffreis, zugunsten des epochalen Erkenntnisgewinns, daß es, Schopenhauer leicht abgewandelt, neben dem Hans auch eine Grete gebe.
"Luft!" entrang es sich als Schrei meiner Brust. Luft zum freien Atmen.
Vollkommen genderlos. Noch.
*
Über den Autor:
Michael Zeller (* 29. Oktober 1944 in Breslau) ist ein deutscher Schriftsteller.
Er verfasst Romane, Erzählungen, Gedichte und Essays.
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